Unter welchen Umständen dürfen öffentliche Aufträge (vom Auftraggeber) gekündigt werden? Und was sind die Folgen? Nach Artikel 73 der Richtlinie 2014/24/EU müssen die Mitgliedsstaaten ein Kündigungsrecht des Auftraggebers vorsehen, um einen vergaberechtswidrigen Zustand (etwa nach einer ‚wesentlichen‘ Änderung) zu beenden und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wiederherzustellen. Die genauere Ausgestaltung dieses Kündigungsrechts und der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen überlässt die Richtlinie dem nationalen Recht. Die Umsetzung dieser Vorgabe findet sich nun im Entwurf zum VergRModG (BT-Drucksache 18/6281) in § 133 GWB-E (Kündigung von öffentlichen Aufträgen in besonderen Fällen).
Dem Praktiker stellen sich bei der Lektüre dieser Vorschrift zahlreiche Fragen. Der Autor hatte gehofft und vermutet, dass es hierzu im Gesetzgebungsprozess einige Diskussionen und Kontroversen geben würde. Stattdessen verwundert die Stille um diese für die Praxis so bedeutsame Norm. Es gibt Wichtigeres. In der Ausschussanhörung waren die Kündigungsrechte allenfalls ein Randthema. Das wird der Bedeutsamkeit dieser Neuregelung in der Praxis aber nicht gerecht. Auch der Gesetzesbegründung ist (noch) nicht in hinreichendem Maße das Bewusstsein zu entnehmen, dass mit dieser Regelung in ein bestehendes und austariertes Rechtsgefüge eingriffen wird. Die Auswirkungen auf die im BGB ausdifferenzierten Regelungen (Nichtigkeit, Rücktritt, Anfechtung, Kündigung) und den jeweils vorgesehenen Interessenausgleich bei der vorzeitigen Beendigung laufender Verträge (Rückgewähr, Restvergütung, Entschädigung, Schadensersatz) spiegeln sich in § 133 GWB-E noch nicht hinreichend wider. Mit einigen Fragen und Thesen erhofft sich der Autor daher eine Diskussion anzustoßen, die § 133 GWB-E ein wenig aus dem Schatten hebt, in dem sich diese Neureglung derzeit befindet.
Die Vorschrift:
§ 133 – Kündigung von öffentlichen Aufträgen in besonderen Fällen
(1) Unbeschadet des § 135 können öffentliche Auftraggeber einen öffentlichen Auftrag während der Vertragslaufzeit kündigen, wenn
1. eine wesentliche Änderung vorgenommen wurde, die nach § 132 ein neues Vergabeverfahren erfordert hätte,
2. zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung ein zwingender Ausschlussgrund nach § 123 Absatz 1 bis 4 vorlag oder
3. der öffentliche Auftrag aufgrund einer schweren Verletzung der Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder aus den Vorschriften dieses Teils, die der Europäische Gerichtshof in einem Verfahren nach Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgestellt hat, nicht an den Auftragnehmer hätte vergeben werden dürfen.
(2) Wird ein öffentlicher Auftrag gemäß Absatz 1 gekündigt, kann der Auftragnehmer einen seinen bisherigen Leistungen entsprechenden Teil der Vergütung verlangen. Im Fall des Absatzes 1 Nummer 2 steht dem Auftragnehmer ein Anspruch auf Vergütung insoweit nicht zu, als seine bisherigen Leistungen infolge der Kündigung für den öffentlichen Auftraggeber nicht von Interesse sind.
(3) Die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen.
Thesen:
a) Absatz 1 Nr. 1 (I)
Nach Absatz 1 Nummer 1 besteht ein Kündigungsrecht des Auftraggebers dann, wenn ein laufender Vertrag wesentlich geändert wurde, ohne dass dies nach § 132 GWB-E erlaubt gewesen wäre. Nummer 1 ist folglich ein Unterfall der Nummer 3 (Verletzung des Vergaberechts). Die vergaberechtswidrige Änderung eines laufenden Vertrages ist somit schärfer zu behandeln (Kündigungsrecht in jedem Fall) als die vergaberechtswidrige Erteilung des Vertrages selbst (nur bei „schweren“ Verstößen und auch nur bei Feststellung im Vertragsverletzungsverfahren). Das ist nicht einsichtig. Der ganze Absatz 1 ist zwar eine 1:1 Umsetzung von Artikel 73 der Richtlinie. Der Widerspruch sollte allerdings (wenigstens auf Rechtsfolgenseite) adressiert und diskutiert werden, ggf. unter Ausnutzung der Befugnis, die konkreten Bedingungen des Kündigungsrechts im nationalen Recht festzulegen.
b) Absatz 1 Nr. 1 (II)
Das Kündigungsrecht der Nummer 1 besteht nur dann, wenn die „Änderung vorgenommen“ (also bereits vollzogen) wurde. Daraus folgt, dass einer der wichtigsten Anwendungsfälle in der Praxis gar nicht erfasst wird. Der Fall, dass ein Auftrag während seiner Laufzeit dringend geändert werden muss (z.B. bei geändertem Bedarf) und dafür keine der erlaubten Möglichkeiten des § 132 GWB-E zur Verfügung steht, ist von Nummer 1 nicht erfasst. Wie häufig kommt es vor, dass sich ein Änderungsbedarf erst während der Laufzeit eines (langfristigen) Vertrages herausstellt. In diesen Fällen bleibt dem Auftraggeber – weiterhin – nur die Wahl zwischen einer freien Kündigung (falls überhaupt zulässig, ggf. mit den Folgen des § 649 BGB) oder einer vergaberechtswidrigen Änderung des Vertrages in der Hoffnung, es möge niemandem auffallen. Es ist schade, dass dieses praxisrelevante Problem der Auftraggeber in § 133 GWB-E nicht (mit-)angedacht wurde, zumal Erwägungsgrund 112 der Richtlinie dazu allen Anlass gegeben hätte.
c) Absatz 1 Nr. 1 (III)
In Nummer 1 wurde die heißumstrittene Frage außer Acht gelassen, ob im Falle der vergaberechtswidrigen Änderung eines Auftrags stets sogleich auch der ganze (Alt-)Auftrag makelbehaftet ist oder nur die (vergaberechtswidrige) Änderung selbst bzw. der geänderte Teil des Auftrags. Gerade bei der Beauftragung zusätzlicher Leistungen (etwa im Baubereich) stellt sich allerdings die Frage, ob nicht die Unwirksamkeit nur dieser Zusatzbeauftragung das mildere Mittel darstellt, um einen rechtmäßigen Zustand (Wiederaufleben des vergaberechtskonformen Altauftrags) herzustellen. Häufig fallen Änderungen laufender Verträge auch in einen Grenzbereich zwischen (erlaubter) Unwesentlichkeit und (verbotener) Wesentlichkeit der Änderung. Oft hätten die Vertragsparteien die Änderung unterlassen, wenn zum Zeitpunkt der Änderung klar gewesen wäre, dass sie als „wesentlich“ gilt und daher vergaberechtswidrig ist. Nummer 1 geht hier nach der Holzhammermethode vor und stellt ohne Ausnahme stets den ganzen (Alt-)Auftrag unter das Damoklesschwert der Kündigung. Ist das verhältnismäßig?
d) Absatz 1 Nr. 1 (IV)
Das Kündigungsrecht nach Nummer 1 gilt ohne jede Rücksicht auf den Grund der (vergaberechtswidrigen) Änderung eines laufenden Vertrages. Ein Auftraggeber könnte also ein Kündigungsrecht auch provozieren, etwa indem er dem Auftragnehmer eine (vergaberechtswidrige) Änderung anträgt oder ein (vergaberechtwidriges) Nachtragsangebot des Auftragnehmers annimmt. Bei allem Respekt für die Verantwortlichkeit der Unternehmen zum Selbstschutz; das erscheint nicht interessengerecht. Im Weiteren stellt sich die Frage, ob und wer in einem solchen Fall ein (Mit-)Verschulden tragen könnte und ggf. Schadensersatz leisten müsste (s. die Gesetzesbegründung zu Absatz 3)?
e) Absatz 1 Nr. 1 (V)
Das Kündigungsrecht nach Nummer 1 ist nach der Gesetzesbegründung ausdrücklich unbefristet. Ein Auftraggeber könnte sich somit zu Beginn der Auftragsausführung durch eine (vergaberechtswidrige) Änderungsvereinbarung einen Kündigungsgrund „auf Vorrat“ verschaffen. Dieser Kündigungsgrund würde über die gesamte Vertragslaufzeit nicht entfallen. Entspricht das Treu und Glauben?
f) Absatz 1 Nr. 2 (I)
Im Wortlaut des Absatzes 1 Nummer 2 und Absatzes 2 Satz 2 wird nicht hinreichend deutlich, dass ein „zwingender“ Ausschlussgrund nach § 123 Abs. 1 bis 4 GWB-E gemäß § 123 Abs. 5 GWB-E auch unbeachtlich sein oder unbeachtet bleiben kann und daher nicht stets zum Ausschluss (oder Kündigungsrecht) führen muss?! Der klarstellende Zusatz in Artikel 73 Buchstabe b) der Richtlinie 2014/24/EU: „und hätte daher vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden müssen“ wäre auch hier sinnvoll.
g) Absatz 1 Nr. 2 (II)
Absatz 1 Nummer 2 geht über die Richtlinie hinaus und begründet ein Kündigungsrecht auch im Falle eines Ausschlussgrundes nach § 123 Abs. 4 GWB (Nichtzahlung von Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen). Nach der Gesetzesbegründung soll Nummer 2 (nur) Artikel 73 Buchstabe b) der Richtlinie 2014/24/EU umsetzen, der aber die Nichtzahlung von Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen als Kündigungsgrund gerade nicht vorsieht. Es ist nicht ersichtlich, ob es sich hier um ein Versehen oder um eine bewusste Verschärfung der Richtlinie handelt.
h) Absatz 1 Nr. 3 (I)
Die Gesetzesbegründung verweist auf den Fall, dass der Auftraggeber einen laufenden Vertrag unter Umständen kündigen können muss, um ein ansonsten drohendes Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission zu verhindern. Gerade dieser Fall wird in Nummer 3 („EuGH … festgestellt hat“) oder sonst in § 133 GWB allerdings nicht geregelt, bewusst nicht?
i) Absatz 1 Nr. 3 (II)
Eine Kündigung ist auch möglich im Falle einer schweren Verletzung des Vergaberechts (durch den Auftraggeber). Damit wird das Risiko des Auftraggebers, als Adressat und Verpflichteter des Vergaberechts, auf den Auftragnehmer (mit-)übertragen. Das erscheint nicht interessengerecht. Der Auftragnehmer ist nicht Adressat des Vergaberechts und hat in der Regel keinen Einfluss auf (ja nicht einmal vollständigen Einblick in) das Vergabeverfahren. In der Gesetzesbegründung zu Absatz 2 heißt es, dass der Auftraggeber das Risiko vergaberechtskonformer Vergabeverfahren nicht allein tragen würde. Eine Begründung für diese Auffassung ist schmerzlich zu vermissen. Warum sollte der Auftraggeber dieses Risiko nicht tragen; er allein ist „Herr des Vergabeverfahrens“?
j) Absatz 1 insgesamt (I)
Eine Pflicht zur Kündigung ist nicht vorgesehen. Es gibt also auch keinen Drittschutz für benachteiligte Wettbewerber etwa im Falle einer vergaberechtswidrigen Änderung eines Auftrags oder bei nachträglich bekannt gewordenen zwingenden Ausschlussgründen nach § 123 GWB-E. Wo kein Kläger, da kein Richter. Wie effektiv ist die Zielsetzung des § 133 GWB-E (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung), wenn sie niemand einfordern kann?
k) Absatz 1 insgesamt (II)
Es ist unklar, ob die Kündigungsrechte in Absatz 1 dispositiv oder nicht disponibel sind (nach dem BGB sind Kündigungsrechte in der Regel abdingbar). Es bleibt daher unklar, ob die Klausel in einer Änderungsvereinbarung (s. Nummer 1) zivilrechtlich unwirksam wäre, wenn der Auftraggeber darin auf ein etwaiges Kündigungsrecht verzichtet bzw. sich verpflichtet, es nicht auszuüben. Es bleibt auch unklar, ob sich der Auftraggeber schadensersatzpflichtig macht (Absatz 3), wenn er dann doch kündigt. Ist es erstrebenswert, dass erst jahrelange und teure Gerichtsverfahren (ggf. bis zum BGH) hier Klarheit bringen könnten?
l) Absatz 2 Satz 1
Wird ein Auftrag vorzeitig gekündigt, so steht dem Auftragnehmer nach Absatz 2 allenfalls die Vergütung für die (bis dahin) bereits erbrachten Leistungen zu. Größere/längere Aufträge erfordern jedoch oft hohe Anfangsinvestitionen des Auftragnehmers, die auf die Vertragslaufzeit umgelegt/kalkuliert werden müssen. Es müssen Maschinen und Material angeschafft und/oder Personal eingestellt werden. Bei einer frühzeitigen Kündigung wären diese Investitionen bzw. Aufwendungen des Auftragnehmers nutzlos. Der Auftragnehmer wäre allein auf den (ggf. ungewissen) Schadensersatz verwiesen. Vor dem Hintergrund, dass eine Kündigung nach Absatz 1 Nummer 3 auch dann möglich sein soll, wenn der Auftraggeber seine (allein ihn treffenden) Pflichten zur Einhaltung des Vergaberechts verletzt hat, erscheint das nicht interessengerecht.
m) Absatz 2 Satz 2
Die Vergütungsansprüche des Auftragnehmers entfallen bei einem fehlenden Interesse des Auftraggebers an den (bis dahin) bereits erbrachten Leistungen gänzlich, wenn ein zwingender Ausschlussgrund nach § 123 GWB-E vorlag. Das erscheint nicht in jedem Fall interessengerecht, etwa wenn der Auftraggeber den Ausschlussgrund schon bei Zuschlagserteilung kannte und das Angebot des Auftragnehmers dennoch nicht ausgeschlossen, sondern im Wissen um den Ausschlussgrund den Zuschlag erteilt hat.
n) Absatz 3
Absatz 3 ist nicht in jedem Fall ein angemessener Ausgleich. § 649 BGB beispielsweise sieht einen Restvergütungsanspruch (abzüglich ersparter Aufwendungen) des Auftragnehmers bei einer freien Kündigung durch den Auftraggeber eines Werkvertrages / Bauvertrages vor. Eine der freien Kündigung ähnliche Interessenlage liegt aber auch dann vor, wenn der Auftraggeber seine (allein ihn treffenden) vergaberechtlichen Pflichten verletzt hat (Absatz 1 Nummer 3). Ein ähnlicher Interessenausgleich wie in § 649 BGB wird nach Absatz 3 nicht ermöglicht. Dem Auftragnehmer bliebe daher nur der (ggf. ungewisse) Schadensersatz.
o) § 154 Nummer 4 GWB-E
§ 133 GWB-E gilt auch für Konzessionen (§ 154 Nummer 4 GWB-E). Es ist jedoch zu befürchten, dass die Besonderheiten und möglichen Konstellationen eines Konzessionsvertrages in § 133 GWB-E noch nicht hinreichend berücksichtigt sind. Kündigung und Schadensersatz könnten als Handlungsmittel unzureichend sein, um im Falle einer vergaberechtswidrigen Konzession eine Neuvergabe zu ermöglichen. Vor allem bei Baukonzessionen dürften für eine erneute Vergabe vielmehr Rückgewähr- und Rückübertragungsansprüche des Auftraggebers nötig sein, um entsprechende Nutzungsrechte an einen neuen Konzessionsnehmer vergeben zu können.
Hinweis der Redaktion
Dieser Beitrag ist ebenfalls Gegenstand des gleichnamigen Themas im Fachausschuss Recht des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW). Sie können mitdiskutieren. Das Thema finden Sie im Mitgliederbereich des DVNW, hier. Noch kein Mitglied? Hier geht es zur Mitgliedschaft.
John Richard Eydner
John Richard Eydner ist Rechtsanwalt und Partner bei der Wirtschaftskanzlei LANGWIESER | Rechtsanwälte Berlin | München. Er berät und begleitet bundesweit Auftraggeber bei der Konzeption und Durchführung von Vergabeverfahren ebenso wie Unternehmen bei der Teilnahme daran. Durch seine Erfahrungen auf „beiden Seiten“ steht Rechtsanwalt Eydner für problembewusste, konfliktvermeidende und störungsresistente Vergaben. Er ist Vorsitzender der DVNW-Regionalgruppe Berlin-Brandenburg
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