Die Frage, ob Interimsvergaben rechtmäßig sein können, ist hochaktuell. In zwei Beiträgen wurde das Thema bereits kontrovers auf Vergabeblog diskutiert. Auch das OLG Düsseldorf hat mittlerweile die Fragestellung dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, ob eine Dringlichkeitsvergabe im Bereich der Daseinsvorsorge ausnahmsweise auch dann erlaubt ist, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, wie die Rechtmäßigkeit von Interimsvergaben mit dem Wortlaut von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV und der „Wettbewerb light“-Rechtsprechung des OLG Rostock in Übereinstimmung gebracht werden kann.
Die Interimsvergabe als unentbehrliches Instrument
Stellen Sie sich vor: In Europa bricht ein Krieg aus. Innerhalb weniger Wochen und Monate werden Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Hunderttausende erreichen auch Deutschland. Sie werden schnellstmöglich versorgt. Angenommen, der Krieg dauere an. Das Andauern des Krieges sei für die zuständigen öffentlichen Auftraggeber erwartbar gewesen. Kommunen und Länder hätten zwar vorgesorgt: Sie hätten Vergabeverfahren für Planung und Bau neuer Geflüchteten-Unterkünfte begonnen, Stellen für das Unterkunftspersonal geschaffen und ausgeschrieben, neue Rahmenvereinbarungen für Betreiber-, Catering-, Sicherheits- und Reinigungsleistungen auf den Weg gebracht. Allerdings sorgten nun die Parallelbelastung, ein hoher Krankenstand und eine Pensionierungswelle dafür, dass sich die Vergabeverfahren länger hinziehen als gedacht: Was ist zu tun?
Die Antwort lautet: Die Versorgungslücken müssen durch Interimsvergaben geschlossen werden. Das Vergaberecht steht dem nicht entgegen. Tatsächlich „versöhnen“ Interimsvergaben „die Ziele des Vergaberechts mit dem Postulat der Daseinsvorsorge“ (Pfarr, Valeska, „Interimsvergaben zur Daseinsvorsorge sind vollständig EU-rechtskonform – unabhängig von der Frage der Zurechnung. Eine Replik.“ (Vergabeblog.de vom 20/03/2023, Nr. 52767)). Die gegenteilige Auffassung überzeugt nicht. Die dienende Funktion des Vergaberechts als Recht der staatlichen Beschaffung würde völlig konterkariert, wenn es verhindern würde oder für rechtswidrig halten würde, dass öffentliche Auftraggeber ihre öffentlichen Aufgaben erfüllen – dies auch und gerade in Krisenzeiten.
Das hat mittlerweile auch die Rechtsprechung erkannt. Das OLG Frankfurt hat es jüngst wie folgt pointiert formuliert (Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/2):
„In der wert- und insbesondere grundrechtsgebundenen Ordnung des Grundgesetzes und der Unionsverträge muss der Staat immer und unabhängig von früheren Versäumnissen in rechtmäßiger Weise in der Lage sein, auf Notlagen zu reagieren oder sie abzuwenden, mithin unverzichtbare Leistungen zu erbringen. Dies betrifft insbesondere Leistungen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich der Daseinsvorsorge.“
Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Öffentliche Auftraggeber können für die Interimslösung entweder über § 132 GWB auf Bestandsverträge zurückgreifen oder über § 14 Abs. 4 VgV (bzw. § 3a Abs. 3 EU-VOB/A) ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchführen. Zu den Vorteilen ersterer Lösung zählen:
- Die Anforderungen der Paralleltatbestände sind geringer (man vergleiche nur den strengen Wortlaut von § 14 Abs. 4 Nr. 5 oder 3 i. V. m. 6 VgV mit dem weniger strengen Wortlaut von § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 (hier muss es zwischen Buchst. a) und b) bekanntermaßen „oder“ statt „und“ heißen) oder Nr. 3 GWB;
- Zwar müssen auch Änderungen nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 GWB gemäß § 132 Abs. 5 GWB ex post bekanntgegeben werden. Dennoch weckt die Interimsvergabe „aus dem Bestand“ erfahrungsgemäß weniger Begehrlichkeiten bei der Konkurrenz.
- Bestandsauftragnehmer sind i.d.R. „bekannt und bewährt“. Das ist zwar kein rechtmäßiges Zuschlagskriterium. Bei der vorgelagerten Wahl zwischen mehreren rechtmäßigen Lösungsmöglichkeiten (rechtmäßige Änderung des Bestandsvertrags auf Grundlage von § 132 GWB vs. rechtmäßige interimsweise Neubeschaffung auf Grundlage von § 14 Abs. 4 VgV) kann „bekannt und bewährt“ dennoch ein rechtlich nicht zu beanstandender Sachgrund bei der Zweckmäßigkeitsentscheidung sein. Dies gilt insbesondere in Krisensituationen und auch dann, wenn sich keine Alleinstellung im von Frau Pfarr aufgezeigten Sinne begründen lässt. –
Jedoch fehlt es häufig an einer passenden Bestandslösung. Es bleibt dann nur der Weg über die interimsweise Neubeschaffung.
Teleologische Reduktion des Tatbestands von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV
Soweit ersichtlich scheinen Befürworter/-innen und Gegner/-innen gleichermaßen Bauchschmerzen zu haben. Diese Bauchschmerzen knüpfen daran an, dass kein Tatbestand in § 14 Abs. 4 VgV bzw. § 3a Abs. 3 EU-VOB/A zu der typischen Interimsvergabesituation zu passen scheint. Denn die naheliegendste Lösung über die Dringlichkeit schließt eigentlich aus,
- dass die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen sind (vgl. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) bzw.
- dass Ereignisse die äußerste Dringlichkeit hervorgerufen haben, die der öffentliche Auftraggeber verursacht hat oder voraussehen konnte (vgl. § 3a Abs. 3 Nr. 4 EU-VOB/A).
Wie lässt sich dieses offensichtliche Wortlaut-Problem lösen? Die Antwort gibt eine lang etablierte Figur der Rechtsdogmatik: Die „teleologische Reduktion“. Diese kommt methodisch immer dann in Betracht, wenn das Gesetz eine Regelung enthält, die teleologischen Erwägungen nicht standhält und daher dem Zweck nach eingeschränkt werden muss (vgl. etwa Danwerth, ZfPW 2017, 230, 233 ff.).
Die teleologische Reduktion ist das fehlende Puzzleteil. Sie versöhnt das rechtliche und praktische Bedürfnis nach Interimslösungen, die nicht auf einem Bestandsvertrag beruhen, mit dem Wortlaut von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV und § 3a Abs. 3 Nr. 4 EU-VOB/A. Denn der wichtigste der drei übergeordneten Zwecke auch des EU-Vergaberechts ist es, jenen Bedarf erfolgreich zu decken, welcher sich aus der jeweils zu lösenden öffentlichen Aufgabe ergibt (vgl. zur „Zwecktrias“ Burgi, Martin, Die Zukunft des Vergaberechts, in: NZBau 2009, 609, 611). Wenn jetzt Schüler-/innen zu unterrichten, Soldat/-innen mit Munition zu versorgen oder eben Geflüchteten zu beherbergen sind, dann muss das Vergaberecht dies ermöglichen – unabhängig vom Vorverhalten der zuständigen Staatseinheit. Um diesen Telos in der typischen Interimsvergabesituation zu erfüllen, muss das Tatbestandsmerkmal der Zurechnung zum bzw. Verursachung oder Vorhersehbarkeit durch den öffentlichen Auftraggebern zurücktreten. Es wird teleologisch reduziert.
In diese Richtung scheint auch Pfarr gedacht zu haben, wenn sie in ihrem Beitrag davon spricht, dass „reduzierte Anforderungen nahe[lägen]“. Das OLG Frankfurt (Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/2 und Beschluss vom 30.01.2014 – 11 Verg 15/13) bestätigt die dort und hier vertretene Rechtsauffassung, ohne das Kind beim Namen („teleologische Reduktion“) zu nennen:
„der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit tritt dann hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurück.“
Interimsvergaben sind auch heute schon rechtmäßig. Der Gesetzgeber kann, muss dies aber nicht zwingend klarstellen. In jedem Fall ist die Tatbestandslösung einer Rechtsfolgenlösung vorzuziehen. Denn eine Tatbestandslösung wie die vorgeschlagene verletzt den „numerus clausus“ der Verfahrensarten aus § 119 GWB nicht. Sie ist einer Rechtsfolgenlösung über § 135 GWB oder in Ergänzung zu dessen Unwirksamkeits-Folge auch rechtspolitisch vorzugswürdig. Denn letztere impliziert, dass öffentliche Auftraggeber rechtswidrig handeln, auch wenn Nachprüfungsinstanzen de lege lata oder de lege ferenda darauf verzichten, die Unwirksamkeit des Vertragsschlusses festzustellen. Ein solches „Unwerturteil“ ist aber nicht angezeigt, wenn öffentliche Auftraggeber gemäß des wichtigsten Zwecks des Vergaberechts und im Einklang mit den Vergabegrundsätzen aus § 97 Abs. 1 und 2 GWB handeln. Dies gilt erst recht, wenn sie zusätzlich bei der Verfahrensgestaltung Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb nach Kräften fördern (dazu unten mehr). Raum für Sanktionen bleibt dann nicht.
Klar ist, dass die teleologische Reduktion eines Tatbestandsmerkmals die übrigen nicht entfallen lässt. So bleibt es dabei, dass auch bei der Interimsvergabe „äußerst dringliche, zwingende Gründe“ (vgl. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) bzw. eine „äußerste[] Dringlichkeit der Leistung aus zwingenden Gründen“ (vgl. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) vorliegen und durch den öffentlichen Auftraggeber begründet und dokumentiert werden müssen. Nicht jeder Bedarf nimmt diese Schwelle. Dies auch dann nicht, wenn es um Daseinsvorsorge geht. Auf der anderen Seite wird auch nicht stets eine Gefahr für Leib und Leben erforderlich sein. So kann etwa auch der staatlich geschuldete Schultransport von Kindern mit Behinderung eine interimsweise Vergabe rechtfertigen. Wie so häufig kommt es auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an.
Es lässt sich also festhalten: Interimsvergaben zur dringlichen und übergangsweisen Beschaffung von für die Allgemeinen unverzichtbaren Leistungen lassen sich auf § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bzw. § 3a Abs. 3 Nr. 4 EU-VOB/A als Rechtsgrundlagen stützen. Das jeweilige Tatbestandsmerkmal, welches eine Zurechenbarkeit/Verursachung/Vorhersehbarkeit von dringlichkeitsbegründenden Umständen ausschließt, wird teleologisch reduziert, um den Bedarf an einer kontinuierlichen Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen zu decken.
Ermessen und „Wettbewerb light“ auf Rechtsfolgenseite
Was nicht unterschlagen werden darf: Tatbestand und Rechtfolgenseite sind auch bei § 14 Abs. 4 VgV bzw. § 3a Abs. 3 EU-VOB/A nicht identisch. Im Klartext: Nur weil die Voraussetzungen einer dringlichen Interimsvergabe vorliegen, folgt daraus nicht automatisch, dass der öffentliche Auftraggeber auf jeglichen Wettbewerb verzichten darf. Auch in der Interimsvergabesituation gilt es, die während der Corona-Pandemie entwickelte „Wettbewerb light“-Rechtsprechung des OLG Rostock (Beschl. vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20; Beschl. v. 01.09.2021 – 17 Verg 2/21; Beschl. v. 11.11.2021 – 17 Verg 4/21) zu beachten. Danach haben öffentliche Auftraggeber auch bei Dringlichkeitsvergaben stets im Rahmen ihres Ermessens zu prüfen, ob sie nicht mindestens einen anderen geeigneten Bieter zur Angebotsabgabe auffordern können. Denn auch in der Krisensituation gilt es, Wettbewerbs-, Wirtschaftlichkeits-, Verhältnismäßigkeits-, Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 97 Abs. 1 und 2 GWB im Blick zu haben. Dies hat auch das OLG Frankfurt (Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/2, m.w.N.) bestätigt:
„Auf Rechtsfolgenseite sieht die Ausnahmeregelung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV allerdings keine gebundene Direktvergabe ohne jeden Wettbewerb, sondern eine Ermessensentscheidung vor, die sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen muss. Der Eingriff in den Wettbewerb ist so gering wie möglich zu halten. Dies betrifft einerseits Umfang und Laufzeit des Auftrags, andererseits die Gewährleistung von so viel Wettbewerb wie möglich (‚Wettbewerb light‘). Hierzu sind in der Regel mehrere Angebote einzuholen.“
Wenigstens der VgV-Verordnungsgeber hat auch die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, dass öffentliche Auftraggeber dabei pragmatisch vorgehen können:
Seit dem 19.11.2020 sind sie ausweislich § 17 Abs. 6 (Mindestfrist nur für Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb) und Abs. 15 VgV in Dringlichkeitssituationen u. a. von jeglichen Mindestfristen, den Anforderungen an die elektronische Vergabe und das 4-Augen-Prinzip bei der Angebotsöffnung befreit. Nach § 134 Abs. 3 S. 1 GWB entfällt die Informations- und Wartepflicht.
Mit anderen Worten: Wenn es gar nicht anders geht, dürfen öffentliche Auftraggeber auch zum Telefon greifen und sich per E-Mail Vergleichsangebote mit Tagesfrist zusenden lassen. Auch wenn es ganz eilig ist, ist wenigstens ein wenig Wettbewerb möglich. Und ein wenig Wettbewerb ist immer noch besser als gar kein Wettbewerb.
Fazit
Interimsvergaben sind ein unverzichtbares Mittel, um zeitweise Versorgungslücken zu schließen. Sie lassen sich mit dem geltenden Vergaberecht in Übereinstimmung bringen. Auch einer wirtschaftlichen wettbewerblichen Vergabe stehen sie nicht entgegen.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Frau Liv Hagmann, LL.B., wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, Hamburg, verfasst.
Marc Philip Greitens, B.A., LL.B.
Marc Philip Greitens ist Rechtsanwalt bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, Hamburg. Seine Beratungsschwerpunkte sind das Vergabe- und das EU-Beihilfenrecht.
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