Wie ist der Auftragswert bei Bauprojekten zu ermitteln, die aus mehreren Abschnitten bestehen? Müssen die Auftragswerte der einzelnen Abschnitte bei der Auftragswertberechnung addiert werden, oder dürfen diese als separate Aufträge betrachtet werden? Diese Frage stellt die Vergabepraxis immer wieder vor Herausforderungen. Das OLG Schleswig hat in einer Entscheidung vom Anfang des Jahres hilfreiche Feststellungen hierzu getroffen.
§§ 3, 8 VgV
Leitsatz
- Bei der Schätzung des Auftragswerts ist von dem voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen.
- Was zu dem Auftrag, dessen Wert zu schätzen ist, gehört, ist anhand einer funktionalen Betrachtungsweise zu ermitteln. Bevor eine Aufteilung in verschiedene Aufträge erfolgen darf, sind organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche und technische Zusammenhänge zu berücksichtigen. Ein einheitlicher Auftrag ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag.
- Besteht zwischen zwei Bauvorhaben kein so enger Zusammenhang, dass der eine Komplex nicht ohne den anderen genutzt werden kann, führt die damit mögliche getrennte funktionale Nutzung zu der Annahme verschiedener Vorhaben.
- Die Auftragswertschätzung muss dokumentiert werden, und zwar um so genauer, je mehr sich der Auftragswert dem Schwellenwert nähert.
- Eine unterlassene Dokumentation kann – sogar noch im Beschwerdeverfahren – durch die Übergabe von Unterlagen geheilt werden, aus denen sich die Kosten des Vorhabens ergeben.
Sachverhalt
Die Auftraggeberin betreibt ein Messegelände. Im Jahr 2009 hatte die Auftraggeberin ein Vorhaben zur Modernisierung und Erweiterung des Geländes mit einem geschätzten Bauvolumen von 24 Mio. Euro begonnen, welches im Jahr 2015 abgeschlossen wurde. Dieses Vorhaben sah zunächst kein Kongresszentrum vor. Eine Potenzialanalyse für ein Kongresszentrum gab die Auftraggeberin erst im Jahr 2016 in Auftrag.
Für den beabsichtigen Neubau und die Erweiterung des Kongresszentrums schrieb die Auftraggeberin dann im Jahr 2020 unter anderem als Teilleistung einen Auftrag „Mobile Trennwandanlagen“ aus. Der Auftragswert für dieses Vorhaben lag nach Einschätzung der Auftraggeberin zwar unter dem EU-Schwellenwert. Sie führte jedoch mit Blick auf erhaltene Fördermittel trotzdem eine europaweite Ausschreibung durch.
Nach der Prüfung der Angebote informierte die Auftraggeberin die spätere Antragstellerin über die beabsichtigte Zuschlagserteilung auf das Angebot eines anderen Bieters. Diese rügte die beabsichtigte Zuschlagserteilung unter anderem mit der Begründung, dass das für den Zuschlag vorgesehene Angebot eine Mindestanforderung nicht erfülle. Nach erfolgloser Rüge leitete die Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren bei der Vergabekammer Schleswig-Holstein ein.
Die Vergabekammer verwarf den Nachprüfungsantrag als unzulässig, da der Rechtsweg mangels Erreichen des Schwellenwerts nicht eröffnet sei. Nach Ansicht der Vergabekammer war allein auf das im Jahr 2020 ausgeschriebene Vorhaben „Neubau und Erweiterung des Kongresszentrums“ abzustellen, welches nicht den EU-Schwellenwert erreichte. Das im Jahr 2009 begonnene Vorhaben „Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes“ sei hingegen bereits im Jahr 2015 abgeschlossen gewesen und somit nicht bei der Auftragswertberechnung zu berücksichtigen.
Gegen diese Entscheidung der Vergabekammer legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde beim OLG Schleswig ein.
Die Entscheidungsdarstellung:
Der Vergabesenat des OLG Schleswig bestätigte die Entscheidung der Vergabekammer.
1. Grundsätze zur Auftragswertschätzung bei Bauvorhaben
Er arbeitete zunächst heraus, dass bei der Schätzung des Auftragswerts von dem voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen sei.
Insoweit stellte der Vergabesenat auf den funktionalen Auftragsbegriff ab, nach dem organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche und technische Zusammenhänge zu berücksichtigen sind, um zu bestimmen, ob ein einheitlicher Auftrag, oder aber mehrere Aufträge vorliegen. Ein einheitlicher Auftrag sei insbesondere dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen Teil keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag (vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.06.2019 – Verg 52/18). In diesem Zusammenhang seien zudem auch räumliche und zeitliche Zusammenhänge von Bedeutung.
2. Kein einheitlicher Auftrag im vorliegenden Fall
Anknüpfend an diese Grundsätze lagen nach Ansicht des Vergabesenats verschiedene Aufträge vor, deren Auftragswerte somit nicht addiert werden mussten.
Zwar bestünden zweifellos organisatorische, räumliche und inhaltliche Zusammenhänge zwischen den Messehallen und dem Kongresszentrum, da diese auf demselben Gelände betrieben würden. Unter anderem würden messebegleitend zudem häufiger Kongresse abgehalten, sodass die Schaffung des Kongresszentrums der Stärkung des Messebetriebes diente.
Der Vergabesenat ging jedoch trotz dieser Zusammenhänge von verschiedenen Aufträgen aus und begründete dies zum einen mit funktionalen Gründen, zum anderen mit dem zeitlichen Aspekt.
a) Funktionale Gründe
In funktionaler Hinsicht bestehe kein so enger Zusammenhang, dass der eine Komplex nicht ohne den anderen genutzt werden könne. So können Messen ohne Nutzung des Kongresszentrums und Kongresse ohne Nutzung der Messehallen abgehalten werden. Diese getrennte funktionale Nutzbarkeit führt nach Ansicht des Vergabesenats zum Vorliegen verschiedener Vorhaben.
b) Zeitlicher Aspekt
Ergänzend begründet der Vergabesenat dieses Ergebnis damit, dass dem Auftraggeber die Aufteilung von Aufträgen mit sachlicher Begründung möglich sei. Dafür, ob der Auftraggeber den ihm insoweit zustehenden Spielraum einhält, sei ausschlaggebend, ob in der Aufteilung in verschiedene Aufträge eine Umgehung nach § 3 Abs. 2 VgV zu sehen sei. Solch eine Umgehung kann unter anderem vorliegen, wenn der Bedarf für die Vorhaben gleichzeitig bekannt wird. Eine Umgehung sei dagegen nicht erkennbar, wenn verschiedene Maßnahmen zeitlich getrennt geplant würden.
Eine solche zeitliche Zäsur lag hier nach Auffassung des Vergabesenats vor. Der Bedarf für die Ausweitung des Konferenzbetriebes zeigte sich erst im Jahr 2016. Die Planungen für die im Jahr 2009 begonnene Modernisierung und Erweiterung der Messehallen hatten hingegen noch kein Kongresszentrum vorgesehen.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des OLG Schleswig überzeugt.
1. Funktionale Gründe
Der Vergabesenat knüpft an die zum funktionalen Auftragsbegriff bereits ergangene obergerichtliche Rechtsprechung an. In der Vergangenheit hat beispielsweise das OLG Rostock entschieden, dass komplexe Bauvorhaben, die in verschiedenen Phasen realisiert werden, kein Gesamtbauwerk darstellen, wenn die unterschiedlichen baulichen Anlagen ohne Beeinträchtigung ihrer Vollständigkeit und Benutzbarkeit auch getrennt voneinander errichtet werden könnten (OLG Rostock, Beschl. v. 20.09.2006 – 17 Verg 8/06).
Dasselbe gilt etwa, wenn einzelne Bauabschnitte einer Entlastungsstraße in verkehrstechnischer Hinsicht jeweils eine sachgerechte Nutzung durch die Verkehrsteilnehmer ermöglichen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.08.2002 – Verg W 4/02).
An diese Rechtsprechung anknüpfend arbeitet das OLG zutreffend heraus, dass aufgrund der möglichen getrennten Nutzung des Messegeländes und des Kongresszentrums von unterschiedlichen Aufträgen auszugehen ist.
2. Zeitlicher Aspekt
Auch der ergänzende Rückgriff auf die zeitliche Komponente ist überzeugend. Da offensichtlich gewisse Zusammenhänge zwischen der Nutzung des Messegeländes und des Kongresszentrums bestehen, ist es sinnvoll, die zeitliche Zäsur zwischen den beiden Vorhaben in die Bewertung miteinzubeziehen um klarzustellen, dass die getrennte Betrachtung der Vorhaben nicht etwa auf einer Umgehungsabsicht, sondern auf sachlichen Gründen beruht.
Ein klassisches Beispiel für eine vergaberechtswidrige künstliche Unterteilung eines Auftrags führte zu der „Autalhalle“-Entscheidung des EuGH. In diesem Fall hatte der Auftraggeber die Leistungen für die Sanierung einer Mehrzweckhalle in drei einzelne Verträge aufgeteilt und deren Auftragswerte nicht addiert (EuGH, Urt. v. 15.03.2012 – Rs. C-574/10).
Praxistipp
Insgesamt liefert die Entscheidung hilfreiche Anhaltspunkte für die Vergabepraxis, um bei der Auftragswertschätzung die anspruchsvolle Einschätzung zu treffen, ob ein einheitlicher Auftrag oder aber getrennte Aufträge vorliegen.
In erster Linie sollte auf den funktionalen Zusammenhang abgestellt werden. Eine zeitliche Zäsur zwischen einzelnen Baumaßnahmen führt häufig allein noch nicht zu einer Getrenntbetrachtung bei der Auftragswertschätzung. Beziehen sich zeitlich versetzte Maßnahmen beispielsweise auf dasselbe Gebäude, das lediglich in mehreren Bauabschnitten saniert wird (wie dies häufig bei Schulen, Kliniken oder Verwaltungsgebäuden der Fall ist), wird man also von einem einheitlichen Auftrag ausgehen müssen.
Auftraggeber sollten die Auftragswertschätzung bei Bauvorhaben stets sorgfältig prüfen und ihre Entscheidung in jedem Fall gut dokumentieren.
Lars Lange, LL.M. (Kopenhagen)
Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei der Morgenstern Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Hamburg. Er berät Auftraggeber und Bieter zu sämtlichen Aspekten des Vergaberechts
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