Unter welchen Voraussetzungen kann eine mangelnde Finanzierbarkeit ein schwerwiegender Grund im Sinne des Aufhebungsgrunds nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A darstellen? Und wie ist die vorausgehende Kostenschätzung rechtssicher durchzuführen?
Das OLG zeigt gut aufbereitet die Voraussetzungen der Aufhebung einer Aussschreibung bei mangelnder Finanzierbarkeit des Projekts nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A auf und wie eine verlässliche Kostenermittlung durchzuführen ist, damit die Finanzierungslücke nicht auf einem Fehler bei der Kostenermittlung beruht.
VOB/A 2016 § 17 EU Abs. 1 Nr. 3
Leitsatz
1. Die mangelnde Finanzierbarkeit eines Vorhabens kann ein schwerwiegender Grund i.S.d. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2016 sein.
2. Voraussetzung für eine Aufhebung wegen mangelnder Finanzierbarkeit ist das Vorliegen einer Finanzierungslücke, die nicht auf einen Fehler des Auftraggebers bei der Ermittlung des Finanzierungsbedarfs und der daran anschließenden Einwerbung der benötigten Mittel zurückzuführen ist.
2. Zu einer ordnungsgemäßen Ermittlung des Finanzierungsbedarfs gehört es, einen Sicherheitszuschlag auf das Ergebnis der sorgfältig geschätzten Kosten vorzunehmen. Die Höhe des Sicherheitszuschlags hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin plante den Abbruch der alten und den Neubau einer neuen Brücke. Den Abbruch und den Neubau der Brücke ohne Anschlussmaßnahmen teilte die Antragsgegnerin in vier Abschnitte ein:
Bau einer Betonwinkelstützwand/Lärmschutzwand (Teil 1),
Abbruch Überbau der Bestandsbrücke (Teil 2),
Abbruch Unterbauten (Teil 3)
Neubau der Brücke (Teil 4).
Mit Vergabebekanntmachung schrieb die Antragsgegnerin die Vergabe der Baumaßnahme europaweit im offenen Verfahren aus. Der Zuschlag sollte auf das Angebot mit dem niedrigsten Preis erfolgen. Innerhalb der Angebotsfrist gingen vier Angebote ein. Darunter auch das Angebot der Antragstellerin. Nach Öffnung der Angebote im Februar 2015 stellte sich heraus, dass alle vier Angebote in der Gesamtsumme über der Kostenschätzung der Antragsgegnerin lagen.
1. Ergebnis der Submission: Die Kostenschätzung wurde um über 12 % überschritten, daher Aufhebung des Verfahrens
Das auf dem ersten Rang liegende Angebot der Antragstellerin lag mit rd. 12 % über den geschätzten Gesamtkosten für die Teile 1 4. Für den Leistungsteil 2 und 3 lag das Angebot unter der Kostenschätzung. Hinsichtlich des Leistungsteils 1 lag der angebotene Preis mehr als 30 % über dem geschätzten Preis, bei Leistungsteil 4 betrug die Abweichung ca. 17 %.
Die Antragsgegnerin entschloss sich daraufhin, das Vergabeverfahren gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A EU aufzuheben, weil ihre Eigenkalkulation um 12 % überschritten wurde und keine weiteren Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden könnten. Sie unterrichtete die Bieter hierüber und kündigte an, die Ausschreibung mit einem planerisch wesentlich veränderten Brückenentwurf zu wiederholen. Die Antragsgegnerin entschloss sich in der Folgezeit für eine veränderte technische Lösung und schrieb neben dem Abbruch der alten Brücke den Neubau einer Schrägseilbrücke (anstelle einer Hängebrücke) aus. Den Zuschlag erhielt eine Bietergemeinschaft, deren Angebotspreis über den seinerzeit zur Verfügung gestellten Haushaltsmitteln lag.
Die Antragstellerin stellte Antrag auf ein Nachprüfungsverfahren. Sie hat geltend gemacht, die Antragsgegnerin sei zur Aufhebung des Verfahrens nicht berechtigt gewesen. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Aufhebungsgrundes haben nicht vorgelegen. Es mangele an einer ordnungsgemäßen Kostenschätzung, da die Antragsgegnerin es unterlassen habe, einen beträchtlichen Aufschlag auf die Kostenschätzung vorzunehmen. Zudem sei eine erhebliche Budgetüberschreitung zu fordern. Hieran fehle es vorliegend. Auch habe die Antragsgegnerin vor der Aufhebung die gegenseitigen Interessen nicht gegeneinander abgewogen.
Die Antragsgegnerin hat im Einzelnen zur Kostenschätzung von Teil 1 und 4 des Leistungsverzeichnisses vorgetragen. Als Referenzobjekte wurde ein Bauvorhaben aus dem Jahr 2009 und ein weiteres Bauprojekt herangezogen und die Preise entsprechend den konkreten Gegebenheiten angepasst. Für Teil 4 (Neubau) hätte als Vergleichsobjekt ein Bau aus dem Jahr 2014 gedient.
2. Beschluss der Vergabekammer: Sicherheitszuschlag von 10 % ist ausreichend?
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag als unbegründet zurückgewiesen. Die Kostenschätzung sei ordnungsgemäß erfolgt. Die Budgetüberschreitung rechtfertige vorliegend die Aufhebung der Ausschreibung. Die Rechtsprechung verlange zusätzlich zu den einzuplanenden Mitteln nach der Kostenschätzung weitere Mittel in Höhe eines kalkulatorischen Sicherheitszuschlags vorzuhalten. Diesem Erfordernis habe die Antragsgegnerin Rechnung getragen. Zwar habe sie den Sicherheitszuschlag nicht in der Kostenschätzung selbst ausgewiesen, wozu sie auch nicht verpflichtet sei. Sie habe ihn aber real bei der Frage der Finanzierbarkeit berücksichtigt, indem sie rein rechnerisch einen Zuschlag von 10 % in ihre Überlegungen einbezogen habe. Die Höhe des Sicherheitszuschlags sei im konkreten Fall vertretbar. Auch habe die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung, das Vergabeverfahren aufzuheben, die gebotene Interessenabwägung vorgenommen. Die im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens getroffene Entscheidung sei nach Ansicht der Kammer vertretbar und daher vergaberechtlich nicht zu beanstanden.
Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde.
Die Entscheidung
Das OLG nimmt einen Aufhebungsgrund für die Ausschreibung an. Es liege ein anderer schwerwiegender Grund im Sinne von § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A-EU a.F. an.
1. Rechtliche Erwägungen zu § 17 Abs. 1 VOB/A a.F.
Nach § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A-EU a.F. kann die Ausschreibung in drei Fällen aufgehoben werden:
1) wenn kein Angebot eingegangen ist (Nr. 1)
2) wenn die Vergabeunterlagen geändert werden müssen (Nr. 2) oder
3) wenn andere schwerwiegende Gründe bestehen (Nr. 3).
Die mangelnde Finanzierbarkeit des Vorhabens kann ein solcher schwerwiegender Grund sein.
Für die Feststellung des Vorliegens eines anderen schwerwiegenden Grundes bedarf es einer Interessenabwägung, für die die Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls maßgeblich sind (BGH, Beschluss v. 20.03.2014, X ZB 18/13).
Der Auftraggeber muss mit der gebotenen und ihm möglichen Sorgfalt prüfen, ob die Finanzierung für das Vorhaben ausreicht. Änderungen in der Finanzierung durch Überschreiten der bereitgestellten Haushaltsmittel können eine Aufhebung daher nur unter zwei Voraussetzungen rechtfertigen.
1) Die Umstände für eine mangelnde Finanzierung dürfen nicht vorhersehbar gewesen sein und
2) die Finanzierung darf nicht in unwesentlichem Umfang berührt sein.
Die Finanzierungslücke darf demzufolge nicht auf einen Fehler des öffentlichen Auftraggebers bei der Ermittlung des Finanzbedarfs und der daran anschließenden Zurverfügungstellung der benötigen Mittel zurückzuführen sein.
Nach Ansicht des OLG bestand zwar zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ausschreibung eine Finanzierungslücke. Diese beruhte aber nicht auf einem Fehler bei der Ermittlung des Finanzierungsbedarfs. Bei Aufhebung der Ausschreibung habe festgestanden, dass die Antragsgegnerin den notwendigen Betrag für den Auftrag weder aus eigenen Haushaltsmitteln bereitstellen, noch Fördermittel beanspruchen konnte.
2. Maßstäbe zur Kostenschätzung
Die Antragsgegnerin hat den Finanzierungsbedarf für den Neubau in ordnungsgemäßer Weise ermittelt. Die Kostenschätzung ist eine Prognose, die unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten in einer angemessenen und methodisch vertretbaren Weise erarbeitet werden muss. Dabei können lediglich die bei ihrer Aufstellung vorliegenden Erkenntnisse berücksichtigt werden, nicht jedoch solche Umstände, die erst im Nachhinein bei einer rückschauenden Betrachtung erkennbar und in ihrer Bedeutung ersichtlich werden.
Eine Prognose, die vorhersehbare Kostenentwicklungen unberücksichtigt lässt oder ungeprüft und pauschal auf anderen Kalkulationsgrundlagen beruhende Werte übernimmt, erfüllt diese Anforderungen nicht. Dies hat schon 1998 der BGH in seinem Urteil v. 08.09.1998, X ZR 99/96 festgestellt.
Der Gegenstand der Schätzung und der Gegenstand der ausgeschriebenen Maßnahme müssen deckungsgleich sein. Maßgeblich dafür sind im Ausgangspunkt die Positionen des Leistungsverzeichnisses, das der konkret durchgeführten Ausschreibung zu Grunde liegt. Das Ergebnis der Schätzung ist verwertbar, soweit sie mit diesem Leistungsverzeichnis übereinstimmt. Es ist anzupassen, soweit die der Schätzung zugrunde gelegten Preise oder Faktoren zur Bemessung des möglichen Preises im Zeitpunkt der Bekanntmachung des Vergabeverfahrens nicht mehr aktuell waren und sich nicht unerheblich verändert haben. So der BGH in seinem Urteil v. 20.11.2012, X ZR 108/10 und in seinem Urteil v. 05.11.2002, X ZR 232/00.
Die von der Antragsgegnerin anhand bepreister Leistungsverzeichnisse vorgenommene Kostenermittlung genüge nach Ansicht des OLG den Anforderungen und sei vertretbar. Die Antragsgegnerin hat bei Ihrer Schätzung das Alter der Angebote, die sie der Schätzung zugrunde gelegt hat, die Marktverhältnisse und bauliche Ähnlichkeiten oder Abweichungen berücksichtigt.
3. Sicherheitsaufschlag auf Kostenschätzung
Ein Sicherheitsaufschlag ist nach Ansicht des Gerichts notwendig.
Der öffentliche Auftraggeber kann nicht davon ausgehen, dass die Bieter die Kosten für den ausgeschriebenen Auftrag in gleicher Höhe oder niedriger als er selbst kalkulieren. Bei der Kostenermittlung handelt es sich um eine Schätzung. Die tatsächlichen Angebote in Vergabeverfahren weichen hiervon oft deutlich ab. Diesem Umstand muss der öffentliche Auftraggeber Rechnung tragen, indem er für die Ermittlung des Kostenbedarfs einen Aufschlag auf den sich nach der Kostenschätzung ergebenen Betrag vornimmt. So auch das OLG Celle in seinem Beschluss vom 10.03.2016, 13 Verg 5/15 und das OLG Celle in seinem Beschluss vom 13.01.2011 – 13 Verg 15/10.
a) Der Sicherheitsaufschlag kann in der Kalkulation, etwa in den veranschlagten Mengen und Einheitspreisen enthalten sein.
b) Er kann aber auch als prozentualer Aufschlag auf die Kostenschätzung ausdrücklich ausgewiesen sein.
In welcher Höhe ein Sicherheitsaufschlag vorzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Der BGH fordert in seinem Urteil vom 20.11.2012 (Az. X ZR 108/10) einen ganz beträchtlichen Aufschlag auf den sich nach der Kostenschätzung ergebenden Betrag. Das OLG Celle, im Beschluss v. 10.03.2016, 13 Verg. 5/15 spricht von max. 10 %.
Die Antragsgegnerin hat vorliegend einen über 10 %-igen Sicherheitsaufschlag auf die Kostenschätzung berücksichtigt. Über die 10 % hinaus weitere Reserve einzuplanen, also nach Ansicht der Antragstellerin bis zu 20 %, ist jedoch nach Ansicht des Gerichts nicht notwendig. Hierfür besteht bei einer ordnungsgemäßen Kostenschätzung keine Veranlassung. Vielmehr wäre bei einem Überschreiten einer ordnungsgemäßen Kostenschätzung zwischen 10 % und 20 % eher zu erwägen, ob überhaupt ein wirtschaftlich akzeptables Angebot vorliegt.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung zeigt nochmal deutlich, welche Voraussetzungen für eine Aufhebung insbesondere bei mangelnder Finanzierbarkeit vorliegen müssen.
Viel zu häufig werden gerade im Unterschwellenbereich Ausschreibungsverfahren aufgehoben, da der Auftraggeber keine zuverlässige Kostenschätzung durchführt, sondern veraltete Preise und Konditionen einplant und nicht selten durch die aktuellen Marktpreise dann völlig überrascht wird. Da es hier keinen dem Oberschwellenbereich vergleichbaren Rechtsschutz gibt, fühlt sich der Auftraggeber hier oft nicht in der Pflicht sorgfältiger zu planen.
Zu oft wird dann die Ausschreibung aufgehoben und im schlimmsten Fall noch anschließend freihändig vergeben.Diese Entscheidung, die die Voraussetzungen einer Aufhebung bei unzureichender Finanzierung aufzeigt, dient zur Klarstellung sowohl der Anforderungen an eine verlässliche Kostenschätzung im Vorfeld einer Ausschreibung, als auch der Voraussetzungen an eine Aufhebung im äußersten Fall.
Praxistipp
An die Auftraggeber daher die folgenden Tipps aus der Entscheidung:
a) Die Auftraggeber sollten aktuelle Preise am Markt abfragen und Kostenentwicklungen berücksichtigen.
b) Bei bereits vorliegenden Angeboten, aus vorherigen Verfahren, die zur Schätzung des Leistungsumfangs und der Preise zugrunde gelegt werden, sind veränderte Marktverhältnisse und aktuelle technische und bauliche Entwicklungen zu berücksichtigen.
c) Der Gegenstand der zur Grundlage der Schätzung herangezogen wird und der Gegenstand der Ausschreibung müssen deckungsgleich sein.
d) Es genügt nicht, wenn zwei oder drei bereits vorliegende ältere Unterlagen zugrunde gelegt werden. Es müssen alle verfügbaren Daten in einer methodisch angemessenen Weise ermittelt werden.
e) Ein Sicherheitsaufschlag von 10 % für nicht vorhersehbare Kostenentwicklungen ist einzupreisen. Ob dies in den veranschlagten Mengen und Einheitspreisen oder als Aufschlag geschieht, ist dabei unerheblich.
Judith Kutschera ist Rechtsanwältin bei S³ Schilli Schmidt Sozien Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Freiburg i.Br.. Sie ist auf das Vergaberecht und Baurecht spezialisiert und berät sowohl die öffentliche Hand als auch Bieter in allen Phasen des Vergabeverfahrens. Frau Kutschera hält regelmäßig Vorträge und Schulungen zum Vergaberecht. Vor Ihrer Tätigkeit bei S³ war Frau Kutschera mehrere Jahre als Syndikusrechtsanwältin in der Rechtsabteilung der ITEOS AöR, ebenso öffentlicher Auftraggeber und hat daher umfassende Erfahrung in der Begleitung von Vergabeverfahren.
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