Die Vergabekammer Westfalen sieht eine fehlende Preisgleitklausel bei Rohbauarbeiten aufgrund der jüngsten Entwicklungen beim Stahlpreis als unkalkulierbares Wagnis an. Die Tendenz in der Rechtsprechung der Vergabekammern verdichtet sich damit weiter: Öffentliche Auftraggeber müssen bei bestimmten Stoffen, deren Marktpreis derzeit einer besonders hohen Schwankung unterliegt, Preisgleitklauseln vorgeben, um den Bietern eine Angebotsabgabe zu ermöglichen.
§ 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A
[…] Ob eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation unzumutbar ist, bestimmt sich nach dem Ergebnis einer Abwägung aller Interessen der Bieter bzw. Auftragnehmer und des öffentlichen Auftraggebers im Einzelfall (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.04.2021 – Verg 1/20)
Erst dann, wenn das aufgebürdete Wagnis über die üblichen Risiken hinausgeht, sich nicht abschätzen lässt und demzufolge eine Kalkulation unmöglich macht, kann gegen das Gebot des § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2019 verstoßen werden (vgl. statt vieler und jüngst: OLG Düsseldorf, a.a.O.). Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O., sowie Beschluss vom 09.07.2003 – Verg 26/03 m.w.N.). Unbeachtlich ist insoweit, ob das Wagnis vom Auftraggeber selbst oder weder von ihm noch dem Auftragnehmer beherrschbar ist (vgl. VK Brandenburg, Beschluss vom 30.09.2008, VK 30/08).
Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb im Januar 2022 EU-weit Rohbauarbeiten für die Sanierung eines Polizeipräsidiums aus. Die Angebotsfrist endete am 4. März 2022. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar entwickelten sich insbesondere die Stahlpreise stark schwankend.Ein in der Angebotswertung ausgeschlossenes Unternehmen macht im Wege des Nachprüfungsverfahrens unter anderem geltend, dass die Entwicklungen auf dem Stahlmarkt eine Angebotskalkulation ohne Preisgleitklausel unmöglich machten. Die Preisentwicklungen in der Zeitspanne zwischen Angebotsabgabe und möglicher Zuschlagserteilung bzw. Materialbestellung seien aufgrund der derzeitigen Marktsituation nicht kalkulierbar und stellten damit ein ungewöhnliches Wagnis dar.
Die Vergabekammer gab dem Bieter recht. Sie betont in ihrer Entscheidung, dass es nicht unzulässig sei, den Bietern generell Wagnisse aufzuerlegen. Entscheidend sei, ob die Grenze des „gewöhnlichen“ überschritten sei. Dies sei aufgrund der nicht absehbaren Entwicklungen bei Materialpreisen, ausgelöst durch die Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, der Fall. Die zu erwartenden Preissteigerungen ließen sich nicht mehr kaufmännisch vernünftig prognostizieren und könnten daher von Unternehmen nicht einkalkuliert werden.
Im Ergebnis hält die Vergabekammer Westfalen ebenso wie jüngst die Vergabekammer Thüringen (Beschl. v. 03.06.2022; vgl. ) in bestimmten Konstellationen Bauvergaben ohne Stoffpreisgleitklausel für unzulässig.Gerade dann, wenn in größerem Umfang Materialien verarbeitet werden, die derzeit am Markt großen preislichen Schwankungen unterliegen, erscheint diese Auffassung sachgerecht.
Bietern wird es in solchen Fällen nicht mehr möglich sein, die Preisentwicklungen für den Zeitraum bis zur Zuschlagserteilung bzw. bis zum (noch späteren) Zeitpunkt der Materialbestellung seriös abschätzen zu können.
Öffentliche Auftraggeber sollten das Thema „Stoffpreisgleitklausel“ zumindest bei Bauausschreibungen rechtzeitig auf der Agenda haben, um nicht im laufenden Verfahren (z.B. infolge einer Rüge) kurzfristig damit konfrontiert zu sein.Das Formblatt 225 und die entsprechenden Hinweise des Bundes bieten für viele Fälle eine solide Handhabe. Teilweise reichen diese „formularmäßigen“ Regelungen jedoch im speziellen Einzelfall auch nicht aus, sodass eine passgenauere Regelung gefunden werden muss.Bei sehr vielen betroffenen LV-Positionen wird zudem die Abrechnung mit erheblichem Aufwand verbunden sein. Hier wäre zu überlegen, ob mit wenigen LV-Positionen zumindest rund 80-90% des betroffenen Stoffes (bspw. Stahl) abgedeckt sind, sodass man sich die „Kleinteiligkeit“ in der Abrechnung sparen kann und den Bietern dennoch die kalkulatorischen Risiken weitestgehend genommen hat.In der Praxis stellen sich darüber hinaus weitere relevante Fragen: Welche Stoffe sollten überhaupt von der Preisgleitklausel umfasst werden und welcher ist der „richtige“ Index, an den für die Preisgleitung angeknüpft werden sollte? Bei diesen Fragen haben die Bauunternehmen gegenüber Bauherren und Planern in der Regel einen Wissensvorsprung und je nach Unternehmensprofil auch unterschiedliche Auffassungen. Auftraggeber sollten gegebenenfalls versuchen, um Vorfeld der Ausschreibung mittels Markterkundung für diese Belange ein Gespür zu entwickeln. Das Sprechen mit den potentiellen Bietern ist (entgegen teilweise verbreiteter Vergaberechtsmythen) nicht verboten!
Dr. Alexander Dörr ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Er berät bundesweit in erster Linie die öffentliche Hand bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsprojekten sowie bei komplexen vergaberechtlichen Fragestellungen. Ein Schwerpunkt bildet dabei die rechtliche und strategische Begleitung von großvolumigen Ausschreibungsvorhaben öffentlicher Auftraggeber, überwiegend im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb. Daneben vertritt Herr Dörr regelmäßig öffentliche Auftraggeber in Nachprüfungsverfahren. Zudem hält er zu unterschiedlichen vergaberechtlichen Themen Schulungen und Seminare. Dr. Dörr ist unter anderem Dozent am Bildungszentrum der Bundeswehr. Er publiziert darüber hinaus zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und ist regelmäßiger Autor auf vergabeblog.de.
Mich irritiert etwas, dass sich niemand – weder die Vergabekammer noch der Verfasser des Beitrags – mit dem m.E. richtigen Einstieg befasst: § 9d [EU/VS] VOB/A, der auch eine Stoffpreisgleitklausel erfasst. Deren Anwendung steht zwar in pflichtgemäßen Ermessen des Auftraggebers. Die Vergabestellen des Bundes und die übrigen Vergabestellen, die kraft Anwendungsbefehl die Stoffpreisgleitklausel-Erlasse des Bundes zu beachten haben, dürften, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, wegen der Selbstbindung allenfalls noch einen minimalen Ermessenspielraum haben.