Ein Beitrag im Rahmen der Konsultation zur Transformation des Vergaberechts (zur derzeit laufenden Konsultation siehe ). Und ein Appell für mehr Wettbewerb und Rechtsstaatlichkeit.
Das Rechtsinstitut der „Interimsvergabe“ verstößt gegen geltendes Recht.
Ein als „Interimsvergabe“ gekleidetes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist stets unwirksam bzw. kann bei Einleitung und Durchführung eines entsprechenden Nachprüfungsverfahrens der Unwirksamkeitsfolge zugeführt werden. Dies gilt erst recht im Falle einer Direktvergabe.
Das Rechtsinstitut der Interimsvergabe ist ein – im Einzelfall nachvollziehbarer – aber rechtswidriger Kunstgriff, der unter Verweis auf die erforderliche (und teils gesetzlich verpflichtende) Erledigung bestimmter Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge entworfen wurde. Derartigen Aufgaben kommt regelmäßig eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft zu, so dass deren Erledigung unterbrechungsfrei gewährleistet sein muss („Kontinuität der Aufgabenerledigung“).
Die sich im Falle eigenverschuldeter Verzögerungen ergebende Pflichtenkollision zwischen dem Postulat zur Durchführung wettbewerblicher Vergabeverfahren und der jeweiligen Aufgabenerfüllung darf aber nicht zu einer pauschalen Auflösung zulasten des Wettbewerbs führen.
Erstaunlicherweise wird das aus Sicht des Verfassers klare Subsumtionsergebnis weiterhin nur von einem geringen Teil der Rechtsprechung mit der gebotenen Klarheit getragen und auch von großen Teilen der Literatur unter allgemeinen Verweis darauf, dass „es anders nicht sein könne“ und „die Interimsvergabe seit vielen Jahren anerkannt sei“, außer Acht gelassen.
Die Interimsvergabe steht weder mit der Richtlinie 2014/24/EU in Einklang noch kann sie unter den kartellvergaberechtlichen Regelungen aus §§ 97 ff. GWB, VgV legitimiert werden (vgl. dazu unter I. 1.). Auch aus dem EU-Primärrecht folgt keine abweichende Einschätzung (vgl. dazu unter I. 2.).
Selbst das Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases („LNGG“) – das die EU-vergaberechtlichen Grenzen mit Blick auf gebotene Umsetzungspflichten ausreizt – wagt keinen Vorstoß zur Erweiterung des ohnehin restriktiv zu handhabenden Ausnahmetatbestands der Dringlichkeitsvergabe (vgl. dazu unter I. 3.). Unter derzeit geltendem Recht scheint auch rechtsfolgenseitig keine – jedenfalls keine EU-rechtskonforme – Lösung möglich (vgl. dazu unter II.).
Vorstehende Einschätzung kann bei als Interimsvergabe deklarierten Beschaffungsvorhaben schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Diese reichen von der Unwirksamkeit des zugrundeliegenden öffentlichen Auftrags inkl. haushalterischen Rückabwicklungspflichten über Schadensersatzansprüche bis hin zu Vertragsverletzungsverfahren.
Derartige Rechtskonstruktionen sind aus Sicht des Verfassers kein Ausdruck von Entscheidungsfreude und lösungsorientierter Fehlerkultur, wie sie in der Diskussion um den – auch aus Sicht des Verfassers wünschenswerten – kulturellen Wandel in der öffentlichen Verwaltung gefordert werden. Im Gegenteil konterkariert das Festhalten an rechtlich nicht legitimierbaren Konstruktionen ein sinnvolles Streben nach einer modernen Leitkultur im Vergaberecht.
Diesem kulturellen Anspruch folgend ist auch der Verfasser bestrebt, nicht lediglich Probleme aufzuzeigen, sondern Lösungsansätze zu präsentieren. In Betracht kommt aus seiner Sicht allein eine rechtsfolgenseitige Lösung, die legislative Anpassungen erfordert.
Im Rahmen der derzeit laufenden öffentlichen Konsultation zur Transformation des Vergaberechts durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) könnte das aufgezeigte Problem berücksichtigt und unter sorgfältiger Abwägung aller relevanten Interessen einer praxistauglichen Lösung zugeführt werden (vgl. dazu unter III.).
Öffentliche Auftraggeber können öffentliche Aufträge gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das Offene und das Nichtoffene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind und die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sind („Dringlichkeitsvergabe“).
Die Interimsvergabe soll nach Ansicht derer, die diese als zulässig erachten, wiederum dann als Legitimationsgrundlage fungieren, wenn die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zwar nicht vorliegen, weil der öffentliche Auftraggeber die mit den äußerst dringlichen, zwingenden Gründen im Zusammenhang stehenden Ereignisse hätte voraussehen müssen und/oder die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit in die Verantwortungssphäre des öffentlichen Auftraggebers fallen, aber eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung im Bereich der Daseinsvorsorge sichergestellt werden muss.
Die dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe immanente und insoweit von der gesetzlich normierten Dringlichkeitsvergabe abzugrenzende bzw. diese modifizierende Abkehr von dem Grundsatz, dass die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit unter keinen Umständen dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen sein dürfen, ist mit dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 14 Abs. 4 Nr. 3 Hs. 2 VgV nicht vereinbar und verstößt gegen die dieser Regelung zugrunde liegende Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 lit. c) S. 2 Richtlinie 2014/24/EU.
Das Rechtsinstitut der Interimsvergabe ist also weder im europäischen noch im nationalen Vergaberecht gesetzlich normiert. Es entbehrt damit jeglicher gesetzlichen Grundlage und kann nicht als Legitimationsgrundlage für eine Direktvergabe herangezogen werden (KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22).
Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2014/24/EU unter dem Vorbehalt steht, dass eine Verhandlungsvergabe ohne vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb nur dann herangezogen werden darf, „soweit dies unbedingt erforderlich ist“. Daraus wird deutlich, dass schon die Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bei Erfüllung aller gesetzlich determinierten Tatbestandsvoraussetzungen eine ultima ratio darstellt.
Zudem ist die Dringlichkeitsvergabe bereits auf die Gewährleistung von Aufgaben der Daseinsvorsorge ausgerichtet. Die Dringlichkeitsvergabe setzt tatbestandlich unaufschiebbare Ereignisse voraus, bei denen eine gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung droht. Dies trifft regelmäßig nur auf Beschaffungen zur Behebung von Katastrophenschäden und zur kurzfristigen Bewältigung von Krisen sowie zur unterbrechungsfreien Gewährleistung von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu (OLG Frankfurt, Beschluss vom 7. Juni 2022, 11 Verg 12/21). Es ist daher nicht nachvollziehbar, wie das Rechtsinstitut der Interimsvergabe unter isoliertem Verweis auf die Erledigung derartiger Aufgaben legitimiert werden könnte.
Raum für das darüberhinausgehende Rechtsinstitut der Interimsvergabe verbleibt damit von Anfang an nicht. Vielmehr wird bereits für die Legitimation der Dringlichkeitsvergabe vorausgesetzt, dass die Erledigung derartiger Aufgaben negativ beeinträchtigt wird.
Der EuGH hat unmissverständlich klargestellt, dass geltendes EU-Vergaberecht einer nationalen Regelung entgegensteht, wenn diese den Rückgriff auf eine Direktvergabe öffentlicher Aufträge in Fällen äußerster Dringlichkeit gestattet, ohne dass die Voraussetzungen der Bereichsausnahme der öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit gemäß Art. 12 Richtlinie 2014/24/EU oder die tatbestandlichen Voraussetzungen aus Art. 32 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2014/24/EU – der wortlautidentisch zu § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gefasst ist – erfüllt werden (EuGH, Beschluss vom 20. Juni 2013, C-352/12).
Auch aus EU-primärrechtlichen Erwägungen heraus ergibt sich keine anderweitige Einschätzung.
Das Rechtsinstitut der Interimsvergabe lässt sich zunächst nicht unter Verweis auf die gemäß Art. 4 Abs. 2, S. 1 EUV gebotene Wahrung der „nationalen Identität der Mitgliedstaaten” legitimieren. Aufgabenträgern im Bereich der Daseinsvorsorge stehen unterschiedliche Reorganisations- und Kooperationsmöglichkeiten zur Verfügung. Den Mitgliedstaaten steht es – unabhängig von der zugrundeliegenden Aufgabe – gemäß Art. 1 Abs. 6 und Erwägungsgrund 5 Richtlinie 2014/24/EU frei, die Befugnisse und Zuständigkeiten für die Ausführung von Aufgaben der Daseinsvorsorge als Angelegenheit der internen Organisation innerhalb des Mitgliedstaats zu übertragen oder unter den Voraussetzungen der Bereichsausnahme der öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit gemäß Art. 12 Richtlinie 2014/24/EU (Inhouse- und Instate-Vergaben) zusammenzuwirken. Untersagt bleibt allein die Einbindung privater Akteure ohne Durchführung wettbewerblicher Ausschreibungen.
Auch aus Art. 14 AEUV und Art. 106 Abs. 2 AEUV folgt keine andere Einschätzung. Hiernach müssen Union und Mitgliedstaaten im Rahmen des EU-Rechts sicherstellen, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – worunter Aufgaben der Daseinsvorsorge regelmäßig zu subsumieren sind – so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Die vergaberechtlichen Regelungen samt Postulat zur Vergabe im Wettbewerb stehen der Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge – anders als im Falle einer EU-beihilferechtlich nicht legitimierbaren Finanzierung derartiger Aufgaben – nicht entgegen.
Das Vergaberecht formuliert lediglich Vorgaben zur Auswahl von Dienstleistern im Sinne einer regulierten Vertragsanbahnungsphase. Eigens zu verantwortende Pflichtenkollisionen zwischen Daseinsvorsorge und EU-vergaberechtlichen Ausschreibungspflichten können nicht einseitig zulasten des Vergaberechts aufgelöst werden. Die Wahrnehmung von Pflichtaufgaben wird durch das Vergaberecht nicht verhindert. Es wird lediglich die Anforderung formuliert, vorgelagert ein wettbewerbliches Vergabeverfahren durchzuführen.
Selbst wenn man das Bestehen einer EU-primärrechtlichen Ausnahmeregelung für Aufgaben der Daseinsvorsorge unterstellt, hätte diese aber keinen Eingang in das Kartellvergaberecht gefunden. Es bleibt dem nationalen Gesetzgeber unbenommen den Anwendungsbereich des Vergaberechts überobligatorisch weiter zu fassen als EU-rechtlich gefordert, d.h. eine EU-rechtlich mögliche Ausnahmeregelung nicht umzusetzen.
Die kartellvergaberechtlichen Regelungen der §§ 97 ff. GWB sehen – wie dargestellt – aber keine Bereichsausnahme für Aufgaben der Daseinsvorsorge vor (BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2008, X ZB 31/08).
Für das Rechtsinstitut der Interimsvergabe bleibt vor dem Hintergrund der klaren und eng auszulegenden Regelung des Art. 32 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2014/24/EU kein Raum. Eine Dringlichkeitsvergabe ist auch im Bereich der Daseinsvorsorge immer dann unwirksam, wenn Umstände, die zur äußersten Dringlichkeit geführt haben, dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen sind.
Eine geeignete Gegenprobe liefert das LNGG. Das Gesetz scheint – noch deutlich aggressiver als das oftmals in einem Atemzug genannte Gesetz zur Beschleunigung von Beschaffungsmaßnahmen für die Bundeswehr („BwBBG“) – den EU-vergaberechtlichen Grenzbereich statthafter Mindestumsetzung auszureizen.
§ 9 Abs. 1 Nr. 7 LNGG referenziert ausdrücklich auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV und dreht laut Gesetzesbegründung zu § 9 Abs. 1 Nr. 7 LNGG das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Anwendung der Dringlichkeitsvergabe im Anwendungsbereich des LNGG um („mit der Maßgabe anzuwenden, dass […] in der Regel […]“).
Ungeachtet der Frage, ob der im LNGG gewählte Ansatz EU-rechtskonform ausgestaltet wurde (was anders als bei der Interimsvergabe vertretbar erscheint), hat es der deutsche Gesetzgeber auch an dieser Stelle als EU-rechtlich nicht legitimierbar erachtet, einen über den Rahmen des Art. 32 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2014/24/EU hinausgehenden Ausnahmetatbestand zu formulieren.
Vorbehaltlich anderweitiger Legitimationsgrundlagen verstoßen Interimsvergaben – sei es in Gewand eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb oder einer Direktvergabe – aus dargestellten Gründen gegen geltendes Vergaberecht und sind nach entsprechender Feststellung durch die zuständige Nachprüfungsinstanz gemäß § 135 Abs. 1 GWB ex tunc unwirksam.
Aus Sicht des europäischen Gesetzgebers stellt die Unwirksamkeit das beste Mittel dar, um den Wettbewerb wiederherzustellen und neue Geschäftsmöglichkeiten für die Wirtschaftsteilnehmer zu schaffen, denen rechtswidrig Wettbewerbsmöglichkeiten vorenthalten wurden. Aus diesem Grund sollte ein Vertrag, der aufgrund einer rechtswidrigen Vergabe zustande gekommen ist, grundsätzlich als unwirksam gelten, Erwägungsgrund 14 Richtlinie 89/665/EWG.
Im Falle eines rechtskräftigen Beschlusses ist gemäß dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip davon auszugehen, dass sich die öffentliche Hand an diesen hält und von einer weiteren Beauftragung des jeweiligen Auftragnehmers absieht. Gemäß § 2 Abs. 8 Richtlinie 89/665/EWG müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Entscheidungen der Nachprüfungsstellen wirksam durchgesetzt werden können. Sofern ein in Rechtskraft erwachsener Beschluss durch den betreffenden Auftraggeber nicht befolgt, d.h. die vergaberechtlich unzulässige Vergabe des betreffenden Auftrags mit einer gewissen Beharrungstendenz fortgesetzt wird, kommen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen des Bundes oder der Länder in Betracht, § 168 Abs. 3 GWB.
Mittelbare Folge des Unwirksamkeitsverdikts aus § 135 Abs. 1 GWB können zudem Rückabwicklungs- oder Wertersatzansprüche gemäß §§ 812 ff. BGB – wobei bei öffentlichen Auftraggebern, die zugleich Adressaten des Haushaltsrechts sind, grundsätzlich die Pflicht zur Geltendmachung dahingehender Ansprüche besteht (vgl. bspw. § 59 BHO) – sowie Schadensersatzansprüche nicht bzw. fehlerhaft berücksichtigter Wirtschaftsteilnehmer sein.
Neben der Herbeiführung der Unwirksamkeit über ein Nachprüfungsverfahren gemäß §§ 135, 160 ff. GWB kann die dadurch verwirklichte Verletzung von Verpflichtungen des EU-Vergaberechts durch die Europäische Kommission bzw. den EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV beanstandet bzw. festgestellt und deren Abstellung durch die Bundesrepublik Deutschland verlangt werden. Der durch das Vertragsverletzungsverfahren nicht unmittelbar tangierte Vertrag mit dem betreffenden Auftragnehmer kann unter Rückgriff auf das in § 133 Abs. 1 Nr. 3 GWB formulierte Sonderkündigungsrecht beendet werden. Sofern die Abstellung einer Vertragsverletzung nicht herbeigeführt wird, kann ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 260 AEUV eingeleitet werden, im Rahmen dessen die Verhängung eines Ordnungs- oder Zwangsgeldes droht.
Das KG Berlin hat eine rechtsfolgenseitige Lösung skizziert, wonach es vertretbar erscheint, § 135 Abs. 1 GWB auf der Rechtsfolgenseite dahin einschränkend auszulegen, dass bei einer unmittelbaren Gefährdung der Versorgungssicherheit im Bereich der Daseinsvorsorge, trotz der nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bestehenden Vergaberechtswidrigkeit, zur Gewährleistung der Kontinuität der Aufgabenerledigung von der Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrages abgesehen werden kann (KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22).
Das Kammergericht führt den Gedanken – insoweit allerdings nicht mehr konsistent zum EU-Recht – weiter, wonach die zuständigen Nachprüfungsinstanzen, aufgrund einer einschränkenden Auslegung von § 135 Abs. 1 GWB nicht gehindert seien, festzustellen, dass der Vertrag vergaberechtswidrig unter Verstoß gegen § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zustande gekommen sei, ohne zugleich die Unwirksamkeit festzustellen.
Dies versucht das Kammergericht mit einem Vergleich zur Rechtslage bei der Aufhebung von Vergabeverfahren bzw. der in diesem Kontext anzustellenden Differenzierung zwischen einer rechtswidrigen und einer unwirksamen Aufhebung zu untermauern. Der Vergleich hinkt jedoch, weil die gebotene Unterscheidung bei der Aufhebung eines Vergabeverfahrens Ausdruck der Beschaffungsautonomie des öffentlichen Auftraggebers ist. Im Kontext des § 135 GWB geht es dementgegen um kompetenzielle Befugnisse der zuständigen Nachprüfungsinstanzen und den EU-rechtlich gebotenen Sanktionscharakter des Unwirksamkeitsverdikts bzw. um die Frage, inwieweit diese aufgrund der gebotenen Kontinuität der Aufgabenerledigung teleologisch reduziert werden können oder müssen.
Letztlich konnte das Kammergericht eine Entscheidung dahinstehen lassen, da die Interimsvergabe bzw. das durch diese legitimierte Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb entgegen der Vorgabe in §§ 17 Abs. 5, 51 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 VgV ohne Aufforderung zur Abgabe von Angeboten gegenüber mehreren Unternehmen und damit ohne Einhaltung des erforderlichen Mindestmaßes an Wettbewerb erfolgte.
Tenoriert wurde dennoch die Rechtswidrigkeit (und nicht die Unwirksamkeit) des auf diese Weise vergebenen öffentlichen Auftrags. Grund hierfür war allerdings, dass sich das Verfahren – was im Kontext eines Nachprüfungsverfahrens nach §§ 135, 160 ff. GWB vor dem Hintergrund des EU-rechtlich gebotenen Sanktionscharakters ebenfalls diskussionswürdig erscheint – erledigt hatte.
Der Gedanke zur rechtsfolgenseitigen Lösung scheint sinnvoll und grundsätzlich auch im Sinne der EU-rechtlichen Regelungslogik. Es fehlt allerdings eine konkrete Anbindung an die zugrundeliegende EU-rechtliche Norm des Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG.
Gemäß Art. 2d Abs. 1 lit. a) Richtlinie 89/665/EWG haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass ein Vertrag durch eine von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle für unwirksam erklärt wird oder dass sich seine Unwirksamkeit aus der Entscheidung einer solchen Stelle ergibt, wenn der öffentliche Auftraggeber einen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies nach geltendem Vergaberecht zulässig ist.
Gemäß Art. 2d Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG richten sich die Folgen der Unwirksamkeit eines Vertrags nach einzelstaatlichem Recht. In Betracht kommt – wie im allgemeinen Unwirksamkeitsverdikt des § 135 Abs. 1 GWB geregelt – eine „ex tunc“-Wirkung oder – wie in der spezielleren Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 5 LNGG geregelt – eine „ex nunc“-Wirkung. Letzteres setzt zwingend voraus, dass die Mitgliedsstaaten alternative Sanktionen vorsehen.
Gemäß Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle einen Vertrag nicht als unwirksam erachten kann, selbst wenn der Auftrag in nicht legitimierter Weise ohne vorherige Bekanntmachung und damit rechtswidrig vergeben wurde, wenn die Nachprüfungsstelle nach Prüfung aller einschlägigen Aspekte zu dem Schluss kommt, dass zwingende Gründe eines Allgemeininteresses es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrags zu erhalten. Auch in diesem Fall sind aus EU-rechtlicher Sicht zwingend alternative Sanktionen vorzusehen.
Der EU-rechtlich bestehende Gestaltungsspielraum wurde bisher allerdings nicht genutzt und bedürfte legislativer Anpassungen. Eine teleologische Reduktion oder einschränkende Auslegung der derzeit geltenden gesetzlichen Regelungen – wie durch das KG Berlin in Teilen vorgedacht – kommt nach Ansicht des Verfassers nicht in Betracht. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass es für eine EU-rechtskonforme Auslegung nicht nur einer telelogischen Reduktion der Unwirksamkeitsfolge, sondern zugleich einer teleologischen Erweiterung um alternative Sanktionsmechanismen bedürfte.
Selbst wenn man das in § 135 GWB angeordnete Unwirksamkeitsverdikt – entgegen dem klaren Wortlaut und den damit einhergehenden verfassungsrechtlichen Bedenken – teleologisch reduzieren wollte, setzt eine EU-vergaberechtlich zulässige Umsetzung voraus, dass alternative Sanktionen Anwendung finden. Als solche kommen gemäß Art. 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG ausschließlich die Verhängung von Geldbußen bzw. -strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags in Betracht.
Eine Befugnis zur Verhängung von Geldbußen bzw. -strafen ist weder in § 135 Abs. 1 GWB noch in § 168 Abs. 1 GWB enthalten. Auch das im Rahmen einer Zwangsvollstreckung regelmäßig drohende Zwangsgeld kann – vor dem Hintergrund, dass es sich hierbei um ein in die Zukunft gerichtetes Beugemittel ohne Bußgeld- oder Strafcharakter handelt – nicht als solches ausgelegt werden. Die Zuerkennung von Schadensersatz stellt ebenfalls keine angemessene Sanktion in diesem Sinne dar, Artikel 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG.
Auch eine teleologische Reduktion des § 135 Abs. 1 GWB, wonach es den Nachprüfungsinstanzen möglich wäre, den Vertrag nicht bereits ab dem Zeitpunkt der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung der Vergabekammer oder des Vergabesenats für unwirksam zu erklären, sondern die Vertragslaufzeit zu einem späteren Zeitpunkt enden zu lassen, scheidet aufgrund des klaren Gesetzeswortlauts („ist von Anfang an unwirksam“) aus.
Aus Sicht des Verfassers kommt einzig eine rechtsfolgenseitige Lösung in Betracht. Hierzu bedarf es legislativer Anpassungen.
Relevanter Anknüpfungspunkt ist die Regelung aus Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG, wonach die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsordnungen vorsehen können, dass die von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle einen Vertrag nicht als unwirksam erachten darf, selbst wenn der Auftrag rechtswidrig vergeben wurde, wenn die Nachprüfungsstelle nach Prüfung aller einschlägigen Aspekte zu dem Schluss kommt, dass zwingende Gründe eines Allgemeininteresses es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrags zu erhalten.
In diesem Fall sind wiederum zwingend alternative Sanktionen vorzusehen, d.h. die Verhängung von Geldbußen bzw. -strafen oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags. Die alternativen Sanktionen müssen – unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes, des Verhaltens des öffentlichen Auftraggebers und des Umfangs, in dem der Vertrag seine Gültigkeit behält – wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
Es erscheint sachgerecht, den Aktionsradius und Handlungsspielraum der zuständigen Nachprüfungsinstanzen für die dargestellten Fallkonstellationen zu erweitern. Eine Blaupause liefert § 9 LNGG unter der Überschrift „Beschleunigte Vergabe- und Nachprüfungsverfahren“. Passenderweise referenziert eines der insgesamt fünf Aktionsfelder der durch das BMWK derzeit initiierten Konsultation zur Transformation des Vergaberechts auf die „Vereinfachung und Beschleunigung der Vergabeverfahren“.
§ 9 Abs. 1 Nr. 4 LNGG ordnet für die Einbindung verflüssigten Erdgases in das bestehende Fernleitungsnetz abweichend von § 135 Abs. 1 GWB die aus EU-rechtlicher Sicht gebotene (und in § 9 Abs. 1 Nr. 6 LNGG konkretisierte) Verhängung alternativer Sanktionen an.
Anders als im LNGG könnte im Rahmen der Transformationsbestrebungen zum allgemeinen Vergaberecht erwogen werden, vorgenannte Befugnisse getrennt mehreren Stellen zu übertragen. Das steht in Einklang mit geltendem EU-Recht (Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG) und könnte insbesondere für die Zuständigkeitszuweisung von Geldbußen sinnvoll sein.
Zielführend wäre die Zuweisung an eine zentrale Behörde. Besonders geeignet erscheint hier das Bundeskartellamt, in dessen Organisationsbereich sich Beschlussabteilungen, die über Erfahrungen bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten verfügen, die Vergabekammern des Bundes als zuständige Nachprüfungsinstanz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im Verantwortungsbereich des Bundes sowie die für das Wettbewerbsregister zuständige Registerbehörde befinden.
In Bezug auf die Transformationsbestrebungen des BMWK sollte verinnerlicht werden, dass das LNGG zwar als geeignete Blaupause in Bezug auf einzelne Segmente – wie dem hier zur Diskussion gestellten Umgang mit Aufgaben der Daseinsvorsorge – nicht jedoch als Schablone für das allgemeine Vergaberecht fungieren darf. Abgesehen davon, dass die Beschaffung von Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas nur eingeschränkt als Reallabor für die öffentliche Beschaffung insgesamt taugt, sollte die Transformation des Vergaberechts dem derzeitigen Trend zu einer teils bedingungslosen Reduzierung von Wettbewerb Einhalt gebieten. Auf diese Weise werden Partikularinteressen einzelner Industriezweige und Unternehmen bedient, aber keine volkswirtschaftlich wünschenswerten Effekte erzielt.
Das LNGG bietet also durchaus auch Anlass für Kritik. Korruptionsskandale auf allen Ebenen politischen Wirkens, Beschaffungen zu unwirtschaftlichen Konditionen und anderweitige Übervorteilungen der öffentlichen Hand zeigen deutlich, dass es ohne Wettbewerb nicht funktioniert. Der EuGH erachtet die rechtswidrige Direktvergabe von Aufträgen insoweit als die schwerwiegendste Verletzung im EU-Vergaberecht, die wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen erforderlich macht, Erwägungsgrund 13 Richtlinie 89/665/EWG.
Bis zu einer möglichen Anpassung durch den Gesetzgeber auf nationaler Ebene sind weitere Entscheidungen durch die zuständigen Instanzen zu erwarten. Während das Kammergericht Berlin und das Hanseatisches Oberlandesgericht Bremen die Interimsvergabe jüngst für grundsätzlich unzulässig erachtet (KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22) bzw. deren Legitimität angezweifelt haben (OLG Bremen, Beschluss vom 1. April 2022, 2 Verg 1/21), haben das Oberlandesgericht Frankfurt am Main und das Bayerische Oberste Landesgericht – wobei dies in den konkreten Fällen jeweils nicht entscheidungserheblich war – eine gegenteilige Auffassung vertreten (OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22; BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2022, VERG 13.22 V).
Auf Basis der derzeitigen Gesetzeslage wäre es wünschenswert, wenn die tatbestandliche Einordnung – möglicherweise auch über den Umweg einer Divergenzvorlage zum BGH oder eines Vorabentscheidungsersuchens zum EuGH – auf Basis geltenden Rechts und nicht unter pauschalen Verweis auf eine Pflichtenkollision mit Aufgaben der Daseinsvorsorge erfolgt.
Interimsweise vergebene Aufträge bleiben unter geltendem Recht möglich. Sofern die tatbestandlichen Anforderungen aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht eingehalten werden, stellt dies allerdings einen Verstoß gegen geltendes Vergaberecht dar. Eine klare und einheitliche Positionierung der Rechtsprechungsinstanzen würde den Druck auf den Gesetzgeber zur Bereitstellung geeigneter Lösungen auf Rechtsfolgenseite noch einmal erhöhen. Ein praxistauglicher, wie rechtssicherer Lösungsansatz stünde – wie aufgezeigt – bereit.
Sebastian Schnitzler leitet vom Hamburger Standort aus den Bereich EU/Public Procurement von Deloitte Legal in Deutschland. Er ist zugelassener Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Mediator. Mit seinem Team widmet er sich mit großer Passion und Leidenschaft EU-vergaberechtlichen Fragestellungen aller Couleur. Er führt regelmäßig Seminare und Workshops durch, beteiligt sich durch Vorträge und Fachpublikationen am wissenschaftlichen Diskurs und ist Autor eines Online-Kommentars zum Vergaberecht.
Ich finde es erschütternd, dass in diesem Artikel dem kommerziellen Interesse eines Unternehmens, sein Produkt im Wettbewerb zu platzieren, ohne jede Abwägung der Vorrang vor dem Allgemeinwohl oder Leib und Leben gegeben wird. Folgt man der Ansicht von Herrn Schnitzler, muss ein Gericht auf Antrag eines Unternehmens z.B. ein Krankenhaus zur Rückabwicklung einer Beschaffung verpflichten, wenn dieses in einer Krankheitswelle Beatmungsgeräte für die Intensivstation interimsweise direkt beschafft hat und die Knappheit sowie die Krankheitswelle vorhersehbar waren, ganz gleich ob dann Menschen sterben.
Ich halte den Wettbewerb für ein hohes Gut. Dieser steht aber nicht per se über allen anderen Werten. Zum Glück sieht das die Rechtsprechung in Bezug auf Interimsvergaben genauso. De lege lata ist eine Interimsvergabe nach den Maßstäben der Rechtsprechung zulässig.
Vielleicht spkkten wir vor der dogmatischen Diskussion zur Transformation des Vergaberechts ersteinmal in eine Wertediskussion einsteigen.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Pauka,
der Kollege Schnitzler kann gerne widersprechen, aber ich denke nicht, dass es seine Absicht war, durch den Beitrag zum Ausdruck zu bringen, dass das kommerzielle Interesse eines Unternehmens, seine Produkte im Wettbewerb zu platzieren, ohne Abwägung dem Allgemeininteresse oder Leib oder Leben überwiegt. Der Beitrag soll meiner Ansicht nach nur rechtsdogmatisch aufzeigen, dass hinsichtlich der Thematik der Interimsvergaben eine vergaberechtliche Grundlage an sich kaum besteht und die Rechtsprechung dazu bisher zum einen uneins ist und zum anderen nicht überzeugend.
Der Beitrag soll, das nehme ich an, im Hinblick auf die öffentliche Konsultation zur Transformation des Vergaberechts sicherlich auch bewusst provokativ und zugespitzt sein.
Dass Allgemeininteressen und Leib und Leben vertragslosen Zuständen und Rückabwicklungen unter Umständen sicherlich entgegenstehen können und müssen, darüber dürfte keine Uneinigkeit bestehen, die Frage ist jedoch, ob das gleichzeitig rechtlich überzeugend in Literatur und Rechtsprechung gedeckt ist. Und da kann ich dem Kollegen Schnitzler folgen, das ist es meines Erachtens nicht. Da werden in der Praxis Tatbestände wie der der besonderen Dringlichkeiten mit Interimsvergabe vermengt und rechtlich nicht sauber angenommen, weil oftmals, wie Sie selbst ausführen, eine Unvorhersehbarkeit ohne Zurechenbarkeit des Auftraggebers nicht vorliegt. Diese Situation gilt es, ohne die Güter der Allgemeinheit oder Leib und Leben zu gefährden, zu beseitigen und besser zu regeln: siehe erste Tendenzen LNGG, was sicherlich nicht zustande gekommen wäre, wenn die Sach- und Rechtslage der Interimsvergaben so klar wäre, oder was meinen Sie?
Freue mich auf Ihre Ansicht.
Beste Grüße
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Pauka,
ich sehe gerade, das Sie die Diskussion (erfreulicherweise) hierher verlagert haben. Das habe ich leider zu spät gesehen. Nachstehend meine Antwort auf Ihren letzten Kommentar auf linkedIn. ich rege an, die Diskussion hier fortzusetzen.
Das Ziel meines Beitrags liegt in einer sachlichen Diskussion zur aktuellen Rechtslage, um darauf aufbauend im Rahmen der derzeit laufenden Konsultation zur Transformation des Vergaberechts konkrete Ableitungen vornehmen zu können. Das Titel und Inhalt Reizpunkte beinhalten, ist bereits dem Format eines Blogbeitrags immanent.
Ziel ist eine Diskussion in der Sache. Ich sehe mich nun seit mehreren Tagen genötigt, die Inhalte meines Beitrags in Reaktion auf Ihre zahlreichen Kommentare zu wiederholen. Mir fehlt es – offen gesprochen – weiterhin an Gegenargumenten und damit an besagter Diskussion in der Sache.
Sie dürfen mir zunächst glauben, was ich bereits klargestellt habe. Wenig läge mit ferner als in einer Güterabwägung den Wettbewerb über das Leib und Leben von Bürgern zu stellen. Ich bitte Sie daher höflichst, die Behauptung, Gegenteiliges sei der Fall, zu unterlassen, auch wenn Ihnen meine Rechtsauffassung nicht zusagt.
Ich vertrete ebenso klar die Auffassung, dass der isolierte Rückgriff auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe, unabhängig vom dahinterstehenden Rechtsgut, gegen geltendes Vergaberecht verstößt. Eine Güterabwägung hat nach meiner Rechtsauffassung auf Tatbestandsseite nicht stattzufinden. Das habe ich (entgegen Ihrer Behauptung) nicht auf wiederholte Nachfrage Ihrerseits in einem meiner Antwortkommentare klargestellt, sondern ist Kern meines Beitrags und lässt sich – wenn man denn möchte – dem Titel „Interimsvergabe. Ein rechtswidriger Kunstgriff, der mit geltendem Recht nicht in Einklang zu bringen ist.“ auch recht deutlich entnehmen.
Hiervon ist wiederum die rechtsfolgenseitige Betrachtung zu unterscheiden. Nur auf dieser Ebene kann die der Interimsvergabe immanente Zwangslage aufgelöst werden. Zum Einen gewährt das EU-Recht nur auf dieser Ebene Gestaltungsspielräume (im Sinne einer Güterabwägung). Daher gehe ich davon aus, dass die auf Tatbestandsebene anknüpfende Interimsvergabe bei Gelegenheit durch Luxemburg kassiert werden würde.
Zum Anderen bietet auch nur diese Lösung sachgerechte Ergebnisse. Die für den Schutz von Leib und Leben erforderlichen Güter müssen trotz Vergabeverstoß beschafft werden können. Dem stünde allein das Unwirksamkeitsverdikt, nicht jedoch eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vergabe oder die Verhängung anderweitiger (EU-rechtlich gebotener) Sanktionen entgegen.
Diese alternativen Rechtsfolgen konfligieren nicht mit dem Rechtsgut Leib und Leben. Die Beschaffung der zum Schutz von Leib und Leben erforderlichen Güter könnte erfolgen. Es drohen anderweitige Sanktionen (insbesondere Geldbußen).
Dennoch erachten Sie diesen vom EU-Recht getragenen, das Rechtsgut Leib und Leben nicht tangierenden und zugleich den Wettbewerb schützenden (weil generalpräventiv wirkenden) Weg für „überflüssig“. Das könnte den Eindruck erwecken, als ginge es Ihnen nicht um das Rechtsgut Leib und Leben, sondern um die Sanktionsfreiheit bei derartigen Direktvergaben.
Ergänzend möchte ich noch darauf hinweisen, dass nur auf Rechtsfolgenebene mit dem gebotenen Maß zwischen den mannigfachen Fallkonstellationen aus der Praxis differenziert werden kann.
Natürlich hatte ich bei meinem Beitrag vordergründig Fälle vor Augen, in denen Auftraggeber bewusst und zielgerichtet (oder jedenfalls sehnendem Auges) „Dringlichkeit“ haben entstehen lassen, um auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe zurückgreifen zu können und in denen es auch nicht um den Schutz von Leib und Leben, sondern um andere (gleichfalls wichtige, aber eben nicht unantastbare) Rechtsgüter geht.
In diesen Fällen kann es – die konkrete Entscheidung obläge den zuständigen Instanzen – geboten sein, an der Unwirksamkeitsfolge festzuhalten. In anderen Fällen (wie dem von Ihnen skizzierten Fall) ist das nicht denkbar. Dann bedarf es aber alternativer Sanktionen. Derartige Differenzierungen sieht die Interimsvergabe nach derzeitigem Verständnis aber nicht vor. Anders sieht es auf Rechtsfolgenseite aus. Gemäß geltendem EU-Recht wäre die Berücksichtigung derartiger Belange bei der Verhängung alternativer Sanktionen sogar zwingend vorgegeben.
Zudem eine Klarstellung zur aktuellen Gesetzes- und Rechtslage: Dass das LNGG und das BWBBG – nach Aussage des BMWK handelt es sich hierbei jeweils um „Krisenvergaberecht“ – nicht als Blaupause für das allgemeine Vergaberecht taugen, ist offensichtlich. Das LNGG wurde aber – auch insoweit gehen unsere Auffassungen auseinander – zumindest mit Blick auf die hier interessierende Regelung des § 9 LNGG rechtstechnisch sehr sauber ausgearbeitet. Die Differenzierung zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenseite entspricht dem Duktus des EU-Rechts. Das BWBG bietet für die hiesige Diskussion überhaupt keinen Stoff.
Wie von dem Kollegen Pilarski bereits herausgestellt, gehen die Auffassungen in der Rechtsprechung weit auseinander.
Auch ich freue mich auf den weiteren Austausch!
Viele Grüße