Das Oberlandesgericht in München lockert vor dem Hintergrund der EuGH Entscheidung in der Rechtssache Uniplex die Anforderungen an eine unverzügliche Rüge nach §107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GWB.
Die EuGH Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH vom 28.01. 2010 – C-406/08 ist bislang in der deutsche Vergaberechts-Rechtsprechung so gut wie ungehört verhallt. Der EuGH hatte damals entschieden, dass eine Ausschlussfrist, deren Länge in das freie Ermessen des zuständigen Richters gestellt ist, in ihrer Dauer nicht vorhersehbar sei. Daher verstößt eine Vorschrift auf deren Grundlage ein nationales Gericht einen Nachprüfungsantrag in Anwendung des nach Ermessen beurteilten Kriteriums der Unverzüglichkeit der Verfahrenseinleitung wegen Fristversäumnis zurückweisen kann, gegen europäisches Recht.
Fast unisono haben die Vergabekammern (z. B. VK Bund v. 05.03.2010, VK 1 – 16/10) und Oberlandesgerichte (OLG Dresden v. 07.05.2010, WVerg 6/10 und OLG Rostock v. 20.10.2010, Verg 5/10) dem EuGH widersprochen und eine Unschärfe in dem Begriff „unverzüglich“ zurückgewiesen. Der Begriff „Unverzüglich“ sei in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB als „ohne schuldhaftes Zögern“ legal definiert und durch eine ausgeprägte, langjährige Rechtsprechung zu § 107 GWB so weitgehend konkretisiert, dass es gerade nicht im Ermessen der Nachprüfungsinstanz stünde, ob eine Rüge unverzüglich vorgenommen wurde oder nicht. Lediglich das OLG Celle (Beschluss v. 26.04.2010, 13 Verg 4/10) nahm an, dass eine Rügepräklusion gem. § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB aufgrund der Vorgaben des EuGH mangels hinreichender Transparenz des Begriffes „unverzüglich“ von vornherein nicht mehr in Betracht kommen dürfte. Wies den Nachprüfungsantrag aber dann als unbegründet zurück.
Die OLG München Entscheidung
Jetzt kommt wohl doch noch Bewegung in die Sache. Eine Autobahndirektion schrieb europaweit Baumaßnahmen im Rahmen des Baus einer Bundesstraße im Offenen Verfahren nach VOB/A aus. Zum Nachweis der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit war ein Mindestumsatz der letzten drei Jahre von mehr als 10 Mio. € gefordert. Obwohl das wirtschaftlichste Angebot diesen Nachweis nicht führen konnte, sollte auf dieses Angebot der Zuschlag erteilt werden. Über diese Zuschlagsabsicht hat die Autobahndirektion die Antragstellerin gemäß § 101 a GWB per E-Mail an den ihr benannten Ansprechpartner am 07.11.2011 informiert. Der Empfänger dieser E-Mail war jedoch zu diesem Zeitpunkt im Urlaub und hatte auch pflichtgemäß eine automatische Abwesenheitsnotiz aktiviert, er sei bis zum 14.11.2011 nicht im Büro und die E-Mail könne bis dahin nicht bearbeitet werden. In dringenden Fällen könnte sich der Absender an seine Vertreterin wenden. Eine entsprechende Abwesenheitsnotiz hat die Autobahndirektion auch erhalten. Es kam, wie es kommen musste: Die Antragstellerin hat die E-Mail erst am 14.11.2011 gelesen und am 15.11 2011 den Zuschlag an den Wettbewerber gerügt.
„Unverzüglich“?
„Unverzüglich“ wie das Oberlandesgericht meint. Obwohl seit dem Zugang der § 101 a Mitteilung und der Rüge ganze acht Tage lagen, was nach aktuell herrschender Meinung eindeutig zu spät, weil nicht unverzüglich ist. Der Autobahndirektion sein es nämlich nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf den Zugang der § 101 a Mitteilung bereits am 07.11.2011 zu berufen. Mit dem Eingang der Abwesenheitsnotiz wäre der Vergabestelle positiv bekannt, dass die Antragstellerin am 07.11.2011 und in den Folgetagen vom Absageschreiben keine Kenntnis nehmen könne. Das im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens bestehende vorvertragliche Vertrauensverhältnis verbiete diese Berufung auf die verspätete Rüge, weil der Autobahndirektion doch bekannt war, dass die Antragstellerin die Mail nicht rechtzeitig lesen würde.
„Es kommt im Übrigen die grundsätzliche Überlegung hinzu, dass nach der Entscheidung des EuGH vom 28.01.2010 – C-406/08 und C-456/08, welcher klare Fristen für die Ausübung und Gewährung des Primärrechtsschutzes verlangt, eine großzügigere Handhabung bei der Auslegung des Begriffes „unverzüglich“ angezeigt erscheint.“
Das Gericht macht damit klar deutlich, dass der Begriff „unverzüglich“ zugunsten der Auftragnehmer weniger restriktiv ausgelegt werden soll. Und wird dabei zum Wiederholungstäter. Bereits mit Beschluss vom 03.11.2011 (Verg 14/11) hat das Oberlandesgericht München festgestellt, dass der EuGH Entscheidung zu entnehmen sei, dass der Primärrechtsschutz nicht durch zu unklare Anforderungen verhindert werden solle:
„Das bedeutet auch, dass bei einer Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen nicht zu kleinlich zu verfahren ist.“
Wie können also in Zukunft etwas mehr Nachsicht gegenüber spät rügenden Bietern erwarten – zumindest in Bayern. Aber entspricht dies den Vorgaben des EuGH, der klare Fristen gefordert hatte, weil „eine Ausschlussfrist, deren Länge in das freie Ermessen des zuständigen Richters gestellt ist, in ihrer Dauer nicht vorhersehbar (ist)“?
Der Autor Mark Münch, LL.M, ist Rechtsanwalt bei der IT-Recht-Kanzlei, München, und befasst sich schwerpunktmäßig mit dem IT-bezogenen Vergaberecht. Zuvor war er Mitarbeiter bei Sun Microsystems/ Oracle und konnte so zahlreiche Erfahrungen bei der Anwendung des Vergaberechts auf Auftragnehmerseite sammeln. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Mark Münch, LL.M, ist Rechtsanwalt bei der IT-Recht-Kanzlei, München, und befasst sich schwerpunktmäßig mit dem IT-bezogenen Vergaberecht. Zuvor war er Mitarbeiter bei Sun Microsystems/ Oracle und konnte so zahlreiche Erfahrungen bei der Anwendung des Vergaberechts auf Auftragnehmerseite sammeln.
Sehr geehrter Herr Kollege Münch,
zu Ihrem Report aus München zu dem neuen liberaleren Umgang Ihres Oberlandesgerichtes mit der unverzüglichen Rüge, möchte ich einen herzlichen Gruß aus Rheinland-Pfalz übersenden und auf die hiesige Rechtsprechung aufmerksam machen. Als ich Ihren Report las, dachte ich nämlich an ein Telefonat, das ich dieser Tage mit dem Vorsitzenden der zweiten Vergabekammer Mainz, Herrn Dr. Peter, führte. Ich fragte den Vorsitzenden, ob es denn überhaupt noch Sinn mache, in meinem Schriftsatz Tinte auf den Angriff präkludierten „verzüglichen“ Vortrags zu verwenden (Stichwort: Europa).
Herr Dr. Peter erklärte mir, dass die 2. Vergabekammer Rheinland-Pfalz in der Tat § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB als europarechtswidrig nicht mehr anwendet. Er verwies auf zwei Beschlüsse aus dem Jahre 2010, in denen die Vergabekammer Mainz die Uniplex-Rechtsprechung des EuGH sofort aufgegriffen hat. Ich habe diese Beschlüsse der Vergabekammer nachgelesen und füge hier den maßgeblichen Textbaustein zu dem Thema einmal ein:
„Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages steht nicht eine Verletzung der Rügeobliegenheit gern. § 107 Abs. 3 GWB entgegen. Insbesondere ist der Antragstellerin keine Verletzung des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB vorzuwerfen, nach der im Vergabeverfahren erkannte Vergaberechtsverstöße unverzüglich zu rügen sind. Von dieser Präklusionsregel kann aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 28. Januar 2010 (Rs. C-406/08) derzeit kein Gebrauch gemacht werden (so im Ergebnis: VK Hamburg, Beschluss vom 07.04.2010, VK BSU 2/10 u. 3/10, zit. nach Eydner, ibr-online, Werkstatt-Beitrag vom 14.04.2010; Summa in: jurisPK-VergR, 2. Auflage, § 107 GWB Rdn. 136.4; Krohn, NZBau 2010, 186, 188; Weyand, ibr-online, Vergaberecht 2009, § 107 GWB Rdn. 3054/5). Der EuGH hat in dem o. g. Urteil entschieden, dass es den Mitgliedstaaten zwar unbenommen ist, Fristen für die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens festzulegen, es aber mit dem Gebot eines effizienten Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren sei, wenn der Zugang zu einem Nachprüfungsverfahren von der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes wie „unverzüglich“ durch ein Gericht abhängt (vgl. Summa in: jurisPK-VergR, 2. Auflage, § 107 GWB Rdn. 136.1). Dem stehe Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (Rechtsmittelrichtlinie) entgegen. Die Entscheidung betraf zwar eine Vorschrift des englischen Rechts, nach der ein Nachprüfungsverfahren „unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten“ eingeleitet werden muss. Trotzdem sind die tragenden Grundsätze auf das deutsche Recht in Gestalt des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB übertragbar. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine verfahrensrechtliche Norm. Die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags knüpft an die Rechtzeitigkeit der Rüge an. Ob eine Rüge rechtzeitig erhoben wurde und damit der Zugang zum Nachprüfungsverfahren eröffnet ist, entscheidet – wie bei der englischen Norm – die Nachprüfungsbehörde in Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ (Summa in: jurisPK VergR, 2. Auflage, § 107 Rdn. 136.2). Ob die Präklusion an die verspätete Verfahrenseinleitung oder die verspätete Erhebung einer vorhergehenden Rüge anknüpft, ist unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes, auf dem der EuGH maßgeblich abstellt, ohne Belang (Krohn, NZBau 2010, 186, 187). Unerheblich ist auch, dass der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht anders als im englischen legaldefiniert und von der Rechtsprechung konkretisiert worden ist (anders dagegen: VK Bund, Beschluss vom 05.03.2010, VK 1 – 16/10; Jasper/Neven-Daroussis, Behördenspiegel März 2010, 20). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht mehr angewandt werden (Krohn, NZBau 2010, 186, 188). Sofern eine innerstaatliche Bestimmung nicht im Einklang mit der Rechtsmittelrichtlinie ausgelegt werden kann, kann die entsprechende nationale Vorschrift keine Verwendung mehr finden (vgl. EuGH, Urteil vom 28.01.2010, Rs. C-406/08). “
VK Rheinland-Pfalz, Beschlüsse vom 20.04.2010, VK 2 – 7 / 10 – (Bieter obsiegt); VK 2 – 9 / 10 – (Bieter obsiegt) in: VERIS
Herr Summa vom Oberlandesgericht Koblenz hat seine Meinung dazu in dem von der VK Rheinland-Pfalz seinerzeit herangezogenen juris-Praxiskommentar Vergaberecht, 2. Auflage in der aktuellen 3. Auflage übrigens nicht geändert. Insofern spricht einiges dafür, dass das Oberlandesgericht Koblenz § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB nicht mehr anwenden wird. Soweit ich das recherchieren konnte, hat der hiesige Senat bislang noch keinen entscheidungserheblichen Fall erhalten. Er deutete aber in einem Beschluss aus dem Jahre 2010 schon einmal in einem obiter dictum an:
„Erlangt ein Wettbewerbsteilnehmer an einem Freitagnachmittag Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß, ist eine Rüge, die am nächsten Arbeitstag beim Auftraggeber eingeht, rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz Nr. 1 GWB. Im Übrigen spricht viel dafür, dass diese Präklusionsnorm aufgrund des Urteils des EuGH vom 28. Januar 2010 (C-406/08) nicht mehr anwendbar ist.“
OLG Koblenz, Beschluss vom 26.05.2010, 1 Verg 2 / 10 – (Bieter obsiegt) in: VERIS
Wenn man sich also die von Ihnen referierte neue Rechtsprechung des OLG München anschaut und dazu die hiesigen Tendenzen am Mittelrhein OLG Koblenz hinzurechnet – im Gegensatz zu den anderen Obergerichten, könnte die Sache auf eine Divergenzvorlage zum BGH zulaufen.
Viele Grüße aus Koblenz
C.Schwabe