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Auch wesentliche Vertragsänderungen sind innerhalb der Ausschlussfristen des § 101b GWB angreifbar (OLG Schleswig, Beschl. v. 04.11.2014 – 1 Verg 1/14)

EntscheidungDie umfangreiche „Aufstockung“ von Rettungsmittelwochenstunden ist eine ausschreibungspflichtige Vertragsänderung.

Während der Laufzeit eines Vertrages können veränderte Umstände Anpassungen an den vertraglichen Leistungspflichten notwendig machen. Handelt es sich jedoch um einen öffentlichen Auftrag, sind diesem an sich normalen zivilrechtlichen Vorgang Grenzen gesetzt: wesentliche Vertragsänderungen sind selbst als öffentlicher Auftrag zu qualifizieren und damit ausschreibungspflichtig. Eine Vereinbarung mit dem bisherigen Auftragnehmer ohne Ausschreibung stellt eine angreifbare unzulässige de-facto-Vergabe dar. Die Angreifbarkeit gilt jedoch nicht unendlich: auch für vergaberechtswidrige Vertragsänderungen gilt die 6-Monats-Frist des § 101b Abs. 2 GWB, innerhalb derer die Unwirksamkeit im Nachprüfungsverfahren geltend gemacht werden muss.

§ 101b Abs. 2 GWB

Sachverhalt

In einem Landkreis war im Jahr 1978 ein Vertrag über die Durchführung von Rettungsdienstleistungen geschlossen worden. In einem Nachtrag aus dem Jahr 1998 wurde vereinbart, dass der Auftraggeber über Anzahl und Einsatzbereitschaft von Rettungsmitteln nach Anhörung des Dienstleisters entscheiden sollte. Im Jahr 2012 war der Bedarf an Rettungsmittelvorhaltung stark gestiegen. Der Rettungsdienstleister wurde um eine Aufstockung der wöchentlichen Vorhaltezeit (Rettungsmittelwochenstunden, RMWStd) gebeten, ohne dass jedoch ein entsprechender Nachtrag vereinbart wurde. Insgesamt sollten 194 RMWStd aufgestockt werden.

Die Antragstellerin, ein privates Rettungsdienstunternehmen, rügte im März 2014 die im Jahr 2012 veranlasste Aufstockung der RMWStd als rechtswidrige de-facto-Vergabe und legte am 25. März 2014 Nachprüfungsantrag ein mit dem Ziel, die Unwirksamkeit der Beauftragung mit weiteren RMWStd feststellen zu lassen. Die Vergabekammer wies den Antrag unter Hinweis auf die bereits abgelaufene 6-Monats-Frist des § 101b Abs. 2 GWB ab.

Die Entscheidung

Die Beschwerde des Wettbewerbers hat keinen Erfolg. Zwar hat das Oberlandesgericht Schleswig anders als noch die Vergabekammer vom Grundsatz her in der Aufstockung der RMWSt einen öffentlichen Auftrag gesehen. Bei der Aufstockung handele es sich bei funktionaler Betrachtung um einen (konkludenten) Vertragsschuss im vergaberechtlichen Sinne, obwohl sie durch eine einseitige Anordnung erfolgt sei. Der Wert der Zusatzleistung, wäre sie als selbstständiger öffentlicher Auftrag einzuordnen, läge für sich genommen oberhalb des maßgeblichen Schwellenwertes. Alternativ handele es sich um eine wesentliche Vertragsänderung im Sinne der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 19.06-2008, Rs. C-454/06, Pressetext). Dabei bezieht sich das OLG auf Art. 72 Abs. 2 (ii) der novellierten Vergaberichtlinie 2014/24/EU, wonach eine 10%-ige Überschreitung des ursprünglichen Auftragswertes stets eine wesentliche, ausschreibungspflichtige Vertragsänderung sein soll.

Das OLG Schleswig hielt sich jedoch nicht lange mit der Frage auf, ob überhaupt ein ausschreibungspflichtiger Vorgang vorlag. Das Gericht lies den Antrag letztlich wegen Ablaufs der Fristen des § 101b Abs. 2 GWB scheitern. In seiner Entscheidung spricht es einige Interessante Einzelfragen zu dem Thema Feststellung der Unwirksamkeit eines vergaberechtswidrig abgeschlossenen Vertrages an.

Bei den Fristen des § 101b Abs. 2 GWB, wonach die Unwirksamkeit eines Vertrages 30 Tage nach Kenntnis, aber spätestens 6 Monate nach der Direktvergabe geltend gemacht werden muss, handele es sich um Ausschlussfristen. Der Ablauf der Fristen führe zum Rechtsverlust der betroffenen Bieter, Widereinsetzung in den vorigen Stand oder Hemmung des Fristablaufs kämen nicht in Betracht.

Vorliegend seien beide Fristen abgelaufen. Das Gericht berechnet die 30-Tages-Frist zurück vom Tag der Antragstellung und stellt fest, dass die Antragstellerin nicht nachgewiesen habe, erst innerhalb dieser Zeit Kenntnis von der Aufstockung erlangt zu haben. Der Antragstellerin obliege die Darlegungslast für den Zeitpunkt der Kenntniserlangung.

Auch die 6-Monats-Frist sei abgelaufen, wobei es hier nicht auf die Kenntnis von dem Vergaberechtsverstoß ankomme. Nicht notwendig sei erst recht eine vom dem Auftraggeber vermittelte Kenntnisverschaffung, ebenso wenig setze der Fristablauf eine Belehrung des Auftraggebers voraus. Der Gesetzgeber habe im Einklang mit dem Europarecht entschieden, dass der betroffene Vertrag spätestens nach Ablauf der 6-Monats-Frist endgültig wirksam und danach ein eventueller Verstoß rechtlich bedeutungslos wird. Die Frist könne auch nicht von vorn herein als zu knapp angesehen werden, um die Wahrnehmung von Bieterrechten zu ermöglichen. Die gesetzgeberisch gewollte Rechtssicherheit nach Ablauf der 6-Monats-Frist gelte in jedem Fall.

Das Gericht beschäftigt sich dann noch weiter mit der Frage, ob trotz Fristablauf eine unbegrenzte Angreifbarkeit von vergaberechtswidrig abgeschlossenen Verträgen in Betracht kommt, verwirft die Idee allerdings wiederum unter Hinweis auf die europarechtskonforme 6-Monats-Frist. Eine Durchbrechung der gesetzlichen Fristen komme daher auch über §§ 138, 242 BGB nicht in Betracht. Eine Ausnahme könne nur bei einer bewussten Gesetzesumgehung gelten, die zur Folge habe, dass die Ausschlussfristen des § 101b Abs. 2 GWB nicht gewahrt werden könnten. Das sei vorliegend aber nicht gegeben, da die Aufstockung dem einseitigen Anordnungsrecht aus dem Nachtrag aus dem Jahr 1998 zugeordnet werden könne und insofern keine bewusste Gesetzesumgehung anzunehmen sei.

Das OLG Schleswig räumt ein, dass das Ergebnis unbefriedigend erscheinen mag, es aber Folge der zeitlichen Begrenzung des subjektiven Bieterschutzes durch § 101b Abs. 2 GWB sei.

Rechtliche Würdigung

Vertragsschlüsse ohne Ausschreibung (de-facto-Vergaben) bzw. wesentliche Vertragsänderungen können nur innerhalb der 30-Tage-Frist bzw. 6-Monats-Frist des § 101b Abs. 2 GWB angegriffen werden.

Allerdings zeigt die Entscheidung interessierten Wettbewerbern zumindest eine theoretische Möglichkeit auf, wie sie an unantastbare Altverträge herankommen können. Werden nämlich Altverträge wesentlich geändert, so ist diese Änderung für sich genommen oder je nach Einzelfall der geänderte Vertrag insgesamt ausschreibungspflichtig.

In der Anpassung eines bestehenden Vertrages kann ein auszuschreibender öffentlicher Auftrag zu sehen sein, wenn die Vertragsänderung einer Neuvergabe des Auftrags gleichkommt und die Änderung nicht von der ursprünglichen Vergabe im Wettbewerb gedeckt ist. Bei der Änderung wesentlicher Bestimmungen handelt es sich nämlich aus vergaberechtlicher Sicht um die Aushandlung eines neuen Vertrages. Der EuGH hat hierzu drei Fallgruppen entwickelt: Eine wesentliche Änderung liegt vor, wenn sich bei den geänderten Bedingungen ein anderer Bieterkreis ergeben würde, das wirtschaftliche Gleichgewicht zu Gunsten des Auftragnehmers verschoben wird oder aber (wie hier) die Leistung in großem Umfang auf ursprünglich nicht vereinbarte Leistungen erweitert wird.

Die neue Richtlinie 2014/24/EU hat diese Fallgruppen in Art. 72 weitgehend übernommen und konkretisiert. Die deutschen Rechtsanwender können sich daher im Jahr 2016 auf eine gesetzliche Regelung zu der bislang ziemlich unklaren Frage freuen, wann Vertragsänderungen ausschreibungspflichtig sind.

Interessant ist, dass das OLG Schleswig in seiner Entscheidung bereits jetzt auf die neue Richtlinie Bezug nimmt, um das vorliegen einer wesentlichen Vertragsänderung zu begründen (ebenso OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.8.2014, Az. VII-Verg 13/14). Bis zur Umsetzung der neuen Richtlinien im April 2016 werfen sie also bereits jetzt ihre Schatten voraus und vermögen vielleicht schon jetzt die ein- oder andere bislang offene Frage klären.

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Praxistipp

Die Parteien eines öffentlichen Auftrags sollten sich bei Vertragsanpassungen der Möglichkeit bewusst machen, dass die Änderung vergabepflichtig sein könnte. Als Faustregel gilt: handelt es sich bei der Vertragsanpassung um einen Umstand, der für die Wettbewerber völlig uninteressant ist, dürfte eine unwesentliche und damit zulässige Änderung vorliegen. Werden hingegen neue Rechte und Pflichten verteilt, die bisher nicht dem Wettbewerb unterlagen, ist von einer Ausschreibungspflicht auszugehen (vgl. hierzu bereits Beitrag der Autorin, Vergabeblog.de vom 15/12/2013, Nr. 17778)

Wettbewerber, die von Vertragsanpassungen erfahren, sollten die 30-Tages-Frist des § 101b Abs. 2 GWB im Auge behalten. Spätestens sechs Monate nach der Vertragsänderung wird der geänderte Vertrag endgültig wirksam.

Etwas konturlos bleibt die Feststellung des Gerichts, dass die Ausschlussfristen bei einer bewussten Gesetzesumgehung im Einzelfall nicht gelten sollen. Häufig werden Vertragsparteien eine Vertragsänderung vornehmen, ohne dabei an Vergaberecht zu denken. In derartigen Fällen kann eine Vertragsänderung der Außenwelt auch ohne bösen Willen der Beteiligten verborgen bleiben. Selbst in anders gelagerten Fällen dürfte es schwierig sein, die bewusste Umgehung nachzuweisen; interessierten Unternehmen ist daher zu raten, sich bei anstehenden Vertragsänderungen möglichst frühzeitig ins Gespräch zu bringen, um den öffentlichen Auftraggeber für die vergaberechtliche Problematik zu sensibilisieren.

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Über Sonja Stenzel

Die Autorin Sonja Stenzel ist Rechtsanwältin in Berlin und bei der BG Kliniken - Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH tätig.

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