Mindestvorgaben mit potentiell wettbewerbseinschränkender Wirkung müssen geeignet und erforderlich sein, um ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel zu gewährleisten.
Das Vergaberecht hat sich immer stärker vom wirtschaftlich motivierten Haushaltsrecht zum gesellschaftspolitischen Gestaltungsinstrument gewandelt. Dies bringt es mit sich, dass die Auftraggeber Festlegung treffen, mit denen nach ihrem Verständnis die im Allgemeininteresse liegenden Ziele durchgesetzt werden können. Inhalt und Umfang dieser Festlegungen sind gerichtlich überprüfbar. Und es muss für die Bieter die Möglichkeit geben nachzuweisen, dass sie das im Allgemeininteresse liegende Ziel auch anders erreichen können, als der Auftraggeber dies vorsieht.
Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 101 AEUV
Sachverhalt
Das italienische Recht enthält eine Regelung, wonach zur Sicherheit des Straßenverkehrs und zum Schutze des gewerblichen Güterkraftverkehrs in dem Beförderungsvertrag vorzusehen ist, dass der dem Transportunternehmer zu zahlende Betrag wenigstens die Mindestbetriebskosten deckt. Diese Regelung soll sicherstellen, dass in jedem Fall die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitskriterien gewährleistet ist. Die Höhe der Mindestkosten werden im Rahmen freiwilliger Vereinbarungen der Branche festgelegt, die von den Verbänden der Kraftverkehrsunternehmer und den Vereinigungen der Auftraggeber getroffen werden.
Da es zu einer solchen freiwilligen Vereinbarung nicht kam, wurden die Mindestkosten durch die zuständige Beobachtungsstelle für den Straßenverkehr festgelegt und von dem zuständigen Infrastruktur- und Transportministerium in eine Verwaltungsanordnung übernommen. Alles in Übereinstimmung mit dem italienischen Recht.
Diese Verwaltungsanordnung wird durch mehrere Nichtigkeitsklagen angegriffen. Das zuständige Gericht setzt die Verfahren aus und möchte vom Europäischen Gerichtshof die Frage geklärt haben, ob die italienische Regelung, durch welche ein geregeltes System zur Bestimmung der Mindestbetriebskosten eingeführt wurde, welches dazu dient, die Einhaltung der Sicherheitsmaßstäbe zu gewährleisten, jedoch die Vertragsfreiheit im Hinblick auf einen wesentlichen Vertragsbestandteil einschränkt, mit europäischem Recht vereinbar ist.
Die Entscheidung
Der EuGH bestätigt zunächst, dass Art. 101 AEUV i.V.m. Art 4 Abs. 3 EUV es den Mitgliedsstaaten verbietet Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben können. Dies verbietet die Vorgabe, Erleichterung oder Verstärkung von unzulässigen Kartellabsprachen auch, wenn der Staat seiner eigenen Regelung dadurch den staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidung privaten Wirtschaftsunternehmen überträgt. Der von einem Berufsverband ausgearbeitete Tarif kann den Charakter einer staatlichen Regelung haben, insbesondere wenn es sich bei seinen Mitgliedern um von den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern unabhängige Sachverständige handelt, die gesetzlich verpflichtet sind, bei der Festsetzung des Tarifs nicht nur die Interessen der Unternehmen oder der Unternehmensvereinigung des Sektors, den sie vertreten, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit und das Interesse der Unternehmen anderer Sektoren oder derjenigen, die die betreffenden Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zu berücksichtigen.
Für die Anwendung des Verbotes des Art. 101 Absatz 1 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes u.a. eine Würdigung des Gesamtzusammenhangs und des Ziels der Regelung erforderlich. In diesem Zusammenhang ist zu untersuchen, ob die mit der Maßnahme verbundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung des genannten Ziels zusammenhängen und ob die Beschränkungen auf das begrenzte sind, was notwendig ist, um die Umsetzung legitimer Zwecke sicherzustellen.Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die angegriffene Regelung nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt. Der Gerichtshof hält es für möglich, dass die Sicherheit des Straßenverkehrs ein solches legitimes Ziel darstellt. Jedenfalls ist die Festlegung von Mindestbetriebskosten nicht geeignet, dieses Ziel zu verwirklichen.
Die angegriffene Regelung bezieht sich ganz allgemein auf die Straßenverkehrssicherheit, ohne irgend einen Zusammenhang zwischen den Mindestbetriebskosten und der Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit herzustellen. Die angegriffene Regelung geht auch über das erforderliche Maß hinaus. Zum einen bietet sie dem Transportunternehmer nicht die Möglichkeit zu beweisen, dass er die Sicherheitsvorschriften in vollem Umfang erfüllt, obwohl er niedrigere Preise als die festgesetzten Mindesttarife verlangt. Zum anderen gibt es speziell für die Sicherheit im Straßenverkehr viele Vorschriften, die wirksamere und weniger einschränkende Maßnahmen darstellen, z. B. die Vorschriften der Union für die wöchentliche Höchstarbeitszeit, die Ruhepausen, die Ruhezeit, die Nachtarbeit und die technische Funktionskontrolle der Fahrzeuge. Die strikte Einhaltung dieser Vorschriften kann eine angemessene Straßenverkehrssicherheit gewährleisten.
Rechtliche Würdigung
Die angegriffene italienische Regelung ermöglicht eine Kartellbildung, die nicht durch möglicherweise durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt ist, aber nicht zur Verfolgung dieses Zweckes geeignet oder verhältnismäßig ist. Sie führt damit zu unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen. Der in der Einschränkung liegende Eingriff in die Binnenmarktfreiheit wurde vom Gerichtshof deswegen zu Recht als unzulässig abgelehnt.
Praxistipp
Diese Entscheidung ist für Bedeutung für jegliche dem Staat zuzurechnende Festlegung in den Vergabeunterlagen, die zu einer Einschränkung der Binnenmarktfreiheit führen können. Das können Mindestlohnvorgaben in Gesetzen oder Vergabeunterlagen oder Honorarordnungen als Vertragsbestandteile sein, aber auch die Verpflichtung im Auftragsfalle eine Betriebsstätte am Ort der Leistungsausführung zu errichten.
Prüfungsmaßstab ist die Frage, ob die potenziell die Binnenmarktfreiheit einschränkende Regelung
Für die Praxis sind dabei zwei Fragestellungen von besonderer Bedeutung. Gibt es speziellere Regelungen, die das gleiche Ziel wirksamer und weniger einschränkend gewährleisten? Und das ist jedenfalls für die Vergaberechtspraxis neu – lässt die vom Staat/Auftraggeber getroffene pauschalierende Festlegung dem Bieter die Freiheit nachzuweisen, dass er das im Allgemeininteresse liegende Ziel im vollen Umfang erfüllt, auch ohne sich an die Festlegung des Staates/Auftraggebers zu halten? Dies dürfte den Vorbereitungs-, Prüfungs- und Dokumentationsaufwand bei Ausschreibungen noch einmal vergrößern und erschweren.
Oliver Weihrauch arbeitet seit 1995 als Rechtsanwalt, Referent und Autor im Bereich des Vergaberechts. Als of counsel in der Sozietät caspers mock Anwälte berät und vertritt er von Bonn aus bundesweit Auftraggeber und Bieter in Vergabeverfahren und Nachprüfungsverfahren. Im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) ist er im Vorstand der Regionalgruppe Köln|Bonn|Koblenz.
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