Für Auftragsvergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte existiert kein mit dem Nachprüfungsverfahren nach den §§ 155 ff. GWB vergleichbar effektives System für Primärrechtsschutz. In seinem Beschluss vom 11. Oktober 2021 wirft das OLG Zweibrücken ein Schlaglicht auf zwei zentrale Hürden, die ein Bieter nehmen muss, wenn er bei Unterschwellenvergaben die Zuschlagserteilung vorläufig bis zur Überprüfung des geltend gemachten Vergaberechtsverstoßes verhindern will.
§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 280 BGB
Leitsätze (nicht amtlich)
1. Spezielle landesrechtliche Möglichkeiten zur Nachprüfung von Vergabeverfahren schließen die Anrufung der ordentlichen Gerichte aus.
2. Auch im Unterschwellenbereich müssen Bieter erkannte oder erkennbare Vergaberechtsverstöße umgehend rügen.
Sachverhalt
Der Auftraggeber schreibt einen Bauauftrag im Unterschwellenbereich aus. Bei der Prüfung des Angebots des Klägers fällt dem Auftraggeber auf, dass die Einrichtung und das Räumen der Baustelle anteilig rund 1/3 des Gesamtpreises der unter dem Titel Straßenbau zusammengefassten Leistungen ausmacht. Um zu klären, ob eine unzulässige Mischkalkulation vorliegt, lädt der Auftraggeber den Kläger zu einem Bietergespräch.
Zwei Tage nach Bietergespräch teilt der Auftraggeber dem Kläger mit, dass sein Angebot wegen einer Mischkalkulation und spekulativer Angebotspreise ausgeschlossen werde. Ferner informiert der Auftraggeber dem Kläger über den Termin der beabsichtigten Zuschlagserteilung an einen anderen Bieter.
9 Kalendertage nach dem Bietergespräch rügt der Kläger den Ausschluss seines Angebots. Der Auftraggeber weist die Rüge des Klägers zurück. Daraufhin leitet der Kläger ein einstweiliges Verfügungsverfahren vor dem Landgericht ein. Zunächst erlässt Landgericht ohne mündliche Verhandlung eine einstweilige Verfügung, mit der dem Auftraggeber die Zuschlagserteilung untersagt wird. Auf den Widerspruch des Auftraggebers hebt das Landgericht die einstweilige Verfügung aber wieder auf. Hiergegen legt der Kläger Berufung ein.
Die Entscheidung
Das OLG Zweibrücken weist die Berufung einstimmig durch Beschluss zurück. Das Rechtsmittel habe offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
Rechtliche Würdigung
Nach Auffassung des OLG Zweibrücken ist der Verfügungsantrag bereits unzulässig. Das Landgericht sei bereits nicht für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig gewesen. Zum 1. Juni 2021 sei die rheinland-pfälzische Landesverordnung über die Nachprüfung von Vergabeverfahren durch Vergabeprüfstellen in Kraft getreten. Eine vergabespezifische Nachprüfungsmöglichkeit nach Landesrecht schließe das Recht auf Anrufung eines Zivilgerichts grundsätzlich aus. Die Landesverordnung sei auch auf zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens laufende Verfahren anwendbar.
Zudem habe der Kläger seine Rügeobliegenheit verletzt. Auch bei Auftragsvergaben im Unterschwellenbereich seien Bieter gehalten, erkannte oder erkennbare Vergaberechtsverstöße umgehend zu rügen. Die Rügeobliegenheit ergäbe sich aus den Sorgfalts- und Schutzpflichten aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis, das mit der Teilnahme an dem Ausschreibungsverfahren entstehe. Spätestens durch das Bietergespräch habe der Kläger Kenntnis aller maßgeblichen Umstände gehabt. Er habe den Ausschluss des Angebots nicht unverzüglich und nicht innerhalb der in der Landesverordnung festgelegten Frist von 7 Kalendertagen gerügt.
Zudem bestehe auch kein Verfügungsanspruch. Dem Angebot des Klägers liege eine Mischkalkulation zugrunde. Das Angebot sei daher auszuschließen.
Praxistipp
Die Durchsetzung von Primärrechtsschutz im Unterschwellenbereich bleibt für Bieter ein schwieriges und risikoträchtiges Unterfangen. Bislang haben nur Sachsen, Sachsen-AnhaIt, Thüringen, Rheinland-Pfalz und Hessen ein landesrechtliches Primärrechtsschutzsystem für Bieter in Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte eingeführt. In den anderen Bundesländern gibt es für den Unterschwellenbereich bislang keine speziellen landesrechtlichen Bestimmungen, auf deren Grundlage sich Bieter gegen Vergaberechtsverstöße zur Wehr zu setzen können. Primärrechtsschutz lässt sich dann allenfalls über einen auf vorläufige Untersagung der Zuschlagserteilung gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor den ordentlichen Gerichten erreichen.
Die Entscheidung des OLG Zweibrücken wirft ein Schlaglicht auf zwei zentrale Hürden, die ein Bieter bei einem Antrag auf Primärrechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten nehmen muss.
Zunächst zeigt der Beschluss auf, dass der Bieter prüfen muss, ob ihm das jeweils anwendbare Landesrecht besondere Möglichkeiten zur Geltendmachung von vergaberechtlichem Primärrechtsschutz gewährt. Jedenfalls nach Auffassung des OLG Zweibrücken schließen landesrechtliche Nachprüfungsmöglichkeiten die Möglichkeit eines Verfügungsantrags generell aus. Soweit es eine landesrechtliche Nachprüfungsmöglichkeit gibt, ist zu beachten, dass die landesrechtlichen Rechtschutzsysteme beispielsweise in Bezug auf ihren Anwendungsbereich oder hinsichtlich der Dauer des Suspensiveffekts des Antrags unterschiedlich ausgestaltet sind. Auch die Zuständigkeiten unterscheiden sich. In Sachsen-Anhalt und Thüringen sind die Vergabekammern zuständig. In Sachsen ist die Aufsichtsbehörde des Auftraggebers zuständig bzw. bei kreisangehörigen Gemeinden und Zweckverbänden die Landesdirektion Sachsen. Rheinland-Pfalz hat eine spezielle Vergabeprüfstelle beim Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz eingerichtet. In Hessen sind die Vergabekompetenzstellen zuständig, die bei Hessen Mobil, der OFD Frankfurt am Main und den Regierungspräsidien eingreichtet sind. In dem vom OLG Zweibrücken entschiedenen Fall hatte der Bieter zudem das besondere Pech, dass die landesrechtliche Nachprüfungsmöglichkeit während des laufenden einstweiligen Verfügungsverfahrens vor dem Zivilgericht in Kraft trat.
Ferner unterstreicht der Beschluss, dass der Bieter auch außerhalb des GWB-Vergaberegimes erkannte und erkennbare Vergaberechtsverstöße zeitnah rügen muss. Das OLG Zweibrücken legt hier einen überaus strengen Maßstab an. Es lässt eine 9 Kalendertage nach dem Bietergespräch erhobene Rüge nicht ausreichen, obwohl dem Bieter der Ausschluss seines Angebots wohl erst zwei Kalendertage nach dem Bietergespräch überhaupt erst definitiv mitgeteilt wurde. Knüpft man den Fristbeginn an die Ausschlussmitteilung, wäre die 7-Tages-Frist der Landesverordnung gewahrt gewesen. Hätte sich das OLG an der 10-Tages-Frist nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr.1 GWB orientiert, wäre die Rüge erst Recht noch rechtzeitig erhoben gewesen.
Die größte Hürde für die Durchsetzung des Primärrechtsschutzes im Unterschwellenbereich bleibt die zumeist fehlende Pflicht des Auftraggebers, den Bieter vor der Zuschlagserteilung über die Auswahl des erfolgreichen Bieters zu informieren und eine angemessene Zeit bis zur Zuschlagserteilung abzuwarten. Eine generelle Informations- und Wartepflicht entsprechend § 134 GWB besteht im Unterschwellenbereich nicht (KG Berlin, Urteil v. 7.1.2020 9 U 79/19; OLG Celle, Urteil v. 9.1.2020 13 W 56/19; aA OLG Düsseldorf, Beschluss v. 13.12.2017 27 U 25/17). Landesrechtliche Regelungen zu Informations- und Wartepflichten vor Zuschlagserteilung gibt es nur in einigen Bundesländern. Gelingt es dem Bieter nicht, das Vergabeverfahren vor Erteilung des Zuschlags durch eine einstweilige Verfügung vorerst zu stoppen, bleibt ihm nur die Geltendmachung von etwaigen Schadensersatzansprüchen.
Dr. Tobias Schneider
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
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