Die Diskussion um das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse, welches sich bekanntermaßen nicht mehr in den §§ 7 VOL/A 2009, 8 EG VOL/A 2009 findet, geht weiter. Zunächst war weitgehend angenommen worden, dass der noch in der VOL/A 2006 zu findende Grundsatz „Dem Auftragnehmer soll kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann.“ trotz Streichung weitergelten solle.
§ 97 Abs. 1, 2 GWB; § 7 Abs. 1 VOL/A 2009; § 8 Abs. 1 EG VOL/A 2009; § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009; § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006; § 9 Nr. 1 VOB/A 2006
Zuletzt hatte noch das OLG Jena (OLG Jena, Beschl. v. 22. 8. 2011 − 9 Verg 2 /11) die Auffassung vertreten:
„Gleichwohl darf dem Bieter Im Einzelfall kein ungewöhnliches Wagnis i. S. des § 8 Nr. Nummer 1 Absatz III VOL/A a. F. auferlegt werden, auch wenn dieses Verbot nicht mehr ausdrücklich in § 8 EG VOL/A geregelt ist. Denn es ergibt sich zum Einen aus dem Willkürverbot, zum Anderen aus dem Gleichbehandlungsgebot nach § 97 Absatz II GWB.“
Kurz zuvor äußerte das OLG Dresden (OLG Dresden, Beschl. v. 2.8.2011 – WVerg 4/11)
„Der Senat verkennt nicht, dass es die VOL/A 2009 – anders noch als die VOL/A 2006 in ihrem § 8 Nr. 1 Abs. 3 – nicht ausdrücklich verbietet, dem Vertragspartner ein ungewöhnliches Wagnis aufzubürden. Daraus den Schluss zu ziehen, es sei im Anwendungsbereich der VOL/A nunmehr erlaubt, die Bieter mit Umständen und Ereignissen zu belasten, auf die sie keinen Einfluss haben und deren Einwirkungen auf die Preise und die Fristen sie nicht im voraus abschätzen können, ist indes verfehlt (so aber Prieß in Kulartz/Marx/Protz/Prieß, Kommentar zur VOL/A, 2. Aufl., 2011, § 8 EG Rdn. 37 ff.).“
Im Oktober und November 2011 kam dann die Überraschung. Das OLG Düsseldorf stellte in zwei Entscheidungen lapidar fest, dass das Verbot der Aufbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses in der VOL/A 2009 gestrichen sei, es also formal keinen zu beachtenden Rechtsgrundsatz mehr darstelle (Hierzu der Vergabeblog-Artikel von Dr. Soudry). Lediglich „unzumutbare“ Regelungen müssten nicht akzeptiert werden.
Diese Auffassung hat das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 07.03.2012 – VII-Verg 82/11) nunmehr in einem Verfahren betreffend die Vergabe von Krankentransportleistungen, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die abweichende Ansicht der OLGe Jena und Dresden, bestätigt und bekräftigt:
„Das vormalige (grundsätzliche) Verbot einer Überbürdung ungewöhnlicher Wagnisse (eine Sollvorschrift, vgl. § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006) ist seit Inkrafttreten der Neufassung der VOL/A (Abschnitte 1 und 2) im Übrigen nicht mehr existent und von den Vergabenachprüfungsinstanzen als solches nicht mehr zu prüfen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.10.2011 – Vll-Verg 54/11, NZBau 2011, 762; Beschl. v. 7.11.2011 – Vll-Verg 90/11; a. A. OLG Dresden, Beschl. v. 2.8.2011 – WVerg 4/11; OLG Jena, Beschl. v. 22.8.2011 – 9 Verg 2/11).“
Eine Divergenzvorlage an den BGH nach § 124 Abs. 2 GWB lehnte das OLG Düsseldorf aber mangels Entscheidungserheblichkeit ab. Nähere Ausführungen zu der mit der November-Entscheidung (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 07.11.2011 – VII Verg 90/11) aufgestoßenen „Hintertür“ wonach Ausschreibungsbedingungen im Einzelfall „unzumutbar“ sein könnten, werden zumindest in dieser Entscheidung (siehe aber sogleich) nicht gemacht.
Die Praxis muss also weiterhin auf ein klärendes Wort des BGH warten. Ob dieser indes der Rechtsauffassung des OLG Düsseldorf entgegentreten wird, kann durchaus bezweifelt werden. Bei dem Verbot der Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse handelte es sich um eine nicht unerhebliche Ausnahme vom Grundsatz der aus der Privatautonomie fließenden Gestaltungsfreiheit und den zivilrechtlichen Grundsätzen der Risikoverteilung. Wie Prieß (in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, VOL/A, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn 41 f.) zutreffend festhält, muss eine derart wesentliche Ausnahme explizit angeordnet werden (was ja in der VOB/A auch weiterhin der Fall ist). Zudem kann ein ungewöhnliches Wagnis regelmäßig (z.B. durch höhere Preise) wirtschaftlich kompensiert werden. Die Grenze stellt – und daran rüttelt auch das OLG Düsseldorf nicht – die bereits erwähnte Unzumutbarkeit der Ausschreibungsbedingungen im konkreten Einzelfall dar.
In einem Urteil des OLG Düsseldorf vom 07.12.2011 (Az.: Verg 96/11) findet sich hierzu ein erster konstruktiver Hinweis
„Regelungen, die vergaberechtlich nach früherem Recht als Aufbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses zu tadeln waren, lassen sich nach derzeit geltender Rechtslage in Einzelfällen allenfalls in der Regel unter dem Gesichtspunkt der (Un-)Zumutbarkeit einer für Bieter oder Auftragnehmer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation beanstanden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.10.2011 – Verg 54/11, Beschl. v. 24.11.2011 – VII-Verg 62/11jeweils m.w.N.). In diesem Sinn unzumutbar kann zum Beispiel eine Verlagerung vertragstypischer Risiken sein, so u.U. eine Überbürdung des die ausgeschriebene Leistung betreffenden Verwendungsrisikos auf den Auftragnehmer.“
Die weitere Entwicklung bleibt spannend.
Der Autor, Prof. Jan Dirk Roggenkamp, ist Professor für öffentliches Recht an der Polizeiakademie Niedersachsen. Zuvor war er Refernt beim Bundesministerium der Justiz in Berlin. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
0 Kommentare