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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 21/04/2016 Nr. 25442

Hohe Substantiierungsanforderungen an Aufhebung eines Vergabeverfahrens wegen fehlender Finanzierbarkeit (OLG Celle, Beschl. v. 10.03.2016 – 13 Verg 5/15)

EntscheidungDas OLG Celle stellt kaum zu erfüllende Substantiierungsanforderungen bei einer Aufhebung eines Vergabeverfahrens wegen fehlender Finanzierbarkeit – Aufhebung wegen fehlender Wirtschaftlichkeit liegt erst ab einer Überschreitung von 20 % nahe – zur Zulässigkeit von Feststellungsanträgen.

Überschreitet das zu bezuschlagende Angebot eine sorgfältig ermittelte Kostenschätzung um mehr als 10 %, kann das Vergabeverfahren rechtmäßig aufgehoben werden, wenn die Finanzierbarkeit nicht sichergestellt ist. Eine fehlende Finanzierbarkeit ist von der Vergabestelle im Einzelnen nachzuweisen – etwa durch Gespräche mit der Bank nach Submission und einem gescheiterten Versuch, eine Ausweitung von Fördermitteln zu erreichen. Die Anforderungen, die das OLG Celle an die Substantiierung des Nachweises stellt, wirken dabei teils überzogen, lassen sich aber dadurch erklären, dass die Begründung der Vergabestelle im konkreten Fall vorgeschoben erscheint.

§ 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A

Leitsatz

In Fällen, in denen der Antragsteller mit dem Ziel der Erlangung primären Vergaberechtsschutzes die Aufhebung des ausgeschriebenen Vergabeverfahrens zum Gegenstand einer Nachprüfung macht, ist die Vergabekammer oder das Beschwerdegericht bei Vorliegen eines Feststellungsinteresses des Antragstellers auf dessen Antrag auch zur Feststellung der durch die Aufhebung eingetretenen Rechtsverletzung befugt, wenn sich herausstellt, dass trotz eines Vergabeverstoßes aufgrund des dem Auftraggeber zustehenden Entscheidungsspielraums eine auf die Fortsetzung des aufgehobenen Vergabeverfahrens gerichtete Anordnung nicht ergehen kann.

Die Antragsbefugnis i.S.d. § 107 Abs. 2 Satz 1 GWB setzt zwar einen „schlüssigen“ Vortrag der Verletzung vergaberechtlicher Vorschriften voraus. Der Begriff der „Schlüssigkeit“ ist hier aber nicht im Sinne der zivilprozessualen Relationstechnik dahin zu verstehen, dass vorausgesetzt wäre, dass – die Richtigkeit des Tatsachenvortrags des Antragstellers unterstellt – die begehrte Rechtsfolge abschließend feststehen müsste. Vielmehr muss der Tatsachenvortrag nur „geeignet sein“, seine Richtigkeit unterstellt, einen Vergabeverstoß darzutun. Die Antragsbefugnis kann nur fehlen, wenn offensichtlich eine Rechtsbeeinträchtigung nicht vorliegt.

In Fällen, in denen die Preise eingereichter Angebote die von der Vergabestelle vorab ermittelten Kosten übersteigen, kommt eine (sanktionsfreie) Aufhebung des Vergabeverfahrens wegen eines anderen schwerwiegenden Grundes im Sinne des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A u. a. in folgenden Fällen in Betracht:

a) Eine mangelnde Finanzierbarkeit kann einen die Aufhebung des Vergabeverfahrens rechtfertigenden anderen schwerwiegenden Grund darstellen. Voraussetzung ist dabei zum einen, dass der Auftraggeber den Kostenbedarf mit der gebotenen Sorgfalt ermittelt hat. Weiter muss die Finanzierung des ausgeschriebenen Vorhabens bei Bezuschlagung auch des günstigsten wertungsfähigen Angebotes scheitern oder jedenfalls wesentlich erschwert sein.

Dies erfordert in einem ersten Schritt, dass der Auftraggeber die Kosten für die zu vergebenden Leistungen sorgfältig ermittelt. In einem zweiten Schritt hat er zu berücksichtigen, dass es sich bei der Kostenermittlung nur um eine Schätzung handelt, von der die nachfolgenden Ausschreibungsergebnisse erfahrungsgemäß mitunter nicht unerheblich abweichen. Er hat deshalb für eine realistische Ermittlung des Kostenbedarfs einen ganz beträchtlichen Aufschlag auf den sich nach der Kostenschätzung ergebenden Betrag vorzunehmen. Regelmäßig wird insoweit von der Rechtsprechung ein Aufschlag in Höhe von rund 10 % verlangt.

b) Weiter kommt eine Aufhebung des Vergabeverfahrens aufgrund eines anderen schwerwiegenden Grundes im Sinne des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A bei einer fehlenden Wirtschaftlichkeit in Betracht. Das Ausschreibungsergebnis kann unwirtschaftlich sein, wenn die wertungsfähigen Angebote ein unangemessenes Preis-Leistungsverhältnis aufweisen. Dies kommt in Betracht, wenn die vor der Ausschreibung vorgenommene Kostenschätzung der Vergabestelle aufgrund der bei ihrer Aufstellung vorliegenden und erkennbaren Daten als vertretbar erscheint und die im Vergabeverfahren abgegebenen Gebote deutlich darüber liegen.

Zumindest im Regelfall, in dem keine weiteren Umstände eine abweichende Beurteilung erfordern, rechtfertigt erst eine Abweichung des günstigsten Angebotes von vertretbaren Kostenschätzungen in Höhe von rund 20 % einen Rückschluss auf ein unangemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis.

c) Auch über den Fall des unangemessenen Preis-Leistungs-Verhältnisses hinaus kann die Bezuschlagung des wertungsfähigen Angebotes aus sonstigen Gründen in einem Maße unwirtschaftlich i. w. S. sein, dass dies einen anderen schwerwiegenden Grund im Sinne des § 17 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A darstellte, weil beispielsweise zwar ausreichendes Fremdkapital zu erlangen ist, die (gesteigerten) Kreditkosten aber einem späteren wirtschaftlichen Betrieb entgegenstehen. Denkbar erscheinen insoweit auch Fälle, in denen zwar in größerem Umfang Eigenkapital eingebracht werden könnte, dann aber die Aufgabenerfüllung in anderen Bereichen unzumutbar einzuschränken wäre.

Sachverhalt

Die Vergabestelle schreibt den Neubau eines Krankenhauses zunächst im nicht offenen Verfahren aus. Sie schätzt die Kosten auf 22,1 Mio. EUR brutto. Das Angebot der Antragstellerin beläuft sich auf 24,9 Mio EUR (Überschreitung der Kosten um 12,6 %), das Angebot der Beigeladenen auf 23,2 Mio. EUR (Überschreitung um 4,9 %). Nach entsprechender Rüge der Antragstellerin schloss die Vergabestelle das Angebot der Beigeladenen wegen fehlender Eignung (keine ausreichenden Referenzen) aus. Sie hob das Verfahren wegen fehlender Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit auf. Der bewilligte Finanzrahmen sei auf die geschätzten Kosten begrenzt; Gespräche zu einer Nachfinanzierung führte sie nach Submission aber offenbar allenfalls telefonisch. Nach erneuter Ausschreibung mit abgesenkten Eignungsanforderungen erhielt die Beigeladene (offenbar nach der Entscheidung der Vergabekammer) den Zuschlag auf ihr neues Angebot in Höhe von 23,8 Mio. EUR (Überschreitung 7,7 %).

Die Antragstellerin beantragte, die Aufhebung des ursprünglichen Verfahrens aufzuheben, hilfsweise die Rechtswidrigkeit der Aufhebung festzustellen. Die Vergabekammer lehnte den Hauptantrag ab und gab dem Hilfsantrag statt. Gegen letzteres richtete sich die sofortige Beschwerde der Vergabestelle.

Die Entscheidung

1. Der Feststellungsantrag sei zulässig. Ein hilfsweise gestellter Feststellungsantrag sei nur zulässig, wenn der Hauptantrag zulässig sei. Der Hauptantrag sei hier zulässig gewesen. Zwar scheitere die Aufhebung der Aufhebung an den dafür geltenden hohen Anforderungen des BGH (Beschluss vom 20. März 2014, X ZB 18/13), wonach die Rechtswidrigkeit der Aufhebung nicht ausreicht: Die Vergabestelle müsse zudem beabsichtigen, durch die Aufhebung die formalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, in rechtlich zu missbilligender Weise den Auftrag außerhalb des eingeleiteten Vergabeverfahrens an einen bestimmten Bieter zu vergeben. Dies sei nach den Feststellungen der Vergabekammer nicht der Fall. Ausreichend für die Zulässigkeit des Hauptantrages sei aber, dass eine Aufhebung der Aufhebung möglich erschienen sei, schlüssig müsse der Vortrag eines Antragstellers für die Zulässigkeit nicht sein. Aufgrund der (gezielten?) Absenkung der Eignungsanforderungen sei eine Aufhebung der Aufhebung nicht offensichtlich ausgeschlossen gewesen.

2. Der Feststellungantrag sei auch begründet. Der öffentliche Auftraggeber trage die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes, der eine Aufhebung rechtfertigt, § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A. Eine fehlende Finanzierbarkeit oder Wirtschaftlichkeit könne zwar einen schwerwiegenden Grund darstellen, beides sei vorliegend aber nicht hinreichend dargelegt worden:

  •  Eine fehlende Wirtschaftlichkeit könne nach der Rechtsprechung des BGH zwar nicht anhand bestimmter Prozentzahlen bestimmt werden. Nach Auswertung einer Vielzahl von Entscheidungen kommt das OLG Celle allerdings zu dem Schluss, dass eine fehlende Wirtschaftlichkeit nur dann nahe liegt, wenn eine sorgfältig ermittelte Kostenschätzung um mehr als 20 % überschritten werde. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Auch seien keine Umstände des Einzelfalls dargelegt worden, eine fehlende Wirtschaftlichkeit auch bei einer geringeren Überschreitung der Kostenschätzung anzunehmen.
  • Eine fehlende Finanzierbarkeit komme zwar bereits ab einer Überschreitung der Kostenschätzung von 10 % in Betracht, da ein öffentlicher Auftraggeber mit einer Überschreitung der Kostenschätzung von mehr als 10 % nicht zu rechnen brauche. Die Vergabestelle habe vorliegend aber lediglich dargelegt, dass nach telefonischer Rücksprache mit der Bank eine weitergehende Fremdkapitalfinanzierung von über 1,0 Mio EUR ausgeschlossen sei. Die Vergabestelle hätte darüber hinaus konkrete Verhandlungen mit der Bank darlegen müssen, da bereits zum Zeitpunkt der Aufhebung Zweifel daran bestanden hätten, die zu Leistung nicht zu einem Preis in Höhe der Kostenschätzung zu vergeben gewesen sei. Auch habe die Vergabestelle keine Gespräche mit weiteren finanzierenden Banken oder dem Fördermittelgeber über eine Ausweitung der Förderung geführt bzw. dargelegt. Auch die schlussendlich erfolgte Vergabe zu einem Preis, der den ursprünglichen Rahmen um 7,8 % überschreite, lasse es nicht fernliegend erscheinen, dass auch das Angebot der Beigeladenen finanzierbar gewesen sein könnte.
  • Auch sonstige schwerwiegende Gründe seien nicht dargelegt. Ein schwerwiegender Grund könne z. B. darin liegen, dass höheres Fremdkapital zwar finanzierbar sei, aber die Kapitalkosten im laufenden Betrieb nicht erwirtschaftet werden könnten, oder aber darin, dass zwar weiteres Eigenkapital zugeschossen werden könne, dadurch aber die Aufgabenerfüllung in anderen Bereichen unzumutbar eingeschränkt werde.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung geht zwar von den richtigen rechtlichen Anforderungen an die Aufhebung eines Vergabeverfahrens  aus: Eine Aufhebung kann aufgrund eines schwerwiegenden Grundes nur erfolgen, wenn eine sorgfältig ermittele Kostenschätzung entweder um mehr als 20 % überschritten wird (regelmäßig fehlende Wirtschaftlichkeit) oder um mehr als 10 % überschritten wird, dann aber gleichzeitig die Mehrkosten nicht finanzierbar sind (fehlende Finanzierbarkeit). Die Anforderungen an die Darlegung der fehlenden Finanzierbarkeit legt das OLG Celle dann aber derart hoch, dass sie in der Praxis kaum erfüllt werden können: Nicht ausreichen soll die Aussage einer Bank, eine weitere Finanzierung in Höhe von 1,0 Mio. EUR sei nicht möglich. Vielmehr seien intensive Gespräche mit der Bank zu führen, da – so die Einschätzung des Gerichts – eine weitere Finanzierung nicht fernliegend gewesen sei. Nachvollziehbar ist dies nur ob des Umstandes, dass schlussendlich ein deutlich höherer Betrag finanziert werden konnte und das gesamte Manöver der Vergabestelle letztlich dazu diente, durch Absenkung der Eignungskriterien das günstigere Angebot der Beigeladenen bezuschlagen zu können. Die Gründe der fehlenden Finanzierbarkeit erschienen infolgedessen dem Gericht offenbar vorgeschoben. Die Vergabestelle wird es verschmerzen können: Der drohende Schadensersatz ist auf das negative Interesse beschränkt.

Praxistipp

1. Eignungsanforderungen mit Augenmaß
Die Entscheidung zeigt einmal mehr: Zu hohe Eignungsanforderungen und -nachweise können den Markt so verengen, dass das Ergebnis der Ausschreibung nicht mehr wirtschaftlich ist. Eine Nachkorrektur durch Aufhebung ist dann stets mit hohen Risiken verbunden.

2. Aufhebung wegen fehlender Finanzierbarkeit unrealistisch
Ob der hohen Anforderungen an die Darlegung ist eine Aufhebung wegen fehlender Finanzierbarkeit in der Praxis regelmäßig unrealistisch. Empfehlenswert ist es daher, für die Finanzierung einen Puffer von 20 % vorzusehen. Dann kann notfalls eine Aufhebung wegen fehlender Wirtschaftlichkeit erfolgen. Ist dies nicht möglich, sollte erwogen werden, eine Preisobergrenze transparent zu machen. Dann scheiden Schadensersatzforderungen nach einer Aufhebung aus, regelmäßig orientieren sich Bieter aber an dieser Preisobergrenze.

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Dr. Peter Neusüß

Der Autor Dr. Peter Neusüß ist Rechtsanwalt der Sozietät Sparwasser & Heilshorn Rechtsanwälte, Freiburg. Herr Dr. Peter Neusüß berät im Bereich des Vergabe-, Bau-, Abfall- und Energierechts insbesondere die öffentliche Hand, aber auch private Unternehmen. Er begleitet  und unterstützt öffentliche Auftraggeber im Vergabeverfahren von der Vorbereitung einschließlich der Einbindung der (kommunalen) Gremien über die Erstellungder Vergabeunterlagen und Bieterinformationen bis hin zur Zuschlagserteilung und vertritt sie, soweit erforderlich, in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und den Oberlandesgerichten.

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