Das Wort Mythos beschreibt nach seiner im Duden definierten Bedeutung eine Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung oder Ähnliches aus der Vorzeit eines Volkes. Die vergaberechtlich interessierten Kreise wird man, trotz aller Besonderheiten des Rechtsgebietes, (noch) nicht als eigenes Volk bezeichnen können. Dennoch weist das Vergaberecht jede Menge Überlieferungen und Dichtungen auf, deren Berechtigung von Zeit zu Zeit überprüft werden sollte. Auf den ersten Blick kommen diese Überlieferungen und Dichtungen häufig als nahezu unumstößliche Gewissheiten daher. Schaut man aber genau hin, sieht das Bild häufig anders aus. Ich will versuchen, einige solcher Mythen in meinen kommenden Beiträgen darzustellen und auf ihre vergaberechtliche Festigkeit abzuklopfen.
Einer dieser Mythen lautet wie folgt:
„Fällt das Ende der Stillhaltefrist nach § 134 Abs. 2 GWB auf einen Feier-oder Wochenendtag, endet sie auch an diesen Tag. Auf den nächsten Werk-/Arbeitstag kommt es nicht an. § 193 BGB findet keine Anwendung.“
Die Kommentarliteratur ist sich in dieser Sache einig.
(Maimann, in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, 5. Aufl. 2020, § 134 Rn. 49; Kühnen, in: Byok/Jaeger, 4. Aufl. 2018, § 134 Rn 38; Gnittke/Hatting, in: Müller-Wrede GWB, 1. Aufl. 2016, § 134 Rn. 97; Glahs, in: Reidt/Stickler/Glahs, 4. Aufl. 2018, § 134 Rn. 42; Dreher/Hoffmann, in: Burgi/Dreher GWB Band 1, 3. Aufl. 2017, § 134 Rn. 75; Zeiss, in: JurisPK-VergR, § 101a GWB Rn. 53).
Voilà, fertig ist die Laube. Die Sache ist eindeutig!?!
Mit der Fertigstellung der Laube und der Eindeutigkeit der Sache ist es aber nicht weit her, wenn man den Blick ins Detail wirft. Der Blick ins Detail offenbart vielmehr, dass kaum eine Kommentarstelle eine Be-gründung für die mit Gewissheit vorgetragene Auffassung bietet. Sämtliche Stellen beziehen sich mittel- oder unmittelbar auf eine Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 2008. Dort begründete der Senat den Ablauf der Stillhaltefrist an Feier- oder Wochenendtagen insbesondere damit, dass die direkte Anwendung des § 193 BGB deswegen nicht in Betracht komme, weil die Stillhaltefrist nach § 134 Abs. 2 GWB keine Frist für die Vornahme einer Handlung in Form der „Abgabe einer Willenserklärung“ bzw. „des Bewirkens einer Leistung“ i.S.d § 193 BGB sei. § 193 BGB gelte aber nicht für Fälle, in denen innerhalb einer Frist keine Willenserklärung abzugeben oder Handlung vorzunehmen sei, sondern ausschließlich eine Rechtswirkung eintrete. Das sei bei der Stillhaltefrist der Fall, weil nach ihrem Ablauf lediglich die Rechts-wirkung eintrete, dass das Zuschlagsverbots entfalle und der Zuschlag ohne die Unwirksamkeitsfolge erteilt werden könne (OLG Düsseldorf, B. v. 14.05.2008 – Verg 11/08; so auch: VK Sachsen-Anhalt, B. v. 21.06.2018 – 1 VK LSA 13/18).
Diese Begründung ist jedoch spätestens seit der Vergaberechtsreform 2016 nicht mehr vertretbar. Der Gesetzgeber selbst sieht die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB spätestens seit 2016 nicht als bloße „Stillhaltezeit“ des Auftraggebers an, die unabhängig von den allgemeinen gesetzlichen Fristenregelungen schlicht abläuft. Vielmehr schützt die Stillhaltefrist den unterlegenen Bieter vor dem drohenden Vertrags-schluss mit dem für den Zuschlag vorgesehenen Mitbieter. Der unterlegene Bieter erhält damit nochmal eine Bedenk- und Prüfzeit, um zu entscheiden, ob er vor der Zuschlagserteilung noch einen Nachprü-fungsantrag einreicht. Folglich spricht der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung zum § 134 GWB bei der Stillhaltefrist von einer „Mindestüberlegungsfirst“ zum Schutz des unterlegenen Bieters (BT-Drucks. 18/6281, S. 135).
Auf diese „Mindestüberlegungsfrist“ ist § 193 BGB unmittelbar anwendbar. Der unterlegene Bieter muss innerhalb dieser Frist nach erfolgter Prüfung der Rechtslage und Überlegung zum weiteren Vorgehen eine Handlung vornehmen bzw. eine Willenserklärung abgeben. Diese Handlung bzw. Willenserklärung ist die Einreichung des Nachprüfungsantrags, mit dem der unterlegene Bieter seinen Willen erklärt, bestimmte Vorgänge innerhalb des Vergabeverfahrens der Nachprüfung zu unterstellen und den Zuschlag an den Mitbieter deswegen nicht akzeptieren zu wollen. Die Stillhaltefrist läuft daher nicht einfach ab, sodass an ihrem Ende nur das Zuschlagsverbot entfällt. Der unterlegene Bieter muss innerhalb dieser Frist vielmehr auch eine Entscheidung treffen und danach handeln. Um ihn für diese Entscheidung jedoch die vom § 134 Abs. 2 GWB vorgesehene Zeit ungeschmälert zu belassen, ist § 193 BGB unmittelbar anzuwenden.
Die Idee der Stillhaltefrist als „Mindestüberlegungsfrist“ vertritt spätestens seit 2014 (mithin schon zur alten Rechtslage vor 2016) auch das von der Kommentarliteratur zitierte OLG Düsseldorf in seinen Entscheidungen zur unzumutbaren Verkürzung der Stillhaltefrist durch die Verteilung der Stillhaltetage über die Feier- und Wochenendtage. Dort spricht der Senat von der Stillhaltefrist als „Überprüfungsfrist“ vor der Einreichung des Nachprüfungsantrags, deren Verkürzung durch die Wahl des Zeitpunktes der Bieterinformation in Ansehung der Feiertage und der Wochenenden objektiv und unmittelbar zu einer drastischen Erschwerung des effektiven Rechtsschutzes für den unterlegenen Bieter führe (OLG Düsseldorf, B. v. 05.11.2014 – Verg 20/14).
Um den unterlegenen Bietern die volle Länge der Überprüfungsfrist ungeschmälert zu erhalten, lehnt das OLG Düsseldorf es sogar ab, die Stillhaltefrist als in Gang gesetzt anzusehen, wenn sie durch das geschickte Legen über die Feier- und Wochenendtage faktisch auf wenige Tage verkürzt wurde. Dazu das OLG Düsseldorf in 2017:
„Im Fall einer derartigen faktischen und von der Vergabestelle in Kenntnis der Umstände vorgenommenen Verkürzung der Wartefrist und zugleich der dem Antragsteller zur Verfügung stehenden Überprüfungsfrist, wird – um im Einklang mit der EU-Rechtsmittelrichtlinie die praktische Wirksamkeit der Rechtsschutzvorschriften des GWB zu gewährleisten die Wartefrist des § 101a GWB a.F, nicht in Gang gesetzt und kann – auf den zwischenzeitlich rechtshängig gewordenen und dem Auftraggeber bekannt gegebenen Nachprüfungsantrag – ein Zuschlag ohne Verstoß gegen das gesetzliche Zuschlagsverbot des § 115. Abs. 1 GWB a.F. nicht ergehen.“ (OLG Düsseldorf, B. v. 05.10.2016 – Verg 24/16)
Das OLG Düsseldorf geht damit jedenfalls seit 2014 selbst davon aus, dass die Stillhaltefrist nicht einfach abläuft und das Zuschlagsverbot entfallen lässt. Vielmehr ist auch der Senat der Auffassung, dass die Stillhaltefrist dem unterlegenen Bieter dazu dient, die Rechtslage zu prüfen und ggf. die notwendige Handlung und Willenserklärung für den Vergaberechtschutz in Gestalt des Nachprüfungsantrags vorzunehmen. Die von der Kommentarliteratur bemühte Begründung für die Nichtanwendbarkeit des § 193 BGB aus der Entscheidung von 2008 (OLG Düsseldorf, B. v. 14.05.2008 – Verg 11/08) ist damit hinfällig. Der Senat würde ‑ wenn er es heute zu entscheiden hätte – diese Auffassung höchstwahrscheinlich nicht vertreten. Andernfalls könnte er auch nicht nachvollziehbar begründen, warum er einerseits eine Verkürzung der Stillhaltefrist nicht zulässt, wenn der Verlauf der Stillhaltefrist geschickt über die Feier- und Wochenendetage gelegt wird, aber andererseits eine Verkürzung im gleichen Atemzug akzeptieren möchte, wenn der Wochenend- und/oder Feiertag sich am Ende der Stillhaltefrist befindet. Die Bewertung des Sachverhaltes kann nicht davon abhängen, ob die Feier- und Wochenendtage im Verlauf der Stillhaltefrist oder an deren Ende liegen. Schon um diesen Wertungswiderspruch zu vermeiden, endet die Stillhaltefrist daher nicht an einem Feier- oder Wochenendtag, sondern nach § 193 BGB am nächsten Werktag.
Doch selbst, wenn man die Anwendung des § 193 BGB immer noch ablehnen sollte, muss man jedenfalls nach der inhaltsgleichen Regelung des Art. 3 Abs. 4 der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 zu dem Ergebnis kommen, dass die Stillhaltefrist nicht an einem Feier- oder Wochenendtag abläuft, sondern dafür alleine der nächste Werk-/ Arbeitstag maßgeblich ist. Art. 3 Abs. 4 der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 ist auf § 134 Abs. 1 GWB anzuwenden, weil diese Vorschrift der Umsetzung des Art. 2a Abs. 2 der Richtlinie 2007/66/EG (Rechtsmittelrichtlinie) dient. Die Rechtsmittelrichtlinie ihrerseits unterliegt hinsichtlich der Frage der Fristberechnung den Regelungen der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71, weil diese Verordnung nach ihrem Art 1 und den dazugehörigen Erwägungsgründen den Anspruch erhebt „einheitliche allgemeine Regeln“ für die Fristen, Daten oder Termine in den von der Kommission und dem Rat erlassenen bzw. noch zu erlassenden Rechtsakten festzulegen. Einer dieser Rechtsakte nach Art 1 der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 ist eben auch die Rechtsmittelrichtlinie von 2007. Diese enthält folglich auch keine Regelung über die Berechnung der Frist. Braucht sie auch nicht, denn die Regeln für die Fristberechnung sind in der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71, die unverändert für alle Rechtsakte des EU gilt, verbindlich vorgegeben. Dass die letztgenannte Verordnung die Regeln der Fristberechnung für alle EU-Rechtsankte regelt, wird auch durch einen Blick in den Erwägungsgrund Nr. 106 der Richtlinie 2014/24/EU (Vergaberichtlinie) bestätigt. Dort heißt es deklaratorisch:
„Es sei darauf hingewiesen, dass die Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 des Rates (18) vom 3. Juni 1971 für die Berechnung der Fristen in der vorliegenden Richtlinie gilt.“
Über diesen Hinweis hinaus, enthält die Vergaberichtlinie keine Regelung zur Fristberechnung. Muss sie auch nicht, denn Sinn der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 ist es eben, die Frage der Firstberechnung für alle EU-Rechtsakte einheitlich zu regeln. Der Hinweis im Erwägungsgrund Nr. 106 ist als bloßer Erinnerungsposten für den Verordnungsanwender zu verstehen, damit er sich in Erinnerung ruft, wonach sich die Fristberechnung richtet. Die Rechtsmittelrichtlinie stellt innerhalb dieses Regelungsgefüges keine Ausnahme dar. Hätte der EU-Gesetzgeber eine von der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 abweichende Fristenregelung extra für die Rechtsmittelrichtlinie erlassen wollen, hätte er dies ausdrücklich in der Richtlinie zum Ausdruck bringen müssen. Die Normierung abweichender Fristberechnungsvorschriften ist in Art. 1 Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 ausdrücklich vorgesehen. Der Umstand, dass die Rechtsmittelrichtlinie auf die Regelung einer abweichenden Fristbemessungsregelung verzichtet, ist dahingehend zu verstehen, dass auch im Rahmen der Rechtsmittelrichtlinie für die Fragen der Fristberechnung die Regelungen der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 verbindlich gelten.
Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass der hiesige Mythos einer kritischen Überprüfung nicht standhält. Die Stillhaltefrist läuft aus den benannten Gründen nach § 193 BGB bzw. Art. 3 Abs. 4 der Verordnung (EWG, EURATOM) Nr. 1182/71 eben doch nicht an einem Feier- oder Wochenendtag, sondern erst am nächsten Arbeits-/Werktag ab.
Anes Kafedzic
Anes Kafedžić ist Rechtsanwalt bei LANGWIESER RECHTSANWÄLTE Partnerschaft mbB. Das Tätigkeitsspektrum von Herrn Kafedžić umfasst die gesamte Bandbreite des Vergaberechts. Im Rahmen dessen berät er seine Mandanten bei der Vorbereitung und Durchführung von Ausschreibungen sowie bei der Erstellung von Angeboten. Darüber hinaus übernimmt er die Vertretung seiner Mandanten in vergaberechtlichen Rechtschutzverfahren sowie bei der Durchsetzung und Abwehr von Ansprüchen vergaberechtlichen Ursprungs, z.B. Schadensersatz- und Akteneinsichtsansprüche.
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