Bei der Gestaltung von Vergabeverfahren stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit Auftraggeber vorgeben dürfen, dass Bieter Leistungen selbst erbringen müssen. Seit der letzten Vergaberechtsreform gilt bei europaweiten Vergaben, dass eine solche Vorgabe für „bestimmte kritische Aufgaben“ zulässig ist. Bislang wurde dieser unbestimmte Rechtsbegriff allerdings kaum durch die vergaberechtlichen Nachprüfungsinstanzen konkretisiert. In einem aktuellen Beschluss hat sich die VK Lüneburg nunmehr ausführlich mit den Voraussetzungen eines solchen Selbstausführungsgebots des Bieters auseinandergesetzt. Sie hielt das im konkreten Fall vorgegebene Selbstausführungsgebot für zulässig. Entscheidend hierfür war die sorgfältige Dokumentation des Auftraggebers.
VgV § 8; VOB/A 2019 § 6d EU Abs. 4
Ein Auftraggeber schrieb für ein Bauvorhaben unter anderem Leistungen bezüglich eines Behelfsbauwerks, eines Tunnels sowie Verkehrsanlagen in einem europaweiten offenen Verfahren aus. In den Vergabeunterlagen leistete er folgende Vorgabe:
„Die Hauptleistungen aus den Losen 1 – Behelfsbauwerk (Stahlverbundbrücke inkl. Gründung) und 3 – Tunnel (Baugrubenverbau und Tunnelbau) sind zwingend durch ein Mitglied der Bietergemeinschaft zu erbringen.“
Der Auftraggeber erstellte für die interne Dokumentation einen vierseitigen Vermerk, in dem er technische, volkswirtschaftliche und verkehrliche Gründe für dieses Selbstausführungsgebot aufführte.
Ein Bieter, dessen Angebot ausgeschlossen wurde, stellte nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Lüneburg. Zur Begründung führte er unter anderem an, dass das Selbstausführungsgebot nicht gerechtfertigt sei.
Ohne Erfolg!
Aus Sicht der Vergabekammer ist das Selbstausführungsgebot nicht zu beanstanden.
Grundsätzlich kenne das Vergaberecht zwar kein Selbstausführungsgebot des Bieters. Es stehe den Bietern vielmehr frei, zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie im Auftragsfall Nachunternehmer einsetzen (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.12.2008 – Verg 51/08).
Sofern im Einzelfall außergewöhnliche Umstände vorlägen, aufgrund derer sich bestimmte Leistungsbestandteile nicht für eine Übertragung auf einen Nachunternehmer eignen, könne ein Selbstausführungsgebot allerdings zulässig sein (vgl. EuGH, Urt. v. 07.04.2016 – Rs. C-324/14).
Dann könne der Auftraggeber vorschreiben, dass bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst, oder im Fall einer Bietergemeinschaft von einem Mitglied der Bietergemeinschaft ausgeführt werden müssen (§ 6d EU Abs. 4 VOB/A). Mit Blick auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis müsse der Begriff der „kritischen Aufgabe“ zwar grundsätzlich eng ausgelegt werden. Bei der Qualifizierung einer Aufgabe als „kritisch“ stehe dem Auftraggeber aber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar sei.
Der Auftraggeber müsse die Gründe, warum eine bestimmte Aufgabe besonders kritisch sei, ordnungsgemäß dokumentieren.
Diesen Anforderungen habe das Vorgehen des Auftraggebers hier genügt. Der Auftraggeber habe in einem Vermerk auf vier Seiten ausführlich dargelegt, warum er die Stahlverbundbrücke inklusive Gründung, den Baugrubenverbau und den Tunnelbau als kritische Aufgaben bewertete. Er habe unter anderem verkehrliche, volkswirtschaftliche und technische Gründe angeführt.
Als verkehrliche und volkswirtschaftliche Gründe habe der Auftraggeber insbesondere die Restnutzungsdauer des Bauwerks angeführt. Infolge von Verzögerungen im Planfeststellungsverfahren könne der ursprüngliche Fertigstellungs- und Inbetriebnahme-Termin des Behelfsbauwerks nicht mehr gehalten werden. Sollte das Hilfsbauwerk bis zum anvisierten Zeitpunkt nicht fertiggestellt werden, komme es zu einer starken Steigerung des Risikos von erforderlich werdenden Kompensationsmaßnahmen in Form von Sperrungen des Bauwerks, woraus sich unmittelbar verkehrlich unhaltbare Zustände im städtischen Straßennetz ergeben bzw. verlängern würden. In einer Untersuchung seien für den Fall der Sperrung ein volkswirtschaftlicher Mehraufwand durch vermeidbare Reisezeiterhöhungen und zusätzliche Betriebskosten der Fahrzeuge ermittelt worden. Eine Verzögerung der Inbetriebnahme des Behelfsbauwerks führe damit zu einem volkswirtschaftlichen Schaden.
Zu den technischen Gründen habe der Auftraggeber in dem Vermerk unter anderem erläutert, dass aufgrund der innerstädtischen Lage und den somit sehr beengten Platzverhältnissen ein Teil des Behelfsbauwerkes direkt neben dem derzeitigen Bestandsbauwerk auf der Verbauwand der späteren Tunnelbaugrube gegründet werde. Behelfsbauwerk und Baugrubenverbau könnten aus statischer Sicht sowie im Hinblick auf die Herstellung und Gewährleistung einer dichten Baugrube nicht voneinander getrennt werden. Insgesamt würden sich starke räumliche, statische sowie zeitliche Wechselwirkungen zu den weiteren Leistungsbestandteilen ergeben.
Der Auftraggeber habe zudem Gründe der Qualitätssicherung durch Vermeidung der Beteiligung eines fachfremden Generalunternehmers angeführt.
Die Entscheidung überzeugt. Die VK Lüneburg leistet hilfreiche Ausführungen für die Beurteilung der Voraussetzungen eines Selbstausführungsgebots im Oberschwellenbereich.
Mit der letzten Vergaberechtsreform wurden in der VOB/A EU und in der VgV Vorschriften eingeführt, nach denen ein Selbstausführungsgebot für bestimmte kritische Aufgaben vorgegeben werden darf.
Im Anwendungsbereich der VOB/A EU dürfen Auftraggeber vorgeben, dass bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst oder – wenn der Bieter einer Bietergemeinschaft angehört – von einem Mitglied der Bietergemeinschaft ausgeführt werden (§ 6d Abs. 4 VOB/A EU).
Für Dienstleistungsaufträge enthält § 47 Abs. 5 VgV eine identische Regelung.
Bei Lieferaufträgen darf ein Selbstausführungsgebot für kritische Verlege- oder Installationsarbeiten im Zusammenhang mit einem Lieferauftrag vorgegeben werden (§ 47 Abs. 5 VgV).
Nicht zulässig ist allerdings ein vollständiges Selbstausführungsgebot. Mit „bestimmten kritischen Aufgaben“ sind vielmehr nur Teilleistungen eines Vertrags gemeint. In einem von der VK Thüringen zu entscheidenden Fall hatte etwa ein Auftraggeber die Gesamtheit zu vergebender Postdienstleistungen als „kritische Aufgabe“ bewertet, um sie als Nachunternehmerleistung ausschließen zu können. Dies wertete die VK Thüringen als vergaberechtswidrig (VK Thüringen, Beschl. v. 19.12.2019 – 250-4003-15326/2019-E-010-G).
Ebenso vergaberechtswidrig sind Vorgaben, nach denen der künftige Auftragnehmer einen bestimmten Prozentsatz der Arbeiten selbst ausführen muss (vgl. hierzu bereits EuGH, Urt. 14.07.2016 – C-406/14).
Der EuGH hat zudem im Jahr 2022 entschieden, dass die Richtlinie 2014/24/EU eine nationale Regelung verbietet, die dem bevollmächtigten Bietergemeinschaftsmitglied die mehrheitliche Erfüllung der vorgesehenen Kriterien und der Leistungserbringung aufgibt (EuGH, Urt. v. 28.04.2022 – Rs. C-642/20).
Der mit der Vergaberechtsreform im Jahr 2016 eingeführte unbestimmte Rechtsbegriff der „bestimmten kritischen Aufgabe“ wird weder in der Richtlinie 2014/24/EU, noch in den Vorschriften des § 6d VOB/A EU und des § 47 VgV oder in den dazugehörigen Materialien näher definiert.
Bislang wurde dieser unbestimmte Rechtsbegriff zudem kaum durch die vergaberechtlichen Nachprüfungsinstanzen konkretisiert.
Nach einer Entscheidung der VK Thüringen ist für das Vorliegen einer kritischen Aufgabe maßgeblich, ob mit der Weitergabe der entsprechenden Leistungen an Nachunternehmer ein höheres Risiko einer nicht rechtzeitigen oder mangelhaften Ausführung verbunden ist als beim Bieter selbst. Die Verwirklichung dieses Risikos muss zudem mit besonderen Nachteilen verbunden sein (VK Thüringen, Beschl. v. 10.07.2019 – 250-4003-15326/2019-E-010-G).
Die VK Lüneburg stuft in dieser Entscheidung die verfahrensgegenständlichen Leistungen bezüglich der Stahlverbundbrücke, dem Baugrubenverbau und dem Tunnelbau überzeugend als kritische Aufgaben ein.
Die Entscheidung zeigt insbesondere auf, dass der Dokumentation eine zentrale Bedeutung für die rechtssichere Festlegung eines Selbstausführungsgebots zukommt.
Auftraggeber müssen die Gründe für ein solches Gebot in einer Weise begründen, die den Anforderungen des § 8 VgV genügt.
Hier hatte der Auftraggeber ausführlich verschiedene Gründe für das Selbstausführungsgebot in einem vierseitigen Vermerk aufgeführt. Dabei stellte er einen konkreten Bezug zu den betroffenen Leistungsbestandteilen her und leistete detaillierte Ausführungen dazu, welche technischen, wirtschaftlichen und verkehrlichen Nachteile ohne das Selbstausführungsgebot entstehen könnten.
Bei der nationalen Vergabe von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen ist ein Selbstausführungsgebot hingegen grundsätzlich ohne Weiteres zulässig. Es darf auch eine vollständige Selbstausführung durch den Bieter bzw. die Mitglieder einer Bietergemeinschaft vorgegeben werden.
So darf der Auftraggeber bei der Vergabe von Dienst- und Lieferleistungen im Anwendungsbereich der UVgO vorschreiben, dass alle oder bestimmte Aufgaben bei der Leistungserbringung unmittelbar vom Auftragnehmer selbst oder im Fall einer Bietergemeinschaft von einem Teilnehmer der Bietergemeinschaft ausgeführt werden müssen (§ 26 Abs. 6 UVgO).
Im Anwendungsbereich der VOB/A darf ebenfalls eine Selbstausführung gefordert werden. Dies folgt unter anderem aus der Regelung des § 6 Abs. 3 VOB/A wonach sich an einem Vergabeverfahren nach der VOB/A grundsätzlich nur solche Unternehmen beteiligen und Aufträge erhalten dürfen, die zumindest einen Teil der zu vergebenden Leistungen selbst ausführen (vgl. Glahs in: Kapellmann/Messerschmidt VOB-Kommentar, Teil A/B, 8. Auflage 2022, § 6 VOB/A Rn. 20 m.w.N.).
Für Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte mit Relevanz für den Binnenmarkt hat der EuGH allerdings entschieden, dass der öffentliche Auftraggeber nicht pauschal vorgeben darf, dass der Auftrag oder die „Hauptleistung” durch den Auftragnehmer selbst auszuführen ist (EuGH, Urt. v. 05.04.2017 – C–298/15). Sofern eine Binnenmarktrelevanz besteht, sollte der Einsatz von Nachunternehmern somit grundsätzlich zugelassen werden (vgl. zur Binnenmarktrelevanz etwa: Dörr in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 4. Auflage 2022, Einleitung, Rn. 185-188).
Falls für bestimmte Leistungsbereiche ein Selbstausführungsgebot vorgegeben werden soll, sollte in Anlehnung an die Rechtslage im Oberschwellenbereich sorgfältig geprüft und dokumentiert werden, ob sich dies aufgrund von berechtigten Interessen des Auftraggebers rechtfertigen lässt (vgl. Hövelberndt in: Münchener Kommentar zum Wettbewerbsrecht 4. Auflage 2022, § 6 VOB/A Rn. 56).
Die Entscheidung verdeutlicht, dass Selbstausführungsgebote im Oberschwellenbereich hohen Anforderungen unterliegen. Bei einer sorgfältigen Prüfung und entsprechender Dokumentation der Gründe kann ein Selbstausführungsgebot jedoch durchaus vergaberechtskonform sein.
Das Selbstausführungsgebot muss in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen transparent vorgegeben werden. Nicht transparent ist beispielsweise eine pauschale Vorgabe, wonach für „wesentliche Teile“ der Leistungen ein Selbstausführungsgebot gelten soll (OLG Rostock, Beschl. v. 23.04.2018 – 17 Verg 1/18).
Bieter müssen darauf achten, aus ihrer Sicht unzulässige Selbstausführungsgebote rechtzeitig zu rügen. So hat etwa die VK Sachsen im Jahr 2021 entschieden, dass es sich bei der teilweisen Untersagung der Möglichkeit der Einbindung von Nachunternehmern um einen Umstand handelt, der sich einem Bieter bei der Kalkulation aufdrängen und der somit vor Angebotsabgabe gerügt werden muss (VK Sachsen, Beschl. v. 25.06.2021 – 1/SVK/009-21).
Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei der Morgenstern Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Hamburg. Er berät Auftraggeber und Bieter zu sämtlichen Aspekten des Vergaberechts
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