Produktspezifische Ausschreibungen sind in der Praxis verbreitet – können aber für Auftraggeber zu unerfreulichen Ergebnissen führen. Das OLG München (Beschluss vom 06.12.2012, Az.: Verg 25/12) bezieht in einer jüngeren Entscheidung eine erstaunlich bieterfreundliche Position.
Der Fall
Im Zuge der Erweiterung und Sanierung einer Schule war eine Brandmelde- und Uhrenanlage sowie eine ELA-Anlage ausgeschrieben. Das vorhandene Fabrikat war zu versetzen und zu erweitern, es war durch die Vergabeunterlagen vorgegeben. Alternativ konnte eine vollständig neue Anlage angeboten werden. Nebenangebote waren zugelassen, einziges Zuschlagskriterium war der Preis.
Das preisgünstigste Angebot war als „Nebenangebot“ bezeichnet. Der Bieter bot in diesem ein abweichendes Fabrikat an und wies auf erforderliche Änderungen in der Ausführung zur möglichen Integration von Bestandteilen hin, insbesondere waren vier statt zwei Systemschränke und eine andere Anzahl von Verstärkern vorgesehen. Er erhielt nicht den Zuschlag, weil die Vergabestelle das Verfahren nach der Rüge eines Konkurrenten aufhob. Gegen diese Aufhebung ging der Bieter vor und bekam in der zweiten Instanz auch Recht.
Entscheidend war, dass das OLG – anders als noch die Vergabekammer – sein so genanntes „Nebenangebot“ für wertbar erklärte, obwohl das einzige Zuschlagskriterium der Preis war. Anders als die Vergabekammer ordnete der Senat dieses Angebot nämlich rechtlich als Hauptangebot ein. Die Fehlbezeichnung war unschädlich. Er vermied auf diese Weise eine Positionierung in der ungeklärten Frage, ob Nebenangebote im Preiswettbewerb zulässig sind (s. Beitrag: Pfarr in unserer Serie Nebenangebote, Teil 3 „Konzeption der Wertungskriterien, insbesondere Streit um das Preiskriterium“ vom 22. Juni 2011; und Beitrag „Neues zu Nebenangeboten im Preiswettbewerb: Das OLG Düsseldorf lässt den BGH entscheiden!“ vom 11. Dezember 2011).
Der Wertbarkeit stand auch nicht das abweichende Fabrikat und die Änderungen in der Ausführung entgegen. Das Gericht stellte darauf ab, dass die Fabrikatsvorgabe nicht gerechtfertigt sei. Es erklärte, dass ein Bieter insoweit ein Angebot mit anderen Produkten abgeben dürfe. Es sei als – zulässiges – Hauptangebot einzuordnen. Auch systembedingte Abweichungen seien zulässig.
Die Leistungsbeschreibung als Bezugspunkt der Abgrenzung von Haupt- und Nebenangebot
Ausgangspunkt der Argumentation ist die Abgrenzung zwischen Haupt- und Nebenangeboten, wie sie das OLG Düsseldorf herausgearbeitet hat. Entscheidend ist demnach, ob eine Leistung so angeboten wird, wie sie ausgeschrieben ist: dann liegt ein Hauptangebot vor. Bei (rechtmäßiger) Vorgabe eines Leitfabrikats liegt darum ein Hauptangebot vor, wenn ein Bieter ein von der Ausschreibung umfasstes, gleichwertiges Fabrikat anbietet (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.03.2011, Az.: VII Verg 52/10). Wenn ein Angebot hingegen von der Ausschreibung abweicht und die Leistung auf alternative Weise angeboten wird, dann liegt ein Nebenangebot vor. Die Abgrenzung ist wichtig: Nebenangebote müssen bestimmten Anforderungen genügen, um wertbar zu sein (s. Beitrag: Mantler in der Serie Nebenangebote, Teil 4: „Wertung“, 28. September 2011).
Unrechtmäßige Fabrikatsvorgabe: eine Blankozulassung?
Bezugspunkt einer Einordnung als Haupt- oder Nebenangebot ist also immer die konkrete Leistungsbeschreibung. Das OLG München scheint nun aber einen Schritt weiter zu gehen und die Leistungsbeschreibung als solches nicht zum ausschließlichen Maßstab zu erklären. Vielmehr scheint es zusätzlich zu fordern, dass seine Vorgaben rechtmäßig sind. Ist eine Fabrikatsvorgabe unrechtmäßig, dann folgt daraus zweierlei: erstens darf ein Angebot davon abweichen und zweitens ist es als Hauptangebot einzuordnen. Besondere Wertungsanforderungen, die sich aus einer Einordnung als Nebenangebot ergeben, bestehen dann nicht. Auch kommt es nicht darauf an, ob die Abweichung gleichwertig ist. Es liegt ja gerade kein rechtmäßiges Leitfabrikat vor.
Offene Fragen im Hinblick auf die Präklusion
Nur auf den ersten Blick scheint es gerecht, einem Auftraggeber die Berufung auf eine rechtswidrige Fabrikatsvorgabe zu versagen, um ein Angebot auszuschließen. Genauer betrachtet stellt sich die Frage, wieso umgekehrt ein Bieter sich erst nach Angebotsabgabe auf die Unrechtmäßigkeit einer Fabrikatsvorgabe berufen können soll. Er kann diese in der Regel sofort erkennen. Auch ohne vergaberechtliche Expertise bemerkt er einen drohenden Wettbewerbsnachteil und kann erkennen, dass Diskriminierungen grundsätzlich vergaberechtlich unzulässig sind. Dann aber mutet ihm das Gesetz eine Rüge zu: § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB bestimmt, dass aus den Vergabeunterlagen erkennbare Verstöße gegen Vergaberecht bis spätestens zum Ende der Angebotsfrist gerügt werden müssen. Anderenfalls ist ein Unternehmen insoweit vor der Vergabekammer präkludiert. Diese Vorschrift dient der Verfahrenstransparenz und auch dem fairen Wettbewerb. Würde man auf dieses Rügeerfordernis verzichten, so könnte sich ein taktisch agierender Bieter einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bietern verschaffen, die sich an eine Produktvorgabe halten. Zu diesem Rügeerfordernis aber verliert die Entscheidung kein Wort.
Das erstaunt, denn in dieser Hinsicht kann sie sich nicht auf die zitierten Entscheidungen berufen. Diese hatten in einem konkreten Fall die Erkennbarkeit (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1.10.2012, Az.: Verg 34/12), in einem anderen die Kenntnis eines abweichenden Konkurrenzangebots (OLG Düsseldorf Beschluss vom 14.09.2009, Az.: Verg 9/09) ausdrücklich verneint. In einer weiteren zitierten Entscheidung war eine Rüge erfolgt (OLG München, Beschluss vom 5.11.2009, Az.: Verg 15/09).
Zulässig sollen auch systembedingte Abweichungen sein
Die Entscheidung ist in ihrer Konsequenz weitreichend: Bieter sollen nicht nur andere Produkte anbieten dürfen. Vielmehr sollen offenbar auch „systembedingte Abweichungen“ zulässig sein. Sie werden dann genauso behandelt wie die Abweichung im Hinblick auf das Produkt selbst. Das bedeutet: erstens ist die Abweichung zulässig und zweitens ist das Angebot auch hinsichtlich dieser Abweichung als Hauptangebot einzuordnen. Die Wertungsanforderungen, die sonst für Nebenangebote gelten, bestehen damit nicht. Das erscheint erklärungsbedürftig. Wie oben gesagt: weicht ein Bieter von der ausgeschriebenen Art und Weise der Leistung ab, handelt es sich nach den Grundsätzen des OLG Düsseldorf um ein Nebenangebot. Für deren Wertung gelten bestimmte Anforderungen, die in der Konsequenz der Entscheidung des OLG München aber entfallen. Auch auf die Gleichwertigkeit des angebotenen Fabrikats kann es nicht ankommen, denn dieses Erfordernis folgt aus der rechtmäßigen Vorgabe von Leitfabrikaten.
Überspitzt gesagt bedeutet das: schreibt ein Auftraggeber rechtswidrig einen BMW X5 aus, muss er auch einen Fiat Panda zur Wertung zulassen, wenn man die Abweichungen als systembedingt klassifizieren kann. Gerade darin liegt die Gefahr dieser Entscheidung: sie lässt „systembedingte Abweichungen“ zu, ohne dafür eine Rechtsgrundlage zu nennen oder den Begriff näher zu definieren. Sie erklärt auch nicht den Unterschied zu einer sonstigen Abweichung von einer Leistungsbeschreibung, die zur Einordnung als Nebenangebot führt.
Auch hier helfen die zitierten Entscheidungen nicht weiter. In dem einen Fall waren systembedingt abweichende Ausführungen gerade nicht zugelassen worden (OLG München, Beschluss vom 05.11.2009, Az.: Verg 15/09). In dem anderen ging es nicht um ein ausdrücklich abweichendes Fabrikat sondern darum, dass der Bieter das angebotene Fabrikat nicht wie gefordert angegeben hatte (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.10.2009, Az.: Verg 9/09).
Im Ergebnis sind nach dieser Entscheidung vergaberechtswidrige Produktvorgaben für Auftraggeber äußerst gefährlich: sie scheinen die Herrschaft über die zu beschaffende Leistung zu entziehen.
Ob andere Gerichte dieser Entscheidung in all ihren Konsequenzen folgen werden, bleibt in Anbetracht der offenen Fragen abzuwarten. Deswegen ist Bietern mit Blick auf das bestehende Präklusionsrisiko eine taktierende Angebotslegung mit abweichenden Produkten sicher nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Es steht aber durchaus zu erwarten, dass die Tendenz der vergaberechtlichen Spruchpraxis, im reinen Preiswettbewerb restriktiv Nebenangebote anzunehmen, sich verfestigen wird. Es scheint nämlich so, dass der BGH die Frage der Wertbarkeit von Nebenangeboten im Preiswettbewerb in näherer Zukunft nicht in der Sache entscheiden wird. Das größere Risiko tragen nach der Entscheidung des OLG München daher Auftraggeber: vergaberechtswidrige Produktvorgaben können genau entgegen gesetzt zu ihrer Zielsetzung wirken.
Dr. Valeska Pfarr, MLE
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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