Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde mit der Vergaberechtsreform 2016 in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Form des § 97 I 2 eingearbeitet und stellt nunmehr einen Grundsatz für das öffentliche Beschaffungswesen im Oberschwellenbereich dar. Damit wird die „proportionalitas“ in einem Atemzug mit der Wirtschaftlichkeit genannt und als ebenso obwaltendes Prinzip eingesetzt[1].
Mit ihr sollen dem Wettbewerb und der Transparenz beim staatlichen Konsum Geltung verschafft werden. Der Ansatz des „verhältnismäßigen Handelns“ ist indes nichts Neues. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit universelles Verfassungsprinzip und ein wesentliches Merkmal des Rechtsstaates[2]. Insbesondere bei grundrechtsrelevanten Handlungen sind staatliche Organe verpflichtet sorgfältig zwischen kollidierenden schützenswerten Interessenslagen, Freiheiten und Rechtsgütern abzuwägen[3]. Es geht hierbei um eine Kompensation von Nachteilen unter gleichzeitiger größtmöglich beidseitiger Vorteilsgewinnung-/erhaltung.
Vom Ziel und Zweck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgehend, galt dieser faktisch schon vor Inkrafttreten des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes 2016[4]. Überall dort, wo staatlichen Organen Ermessen im Vergabeverfahren eingeräumt war, galt es bereits im alten Recht keine Ermessensfehler, insbesondere nicht im Zuwiderhandeln gegen das Gleichbehandlungsgebot, zu begehen[5]. Die nationale Rechtsprechung hat die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Vergaberecht, oberhalb und unterhalb der Schwellen- werte, fortlaufend bestätigt und verfestigt[6]. Mit der Verabschiedung der zugrundeliegenden Richtlinie der Europäischen Union über die öffentliche Auftragsvergabe (RL 2014/24/EU) wurde nun auch im Wortlaut mit dem dort aufgeworfenen Postulat die grammatische Lücke im GWB geschlossen[7].
Die Intention des gesetzgeberischen Gestaltungansatzes der Europäischen Union folgt dem primärrechtlichen Idealen der Verträge sowie der flankierenden gemeinschaftsrichterlichen Jurisdiktion[8].
Es ist daher erkennbar und nachvollziehbar, dass die Proportionalität von Interessen und Rechtsgütern überall dort, wo der Normengeber keine gebundenen Entscheidungen im Vergabeverfahren vorgesehen hat, nur solche Erwägungen in Handlungen münden lassen soll, welche vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit ausgegangen und getragen sind. Dadurch werden sowohl die rechtlichen Sphären der öffentlichen Auftraggeber und der Unternehmen gleichsam gewahrt.
Insofern ist die gleichrangige Nennung mit der Wirtschaftlichkeit eine logische Folge dieses gedanklichen Ansatzes. Das Interesse der Öffentlichkeit an der wirtschaftlichen Bedarfsdeckung der staatlichen Institutionen zur Herstellung und Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit umfasst eben nicht nur das Ergebnis, sondern auch das Zustandekommen des zivilrechtlichen Schuldverhältnisses[9].
Verfahrensunbilden, Härtefälle, Unregelmäßigkeiten und Bagatellverfehlungen können mit dem neu implementierten Verfahrensgrundsatz zwar nicht beseitigt, ihre teilweise disproportionalen Folgen aber für Unternehmen und Vergabestellen abgemildert werden. Dieses ist auch vor dem Hintergrund fiskalischer Ziele im Rahmen der wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung und parlamentarischen Konsolidierungszielen anstrebenswert; für die Unternehmen lassen sich positive Effekte durch die Chance als Zuschlagsdestinatär hervorzugehen und Transaktionskosten zu mindern, verzeichnen.
Der europäische Normengeber hat namentlich an fünf Stellen in der RL 2014/24/EU die Verhältnismäßigkeit in Ableitung der Grundsätze des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) herausgestellt:
Der Deutsche Bundestag und Bundesrat haben fristgemäß diese Richtliniengehalte in nationales Recht umgesetzt. Bei dem im Bundesgesetzblatt verkündeten GWB lassen sich folgende einschlägige Fundstellen dem Wortlaut nach identifizieren:
Darüber hinaus entwickelt das obwaltende Prinzip der Verhältnismäßigkeit ein Regulativ für den Entscheidungskorridor in allen Bereichen, in denen dem öffentlichen Auftraggeber mehrere Rechtsfolgen zur Verfügung stehen bzw. er das Vergabeverfahren einfach oder komplex gestalten möchte. Davon ausgehend hat der nationale Gesetzgeber implizit Formulierungen des Normentextes dazu genutzt, unter Beibehalten des umfassenden Leistungsbestimmungsrechts, dem Prinzip zur Verwirklichung zu verhelfen[10]:
Grundsätzlich erstrecken sich die Ausführungen auch auf die verteidigungs- und sicherheitsrelevanten Aufträge in Würdigung der definierten Ausnahmen des § 117 GWB. Hierbei stehen vor allem wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund.
Wird der nun kodifizierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Vergabeverfahren rechtlich, fiskalisch und ökonomisch verbessern?
Derzeit kann hierzu noch kein durch die Verwaltungs- oder Rechtsprechungspraxis untermauertes repräsentatives Meinungsbild als empirische Untermauerung dienen.
Seit Inkrafttreten des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes 2016 waren bei den Vergabekammern des Bundes beim Bundeskartellamt drei Nachprüfungsverfahren abgeschlossen, bei denen essentiell um das verhältnismäßige Handeln des öffentlichen Auftraggebers gestritten wurde. In einem Fall wurde der Nachprüfungsantrag zurückgewiesen, in einem anderen Fall abgelehnt. Ein Obsiegen eines Antragstellers konnte auf Bundesebene einmal verzeichnet werden. Hier wurde eine Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowohl durch die Vergabekammer als auch durch das angerufene Obergericht rechtskräftig bestätigt. Die 2. Vergabekammer des Bundes beim Bundeskartellamt erkannte hierbei in ihrem Beschluss vom 30.05.2016[11]:
„Problematisch ist vorliegend allerdings die regionale Eingrenzung ausschließlich auf Referenzprojekte im identischen […]. Diese Vorgabe führt zu einer Bevorzugung des bisherigen Auftragnehmers und zu einer unverhältnismäßigen Benachteiligung nicht ortsansässiger Bieter, die in der Sache nicht erforderlich ist, um der legitimen Intention der Ag – Sicherstellung eines Erfolgs der Maßnahme – zu entsprechen. Das nunmehr ausdrücklich in § 97 Abs. 1 GWB (n.F.) normierte Verhältnismäßigkeitsgebot, das nach alter Rechtlage auch ohne explizite Normierung als allgemeiner Rechtsgrundsatz galt, wird hier durch diese regionale Eingrenzung bei diesem Wertungskriterium verletzt; alle Vorgaben, die den bisherigen und den ortsansässigen Bieter strukturell bevorteilen, sind einer genauen Prüfung zu unterziehen, auch wenn vorliegend aufgrund des Charakters als I B-Dienstleistung gerade kein europaweiter Wettbewerb geschuldet ist. Das ausschließliche Geltenlassen von Maßnahmen im […] kann im Ergebnis dazu führen, dass allein der derzeitige Leistungserbringer überhaupt die Chance bekommt, mehr als einen Punkt in diesem Kriterium zu erlangen.“
Der im Rahmen der sofortigen Beschwerde mit der Angelegenheit befasste Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf schloss sich der erstinstanzlichen Auffassung am 02.11.2016 an[12]:
„Zu einem (unerwünschten) pauschalen Vergleich sämtlicher Eingliederungs- und/oder Abbruchquoten aus sämtlichen Arbeitsagenturbezirken ohne Rücksicht auf regionale Verhältnisse (so die Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 07.10.2016, S. 6) muss eine vergaberechtskonforme Angebotswertung nicht führen. Solches muss die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Bestimmungsfreiheit bei den Ausschreibungsbedingungen ebenso wenig hinnehmen. Um dies zu verhindern, ist eine Beschränkung auf Referenzen aus dem jeweiligen Ausschreibungsbezirk – wie aufgezeigt – indes nicht erforderlich, nicht verhältnismäßig und erst recht nicht geboten.“
Und später heißt es in demselben nunmehr rechtskräftigen Beschluss:
„Zwar habe die Antragstellerin mit dem Nachprüfungsantrag begehrt, dass das Vergabeverfahren in den Stand vor Versendung berichtigter Vergabeunterlagen zurückversetzt werde (mit der Folge, dass die Bieter neue Angebote einreichen könnten). Im Unterschied dazu sei in der Entscheidung lediglich eine Wiederholung der Angebotswertung hinsichtlich des Kriteriums V. (Bisherige Erfolge und Qualität) angeordnet worden. Da die Antragsgegnerin die zur Wertung des Kriteriums V. erforderlichen Tatsachen ihrem Statistiksystem COSACH entnehmen könne und allein eine Neubewertung dieses Wettungskriteriums entscheidungserheblich sei, genüge jedoch im Sinn eines verhältnismäßigen Eingriffs in das Vergabeverfahren, der Antragsgegnerin eine erneute Wertung der Angebote unter Einbeziehung der von der Antragstellerin im Arbeitsagenturbezirk Bamber-Coburg erreichten Eingliederungs- und/oder Abbruchquoten aufzugeben. Denn die Antragsgegnerin könne jene Quoten ohne Weiteres dem Statistiksystem COSACH entnehmen. Diese praxisorientierte, insbesondere dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechende Entscheidung verdient die Zustimmung des Senats.“
Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung für die Normen der nationalen Beschaffungsvorhaben hat sich die in der Diskussion befindliche „Unterschwellen- vergabeordnung“ (UVgO) in Gestalt des Entwurfs des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 31.08.2016 zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Vergabeverfahren grammatisch wie folgt dargestellt:
Im Übrigen gelten durch die verbale Angleichung der UVgO an die Oberschwellen- Terminologie die gleichen impliziten Anwendungsmöglichkeiten:
Aufgrund der abgegebenen Stellungnahmen der Wirtschafts- und Interessensverbände im Rahmen der Anhörungen zum Entwurf des Vergaberechtsmodernisierungsgesetz 2016, konnten weitestgehend positive Meinungsbilder zur Implementierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verifiziert werden[13]. Diese erwartungsvollen und bejahenden Positionierungen lassen für die Akzeptanz der noch zu beschließenden UVgO in dieser Frage Einvernehmen erahnen.
Das Jahr 2017 wird weitere Erkenntnisse in diesem Sachthema hervorbringen.
André Kühl ist Dozent an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Mannheim.
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