Der Referentenentwurf für den „Entwurf einer Verordnung zur Anpassung des Vergaberechts an die Einführung neuer elektronischer Standardformulare („eForms“) für EU-Bekanntmachungen und an weitere europarechtliche Anforderungen“ enthält eine für die Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen besonders bedeutsame Neuregelung, nämlich die Streichung des § 3 Abs. 7 S. 2 VgV (siehe ).
1. Die Regelung in § 3 Abs. 7 S. 2 VgV
Nach § 3 Abs. 7 S. 2 VgV und den gleichlautenden Regelungen der SektVO und VSVgV, die ebenso aufgehoben werden sollen, werden die Auftragswerte unterschiedlicher Lose nur dann addiert, wenn sie gleichartige Dienstleistungen betreffen. Nach herkömmlichem Verständnis bedeutet dies für Planungsvergaben, dass die Auftragswerte in den Grenzen der Leistungsbilder der HOAI addiert werden, also nicht leistungsbildübergreifend. Die Folge ist, dass auf ein und dasselbe Objekt bezogene Leistungen der Objekt-, Technischen Gebäudeausrüstungs-, Freianlagen- und Tragwerksplanung – um die im öffentlichen Hochbau am häufigsten konfigurierenden Planungen zu nennen – sämtlich national vergeben werden, solange nur die jeweiligen Nettohonorare unter 215.000 Euro liegen.
2. Die praktische Handhabung der heutigen Regelung
Der Auftragswert, der für die Beurteilung der Schwellenwerterreichung relevant ist, wird oftmals, aber keineswegs immer in den Grenzen der Leistungsbilder ermittelt. Praktisch wird von dieser nationalen Sichtweise schon heute gelegentlich abgewichen, und zwar zumeist im Zuwendungsbau. Dies beruht teils auf eigener Einsicht, teils aber auch auf verständiger Beratung durch Projektsteuerungsbüros oder Anwaltskanzleien. Unter Hinweis auf die unklare unionsrechtliche Sicht, die ja auch die Bundesregierung bewogen hat, die Aufhebung von § 3 Abs. 7 S. 2 VgV vorzuschlagen, wird dann also leistungsbildübergreifend addiert. Die Additionsgrenze bildet – wie sonst auch bei Liefer- und Dienstleistungen – der funktionale Zusammenhang, also im Bereich der Planung das Objekt oder, wohl eher, das Bauvorhaben insgesamt.
3. Die Kritik der Verbände
Die Abschaffung des § 3 Abs. 7 S. 2 VgV würde diese bislang eher aus Vorsichtsgründen gewählte Vorgehensweise zur Regel machen. Ab Bauhauptkosten von ca. 1 Millionen Euro müssten die dazugehörigen Planungsleistungen europaweit ausgeschrieben werden. Diese Aussicht hat für Empörung gesorgt. Die Bundesarchitektenkammer hat sich nebst zahlreicher Verbände und Vereinigungen eindeutig positioniert und lehnt die Aufhebung des § 3 Abs. 7 S. 2 VgV ab (siehe Vergabeblog.de vom 16/12/2022, Nr. 51859). Sie moniert überbordende Bürokratie und sieht erhebliche negative wirtschaftliche Auswirkungen.
4. Die Kritik der Kritik: Die Flexibilität des geltenden Rechts wird unterschätzt
Der vorliegende Beitrag tritt dieser Kritik entgegen. Sie erscheint als übertrieben, denn das geltende Recht hält zahlreiche Möglichkeiten bereit, die größtenteils nur vermeintlichen Erschwernisse der europaweiten Vergabe zu lindern.
Um dies zu verdeutlichen, ist in einem ersten Schritt auf rechtliche und tatsächliche Schwächen der derzeitigen Rechts- und Praxislage einzugehen. Anschließend werden einige Beschleunigungs- und Vereinfachungsmöglichkeiten aufgezeigt, die nach dem geltenden Recht bestehen. Der Vorschlagsreigen gipfelt in der Erörterung einer beispielhaften Vergabe von Planungsleistungen im Verhandlungsverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb – in einem (1) Monat.
a) Die Schwächen des § 3 Abs. 7 S. 2 VgV in der geltenden Fassung
Der u.a. von der BAK so gelobte § 3 Abs. 7 S. 2 VgV ist keine besonders verständliche Norm. Es ist unklar, welche Leistungen gleichartig sind und welche nicht. Begriffe wie Art – ähnlich: Wesen – sind überhaupt schwer zu handhaben. Die nun avisierte Streichung bringt also vor allem eins: Klarheit. Denn sie macht den Blick frei für die auch sonst im EU-Recht übliche funktionalen Argumentationsweisen. Stehen die Planungsleistungen in einem funktionellen Zusammenhang, vermittelt über ein und dasselbe Bauvorhaben, gar Objekt – ja oder nein? Der schematische Verweis auf die – nun mal rein nationalen – Leistungsbilder der HOAI wurde und wird dem nicht gerecht.
b) Die Schwächen der bisherigen Vergabepraxis unterhalb der Schwelle
Die Kritik der Verbände erweckt den Eindruck, derzeit würden Planungsleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte „bürokratiefrei“ vergeben werden. So ist es aber nicht. Es ist eine Vergabeakte zu erstellen, es ist vor dem Versand der Aufforderung zur Angebotsabgabe die Eignung der aufzufordernden Bieter zu prüfen und dokumentieren, es sind mehrere Angebote einzuholen und vergleichend zu bewerten etc. Zugleich verschleiert die Kritik, dass es mit der zweifelsohne „bürokratieärmeren“ Vergabepraxis für Planungsleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte nicht so weit her ist. Angefragt werden – zumeist – immer dieselben Planungsbüros. Vergeben wird – oft genug – nur nach dem Preis. Da sich – nach wie vor – die meisten Planungsbüros auch in Unterschwellenverfahren zumindest an die HOAI anlehnen, kommt es also – gar nicht selten – auf ein paar hundert Euro Abstand an. Und das in im Einzelfall, zumeist: für die jeweilige Kommune, bedeutsamen (Sanierungs-)Vorhaben.
c) Vereinfachungs- und Beschleunigungsmöglichkeiten nach dem geltenden Recht
Das geltende Recht hält Möglichkeiten bereit, das Vergabeverfahren zu beschleunigen. Sie sind in jedem Einzelfall zu prüfen. Wird auch nur ein Teil von ihnen im konkreten Vergabeverfahren verfolgt, verflüchtigt sich die Verbände-Kritik.
Einstufige Vergabe
Nach § 74 VgV werden Architekten- und Ingenieurleistungen in der Regel im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb oder im Wettbewerblichen Dialog vergeben. Die Wahl dieser Regelverfahrensart setzt zweierlei voraus: In einem ersten Schritt muss der Rechtsanwender feststellen, ob der Abschnitt überhaupt anwendbar sein, was nur dann der Fall ist, wenn der Gegenstand der Architekten- und Ingenieurleistung (die Aufgabe) nicht eindeutig und erschöpfend beschrieben werden kann. In einem zweiten Schritt muss der Rechtsanwender feststellen, dass ein Regelfall i.S.d. § 74 VgV vorliegt. Liegt kein Regelfall vor, kann im Wege des Offenen Verfahrens – und somit einstufig – vergeben werden. Dies bedeutet, es ist kein Teilnahmewettbewerb vorzuschalten. Zwar besteht dann auch nicht die Möglichkeit der Verhandlung. Doch der Vergabepraktiker weiß, dass von dieser Möglichkeit – bei Planungsleistungen – sowieso nur sparsam Gebrauch gemacht wird.
Die Vergabepraxis ist dazu aufgefordert, neue Wege bei der Auslegung der beiden Eröffnungskriterien („nicht eindeutig und erschöpfend“, „im Regelfall“) zu beschreiten. Ist die Aufgabe der Ausführungsplanung tatsächlich nicht vorab eindeutig und erschöpfend beschreibbar? Was gilt bei einer Wiederholungsplanung? Wenn der Auftraggeber doch in neun von zehn wertmäßig vergleichbaren Fällen der letzten fünf Jahre ohne Verhandlung ausgekommen ist, liegt dann wirklich der Regelfall des § 74 VgV vor? Es bieten sich oftmals zahlreiche Ansatzpunkte, um dem Regime der §§ 73 ff. VgV zu entgehen bzw. im Offenen Verfahren zu vergeben.
Verkürzung der Teilnahmeantragsfrist
§ 17 Abs. 3 VgV sieht die Möglichkeit vor, die Teilnahmeantragsfrist von 30 Tagen auf 15 Tage zu verkürzen. Dafür muss eine hinreichend begründete Dringlichkeit die Einhaltung der Teilnahmefrist unmöglich machen. Rechtsprechung und Literatur zur Auslegung dieser Anforderung sind derzeit noch dünn. Entscheidend wird aller Voraussicht nach die Dokumentation sein. Der Auftraggeber muss in der Vergabeakte belegen, dass die bis zur Einleitung der Vergabe aufgetretenen Verzögerungen nicht an ihm gelegen haben. Zugleich muss er den Endtermin mit dem Planungsbeginn verknüpfen und vergleichend deutlich machen, dass nur bei Fristverkürzung der Planungs- und somit auch der Projektbeginn gehalten werden können. Viel Aufwand? Verwaltungsseitig mit Sicherheit. Aber darunter leiden zunächst einmal nicht die Kritik übenden Verbände und ihre Mitglieder.
Ausschluss der Nachforderung
Der Auftraggeber kann sich von u.U. diffizilen Ermessensentscheidungen und Verzögerungen infolge ggf. notwendig werdender Nachforderungsverlangen selbst entlasten. Er muss nur die Nachforderung fehlender Unterlagen von vorneherein ausschließen. Das Recht dazu hat er, vgl. § 56 VgV. In Bauvergaben begegnet der generelle Vorab-Ausschluss öfters einmal, und da die derzeit Kritik übenden Verbände u.a. den mangelnden Gleichklang zur Bauvergabe bemängeln, müssten sie diese Annäherung eigentlich begrüßen.
Ob sie aus Verwaltungssicht klug ist, ist eine andere Frage. Besser erscheint es, die Vergabeunterlagen abzuspecken und nach Möglichkeit zu vereinfachen, um das Fehlerrisiko zu minimieren. Die Nachforderungsmöglichkeit sollte man sich zugleich erhalten.
Keine Wertungskriterien auf Eignungsebene, sondern hohe Mindestanforderungen
Eine etwas interessantere Möglichkeit, den Teilnahmewettbewerb zu verkürzen, ist der Verzicht auf Bewertungskriterien und die hierüber erfolgende Begrenzung der zur Angebotsabgabe aufzufordernden Teilnehmerzahl. Die Gefahr, dass dann eine Auswahl unter 10 oder 15 Angeboten zu erfolgen habe, ist überschaubar. In Ballungsgebieten kann es bei Massenlosen (z.B. Objektplanung Schulbau) dazu kommen, aber das kann jede Vergabestelle aufgrund ihrer Erfahrungen selbst feststellen. Auch bei Verzicht auf eine vergleichend-wertende Eignungsbeurteilung kann eine sinnvolle Selektion über eher hohe Mindestanforderungen erfolgen. Diese Vorgehensweise erspart es dem Auftraggeber, Referenzen zu bepunkten etc., auch wenn dies – bei guter Formulargestaltung – letztlich nur wenige Minuten benötigen und somit auch ersparen dürfte.
Verkürzung der Angebotsfrist
§ 17 Abs. 7 VgV hält bekanntlich die Möglichkeit der einvernehmlichen Angebotsfristverkürzung bereit. Das Einverständnis hiermit kann – wohl – schon mit der Teilnahmeantragseinholung abgefragt werden. Erlaubt ist – wohl – eine Verkürzung unter die Mindestfrist. Unabhängig davon kann ein vorausschauend agierender Auftraggeber eine Angebotsfristverkürzung durch die Bekanntmachung einer Vorinformation nach § 38 Abs. 3 VgV erreichen.
Vorbehalt des Zuschlags auf das Erstangebot
Wenn der Auftraggeber sich den Zuschlag auf das Erstangebot vorbehalten hat und er – tatsächlich – nicht verhandelt, muss er auch keine Schlussrunde durchführen. Er kann also auf die Einholung sog. endgültiger Angebote verzichten.
Schreibtisch-Verfahren
Die Vergabeverordnung kennt keine Rechtspflicht, Präsentationstermine durchzuführen. Die Angebote können auch so bewertet werden, wie sie eingereicht wurden, also in Textform. Präsentationstermine verursachen oft den größten Zeitverlust; sie fallen in die Urlaubszeit, Krankheit, Elternzeit etc., sie erfordern Rücksprache, Absprachen, Pausen, Einladungen etc. Die Wertung unter alleiniger Zugrundelegung der textförmigen Angebote kann – vielleicht – im Umlaufverfahren geschehen. Besser ist es, wenn jeder Bewerter unabhängig von den jeweils anderen Bewertern seine Einschätzung unter Verwendung gut gestalteter Formulare abgibt und die Vergabestelle die jeweilige Gesamtnote ermittelt. Für das zweitgenannte Vorgehen spricht, dass dabei eine Beeinflussung („oben sticht unten“) unwahrscheinlicher ist.
d) Verfahrensdauer bei Befolgung aller Vorschläge
Folgt man den o.g. Vorschlägen, lässt sich auch das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb in etwa einem Monat abwickeln. Dies macht folgendes Beispiel deutlich:
- Bekanntmachung am 2. Mai 2023
- Ende der Teilnahmeantragsfrist (wegen begründeter Dringlichkeit) am 17. Mai 2023
- Teilnahmeantragsprüfung am 17. Mai 2023
- Aufforderung zur Angebotsabgabe am 17. Mai 2023
- Ende der Angebotsfrist (wegen einvernehmlicher Verkürzung) am 24. Mai 2023
- Ende der Prüfung und Wertung (ohne Präsentation, keine Aufklärungsnotwendigkeit) am 25. Mai 2023
- Versand der Absageschreiben am 25. Mai 2023
- Zuschlag am 5. Juni 2023
Lässt sich die Dringlichkeit unter keinem Gesichtspunkt rechtfertigen, ergeben sich sechs bis sieben Wochen. Viel schneller sollten rechtskonforme (!) nationale Planungsvergaben auch nicht abzuwickeln sein.
5. Fazit
Die Streichung von § 3 Abs. 7 S. 2 VgV ist zu begrüßen. Die Praxis wird sich nach einer gewissen Zeit darauf einstellen. Die Befürchtungen der Verbände sind demgegenüber überzogen. Auf Verwaltungsseite werden eine gewisse Experimentierlust, Fehlertoleranz und Kommunikationsbereitschaft benötigt, insbesondere in Richtung der Zuwendungsgeber, die einsehen müssen, dass ein „im Ergebnis falsch, aber vertretbar“ kein Widerrufsgrund ist.
Das Instrument, mit dem sich die Verbände-Kritik vollends erledigt, sind Mehrpartner-Rahmenverträge. Einmal alle vier Jahre vergeben, ein Los je Leistungsbild, stellen sie einerseits die Situation her, die schon jetzt besteht: den freihändigen und somit „bürokratiearmen“ Mini-Wettbewerb zwischen Rahmenvertragspartnern. Andererseits schaffen sie Wettbewerb und Transparenz und verbessern dadurch den status quo unterhalb der Schwelle. Wenn erfahrenere öffentliche Auftraggeber kleinere öffentliche Auftraggeber dann noch an die Hand nehmen, z.B. als zentrale Beschaffungsstelle für die Rahmenvertragsausschreibung, befördert die Aufhebung von § 3 Abs. 7 S. 2 VgV die gelegentlich noch etwas unterentwickelte Vergabekooperation – und ist auch aus diesem Grund zu begrüßen.
Dr. Christoph Kins
Der Autor Dr. Christoph Kins ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner bei der Rechtsanwaltskanzlei abante in Leipzig, die sich auf Vergabe- und Vertragsrecht vor allem für öffentliche Auftraggeber spezialisiert hat. Herr Kins berät öffentliche Auftraggeber, Bieter, Bewerber und Zuwendungsempfänger. Er führt Seminare und Schulungen durch und veröffentlich regelmäßig Fachbeiträge zum Thema Vergaberecht.
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