Reicht ein Bieter nach einem ersten Angebot innerhalb der Angebotsfrist ein weiteres Angebot ein, ist das in der Regel nicht als weiteres Hauptangebot, sondern als Angebot verbunden mit der stillschweigenden Rücknahme des zeitlich frühen Angebots auszulegen.
§§ 133, 157 BGB
Leitsatz
Sendet ein Bieter auf elektronischem Wege ein Hauptangebot und mit gewissem zeitlichem Abstand (hier: etwa zwei Stunden) kommentarlos eine weitere als Hauptangebot erkennbare Offerte, ist dies regelmäßig, wenn nicht besondere Umstände auf einen abweichenden Willen des Absenders hindeuten, dahin zu verstehen, dass das spätere Angebot an die Stelle des früher eingereichten treten soll, nicht aber, dass beide als Hauptangebot gelten sollen.
Sachverhalt
Die Klägerin beteiligte sich an einem offenen Verfahren zur Vergabe von Tischlerleistungen. Sie reichte vor Ablauf der Angebotsfrist an einem Tag elektronisch zwei Angebote ein, zunächst gegen 9 Uhr ein erstes Angebot und kommentarlos gegen 11 Uhr ein zweites Angebot. Beide Angebote unterschieden sich hinsichtlich der Angaben zum Nachunternehmereinsatz, das zweite Angebot war außerdem wegen umgekehrter Zuordnung des Einheitspreises bei zwei Positionen geringfügig teurer. Der Auftraggeber berücksichtigte bei der Wertung nur das zweite Angebot.
Da die Klägerin (auch) mit dem zweiten Angebot die Mindestbietende war, forderte der Beklagte sie zur Nachreichung fehlender Unterlagen auf und lud sie anschließend zu einem Aufklärungsgespräch. Eine Woche später hob der Auftraggeber das Vergabeverfahren mit der Begründung auf, dass alle Angebote die Kostenschätzung deutlich überschreiten würden. An dem auf die Aufhebung folgenden zweiten Vergabeverfahren, das mit dem Zuschlag endete, nahm die Klägerin nicht mehr teil.
Die Klägerin machte wegen der ihrer Meinung nach rechtswidrigen Aufhebung des ersten Vergabeverfahrens Schadensersatz geltend und verlangte das positive Interesse (entgangenen Gewinn), hilfsweise das negative Interesse (Kosten der Angebotserstellung). Das Landgericht sprach der Klägerin den entgangenen Gewinn zu. Das OLG Naumburg hielt die Aufhebung des ersten Vergabeverfahrens ebenfalls für rechtswidrig. Es ließ den auf das positive Interesse gerichteten Schadensersatzanspruch aber daran scheitern, dass die Klägerin wegen unzulässiger Abgabe von zwei Hauptangeboten nicht für den Zuschlag in Betracht kam. Das OLG wies die Schadensersatzklage daher bis auf die Kosten für die Angebotserstellung von ca. 60 Euro ab.
Die Entscheidung
Auf die Revision der Klägerin hebt der BGH das Berufungsurteil auf und stellt das erstinstanzliche Urteil wieder her. In den Entscheidungsgründen hebt der BGH maßgeblich darauf ab, dass entgegen dem Berufungsurteil das später eingereichte Angebot nicht als zweites Hauptangebot zu werten ist, sondern als Angebot verbunden mit der stillschweigenden Rücknahme des früheren Angebots. Für diesen objektiven Erklärungswert des Verhaltens der Klägerin, der nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln ist, sprechen zwei Indizien. Zum einen ist der Vorgang der Übersendung der beiden Angebote durch den Abstand von zwei Stunden nicht mehr als Einheit zu begreifen; damit fehlt das verbindende Element, das für den Wunsch, zwei Hauptangebote einreichen zu wollen, sprechen könnte. Zum anderen kann der fehlende Kommentar der Klägerin bei Übersendung des zweiten Angebots nicht dahingehend verstanden werden, dass beide Angebote parallel gelten sollen. Im Zweifel ist das Verhalten der Klägerin so zu interpretieren, dass zumindest ein wertungsfähiges Angebot erhalten bleibt.
Rechtliche Würdigung
Der BGH zeigt offen sein Unverständnis dafür, dass das OLG abweichend vom Verständnis beider Parteien im Vergabeverfahren die Angebote der Klägerin als zwei parallel geltende Hauptangebote gewertet hat. Das OLG argumentierte vor dem Hintergrund der Manipulationsmöglichkeiten des Bieters bei der Abgabe von mehreren Hauptangeboten im VOB/A-Verfahren, unterstellte der Klägerin also potentiell unlautere Absichten. Der BGH hält dem das für die Vergabestelle erkennbare Interesse des Bieters entgegen, der im Zweifel wenigstens ein wertungsfähiges Angebot einreichen will. Eine Auslegung, die diese Interessenlage ohne triftigen Grund übergeht, kann keinen Bestand haben.
Im Rahmen der nicht tragenden Urteilsgründe äußert der BGH außerdem Zweifel an der Prämisse des Berufungsurteils, wonach unabdingbare Voraussetzung für die Wertungsfähigkeit mehrerer Hauptangebote eines Bieters ist, dass sie sich (auch) technisch-inhaltlich unterscheiden. So lautet auch die Rechtsprechung mehrerer Vergabesenate (OLG Düsseldorf, B. v. 21.10.2015 VII-Verg 28/14; OLG München, B. v. 29.10.2013 Verg 11/13). Die vom OLG Naumburg beschworene abstrakte Manipulationsgefahr bei Zulassung mehrerer sich nur preislich unterscheidender Hauptangebote stuft der BGH als nicht schlagendes, da eher rechtspolitisch motiviertes Argument ein. Die Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von mehreren sich nur preislich unterscheidenden Hauptangeboten eines Bieters wird daher wohl in Bewegung geraten.
Das Geflecht aus GWB, VgV und VOB/A verstellt leicht den Blick dafür, dass das Vergabeverfahren seinem Wesen nach eine Vertragsanbahnungsphase ist, in der die Willenserklärungen der Beteiligten nach zivilrechtlichen Grundsätzen auszulegen sind. Bei dieser Auslegung darf sich die Vergabestelle nicht blind stellen für die Folgen, die für den Bieter daraus erwachsen. Im Zweifel muss die Vergabestelle die Auslegungsvariante wählen, die auch in ihren Konsequenzen den Interessen des Bieters gerecht wird.
Dr. Martin Kunde ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht bei Carl Hilger Becker & Partner Rechtsanwälte PartG mbB in Düsseldorf. Er berät Bieter und Auftraggeber im Vergaberecht und privaten Baurecht.
Ihr Praxistipp spricht mir aus der Seele. Vergaberecht ist kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck.