Seit dem Sommer 2011 findet eine Diskussion u.a. im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) statt, wie die öffentlichen Auftraggeber fortan mit der Überbürdung ungewöhnlicher Wagnisse in Liefer- und Dienstleistungsverträgen umgehen müssen. Zur Erinnerung: Der Ausgangspunkt war die Frage, ob die Vergabenachprüfungsinstanzen auch unter der VOL/A 2009 die relativ weitreichenden Rechtsfolgen anordnen müssen, die der ersatzlos gestrichene § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 vorsah.
Der Sinn und Zweck dieser Regelung bestand darin, die Möglichkeiten der öffentlichen Auftraggeber zu begrenzen, Ihre Marktmacht zum Diktat der Vertragsbedingungen zu missbrauchen und Risiken über Gebühr auf die Bieterunternehmen abzuwälzen. Der DVAL, der im Zuge der Vergaberechtsverschlankung die Regelung strich, stellte die Vergaberechtswelt vor das Rätsel, ob er mit der Streichung lediglich die Kodifizierung einer Selbstverständlichkeit bezweckte, oder ob er mit ihr ganz bewusst die Zulassung der Wagnisüberbürdung wollte.
Pro Weitergeltung
Die Befürworter einer impliziten Weitergeltung führen die allgemeinen Vergaberechtsgrundsätze an und leiten das Wagnisverbot aus diesen her. Außerdem verweisen sie auf den Fortbestand des Wagnisverbotes in § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009. Mit welcher Berechtigung sollten die Bieterunternehmen im Baubereich den Wagnisschutz genießen, im Liefer- und Dienstleistungsbereich aber nicht? Gerade lang laufende Sukzessivlieferungs- oder Dienstleistungsverträge können hohe Risiken für die Bieter beinhalten. Diese Meinung fand im letzten Jahr einige Unterstützung bei den Vergabekammern und in der Kommentarliteratur.
Darüber hinaus drang von Seiten Beteiligter im DVAL durch, dass dieser mit dem Entfall des Wagnisverbotes keinesfalls eine Zulassung der Wagnisüberbürdung gewollt habe. Bedauerlichweise sind solche Aussagen für die Auslegung der VOL/A nicht authentisch. Sie können keine amtliche Begründung ersetzen, die es für die Vergabeordnungen bis heute nicht gibt. Sie wären hier aber sehr hilfreich gewesen, was den Verfasser veranlasst hat, bereits an anderer Stelle amtliche Begründungen zu den Vergabeordnungen zu fordern. Den Befürwortern der impliziten Weitergeltung der Regelung schlossen sich im August 2011 die Oberlandesgerichte Dresden und Jena an (siehe Schwabe, Beitrag im Vergabeblog vom 26.10.2011).
Und contra
Die Gegner der impliziten Weitergeltung argumentieren mit dem Wortlaut der neuen VOL/A 2009. Sie enthält das Verbot schlichtweg nicht mehr, weswegen im Ermangelung weiteren Auslegungsmaterials die einfachste Erklärung plausibel ist: Was gestrichen ist gilt nicht. Diesen Standpunkt vertritt das Oberlandesgericht Düsseldorf, das sich im letzten Herbst mit einem Paukenschlag zu dem Thema gemeldet hat. Entgegen der geschilderten landläufigen Meinung über den Fortbestand des Verbotes, die sich noch bis Mitte 2011 herauszukristallisieren schien, vertritt der Senat, dass das Verbot des ungewöhnlichen Wagnisses endgültig aus der VOL/A 2009 gestrichen worden sei. Angesichts der Streichung sei das Verbot formal kein Rechtsgrundsatz mehr (OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 19.10.2011 – Verg 54/11, 07.11.2011 – VII-Verg 90/11, 07.03.2012 – VII-Verg 82/11; 28.03.2012 – Verg 90/11; Beitrag im Vergabeblog von Dr. Soudry vom 08.01.2012).
Das OLG Düsseldorf behält sich als Korrektiv allerdings den „Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit“ offen. Der Senat führt in seinem Beschluss vom 28.03.2012 aus:
„Die Ausschreibungsbedingungen (nicht die Vertrags- oder Auftragsbedingungen; diese unterliegen prinzipiell der Gestaltungsfreiheit der Vertragsschließenden) können danach nur noch unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zu beanstanden sein, was freilich generell noch nicht der Fall ist, wenn der Bieter gewisse Preis- und Kalkulationsrisiken, namentlich solche, die ihm typischerweise ohnedies obliegen, tragen soll. Die Zumutbarkeitsschwelle erhöht sich bei einer Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen (im weiteren Sinn) zulasten der Bieter. Angeboten bei Rahmenvereinbarungen wohnen – in der Natur der Sache liegend und abhängig vom in der Regel ungeklärten und nicht abschließend klärbaren Auftragsvolumen – erhebliche Kalkulationsrisiken inne, die typischerweise vom Bieter zu tragen sind.“
Sind die Obergerichte nun doch beieinander? Nein! Wer sich dem OLG Düsseldorf anschließt, wird den neuen Maßstab der „Unzumutbarkeit“ zu Lasten der Bieter deutlich strenger fassen müssen. Der Senat scheint, wie sich bereits andeutet, eher Extremfälle unter das Kriterium zu subsumieren. „Extremfälle“, so führt er aus, hätten den o.g. Beschlüssen der Oberlandesgerichte Dresden und Jena zugrunde gelegen, in denen das Verwendungsrisiko hinsichtlich der Leistung vollständig auf dem jeweiligen Bieter/Auftragnehmer lastete. Aufgrund dessen verneint der Senat die Notwendigkeit einer Divergenzvorlage zum Bundesgerichtshof.
Nach Auffassung des Verfassers wäre die Divergenzvorlage aber notwendig gewesen. Rechtstechnisch unterscheiden sich die Lösungen aus Düsseldorf und aus Dresden/Jena deutlich. Das Korrektiv der Unzumutbarkeit nimmt die Nichtfortgeltung des ungewöhnlichen Wagnisses an. Es beansprucht einen neuen und strengeren Maßstab für die Zumutbarkeit, während die Gegenmeinung den bislang geltenden Prüfungsmaßstab fortführt. Sie stellt ihn nur auf eine andere Grundlage. Eine Klärung durch den Bundesgerichtshof ist geboten.
Die abweichenden Meinungen der Oberlandesgerichte zeigen nun, wie viel Verwirrung eine „Vergaberechtsverschlankung“ stiften kann. Dabei ist das OLG Düsseldorf für seine Rechtsprechung nicht zu kritisieren. Sie ist konsequente Rechtsanwendung. Aber das Ergebnis ist unbefriedigend. Den Kommunen belässt es, nicht zuletzt in den Streusalzfällen, zu große Freiheiten, das Witterungsrisiko auf die Bieter abzuwälzen. Die Bieter haben ihrerseits kaum eine Chance sich solchen Ausschreibungen zu verweigern. Alleine die öffentliche Hand kauft Streusalz in großen Mengen ein.
Gleichwohl ist allen befassten Obergerichten zu Gute zu halten, dass sie mit der derzeitigen Rechtslage in einem Dilemma stecken: Das OLG Düsseldorf beachtet strikt Gesetz und Gewaltenteilung, muss dafür aber ein unbefriedigendes Ergebnis in Kauf nehmen. Die Oberlandesgerichte Dresden und Jena kommen zu m.E. gerechteren Ergebnissen, überschreiten aber wohl die Grenzen der Gesetzesauslegung. Diese Divergenz könnte auch der Bundesgerichtshof nicht befriedigend lösen. Richtig aufgehoben ist die Frage beim Verdingungsgeber DVAL. Er sollte die Frage bei der nächsten Vergaberechtsreform noch einmal gründlich überdenken. Für welche Lösung er sich auch entscheiden mag: Er sollte sie eindeutig in der VOL/A 20xx niederschreiben. Ein oder zwei Zeilen mehr VOL/A-Text – so viel Platz muss sein!
Der Autor Dr. Christof Schwabe, LL.M. (Aberdeen) ist Rechtsanwalt der Kanzlei KDU Krist Deller & Partner Rechtsanwälte in Koblenz und Wiesbaden. Er betreut vergaberechtlich bieterseitig Unternehmen in den Bereichen Straßenausstattung, Abfall, Post und Medizintechnik und berät zudem öffentliche Auftraggeber und Fördermittelempfänger bei der Vergabe von Liefer-, Dienst- und Planungsleistungen. Dr. Schwabe ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
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Dr. Christof Schwabe, LL.M.
Dr. Christof Schwabe, LL.M. (Aberdeen) ist Rechtsanwalt der Kanzlei KDU Krist Deller & Partner Rechtsanwälte in Koblenz und Wiesbaden. Er betreut vergaberechtlich bieterseitig Unternehmen in den Bereichen Straßenausstattung, Abfall, Post und Medizintechnik und berät zudem öffentliche Auftraggeber und Fördermittelempfänger bei der Vergabe von Liefer-, Dienst- und Planungsleistungen. Dr. Schwabe ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen.
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