Ab Kenntnis des Vergaberechtsverstoßes bleiben einem Unternehmen gemäß § 101 b Abs. 2 GWB nur 30 Kalendertage, um eine unzulässige „de facto“-Vergabe mit einem Nachprüfungsverfahren anzugreifen und die Unwirksamkeit des Vertrags feststellen zu lassen. Danach ist ein entsprechender Antrag unzulässig. Die Frist beginnt aber grundsätzlich nicht schon bei Kenntnis allein der tatsächlichen Umstände, erforderlich ist auch eine laienhafte Wertung als Vergaberechtsverstoß. Das OLG München hat diese Anforderung der rechtlichen Wertung nun offenbar eingrenzend ausgelegt (OLG München, Beschluss vom 13.06.2013, AZ.: Verg 1/13).
Der Fall
Das Land Bayern hatte im Jahr 2007 eine Baukonzession für einen Hochschulcampus ausgeschrieben. Der private Konzessionär führte daraufhin ohne europaweites Vergabeverfahren einen Realisierungswettbewerb durch, an dem er zehn frei gewählte Architekturbüros beteiligte. Als anschließend der Zweitplatzierte des Wettbewerbs mit den Planungsleistungen beauftragt werden sollte, legte der Erstplatzierte hiergegen Nachprüfungsantrag ein. Er bekam in der Sache zwar nicht Recht. Jedoch stellte das OLG München dabei erstmals klar, dass die vorliegende Beauftragung der Planungsleistungen grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Vergaberechts unterfiel. Der Baukonzessionär sei Auftraggeber im Sinne des § 98 Nr. 6 GWB und hätte die Planungsleistungen zwar nicht nach den Vorschriften der VOF, jedenfalls aber nach den allgemeinen Grundsätzen des Vergaberechts europaweit ausschreiben müssen.
Kurz nach Veröffentlichung dieser Entscheidung am 7. April 2012 legte nun auch ein bislang nicht beteiligtes Wiener Architekturbüro Nachprüfungsantrag ein. Das Unternehmen hatte schon Ende 2010 von dem vorangehenden Realisierungswettbewerb erfahren und in erfolglosen Gesprächen versucht, nachträglich noch beteiligt zu werden. Es hatte aber auch nach Veröffentlichung der Ergebnisse des Wettbewerbs im Oktober 2011 nichts weiter unternommen. Unter Berufung auf die neue Entscheidung des OLG München griff es nun den seiner Ansicht nach vergaberechtswidrig ohne europaweites Vergabeverfahren geschlossenen Vertrag an.
Kenntnis der tatsächlichen Nichtberücksichtigung kann ausreichen
Ohne Erfolg! Das OLG München wies den Nachprüfungsantrag als verspätet zurück, da die 30-Tagesfrist nicht eingehalten sei. Maßgebend war aus seiner Sicht, dass das Wiener Architekturbüro schon seit Ende 2010 von dem Realisierungswettbewerb und der eigenen Nichtberücksichtigung wusste. Dabei rechnete es ihm die Kenntnis des Bruders des Geschäftsführers aus entsprechenden Vorgesprächen mit dem Baukonzessionär zu. Dieser war nämlich selbst Geschäftsführer eines Berliner Architekturbüros, wobei beide Architekturbüros in der Außendarstellung als Einheit auftraten. Spätestens nach Veröffentlichung des Ergebnisses des Wettbewerbs im Oktober 2011 habe es jedenfalls die erforderliche Kenntnis gehabt. Da es daraufhin untätig geblieben war, durfte der Auftraggeber darauf vertrauen, dass kein Nachprüfungsantrag gegen die nachfolgende Vergabe der Planungsleistungen eingeleitet werde.
Kenntnis auch bei neuer Rechtsprechung
Die damalige Unkenntnis der vergaberechtlichen Einordnung änderte daran nichts. Zu diesem Ergebnis kam das Gericht durch eine Auslegung der Vorschrift des § 101b Abs. 2 GWB nach Sinn und Zweck sowie unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben. Im Einzelnen führte das Gericht aus:
· Es handele sich um eine atypische Fallkonstellation. Der Zielsetzung nach erfasse § 101b GWB Fälle, in denen ein Unternehmen erst durch den Vertragsschluss überhaupt erst von einer zu vergebenden Leistung erfahre. Hier aber sei dem Vertragsschluss ein über ein Jahr dauerndes Wettbewerbsverfahren vorangegangen, von dem das betroffene Architekturbüro auch gewusst habe.
· Es würde der Zielsetzung des § 101b GWB widersprechen, wenn auch solche Fälle erfasst würden, in denen aufgrund einer Änderung oder Neuorientierung der Rechtsprechung die Ausschreibungspflicht auf Sachverhalte übertragen wird, die bislang von allen Beteiligten – insbesondere auch der Vergabestelle- als nicht ausschreibungspflichtig angesehen wurden. § 101b GWB diene nicht dazu, dass am Ausgangsverfahren nicht beteiligte Dritte nach länger dauernden gerichtlichen Verfahren, an deren Ende erstmals eine Ausschreibungspflicht festgestellt werde, alte Verträge „wieder aufrollen“ können.
· Schließlich durfte der Auftraggeber aufgrund der Vorgespräche im Jahr 2010 und nachdem das veröffentlichte Ergebnis des Teilnahmewettbewerbs unangefochten geblieben war, darauf vertrauen, dass das Wiener Architekturbüro Kenntnis von dem Auftrag und kein Interesse mehr daran hätte und die anschließende Vergabe nicht angreifen würde. Unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB, der auch im Vergaberecht gelte, war das Unternehmen nicht mehr schutzwürdig. Das Gericht verweist hier auf den Rechtsgedanken der Verwirkung. Dabei hebt es besonders hervor, dass es dem Architekturbüro ja freigestanden hätte, ähnlich wie zuvor der Erstplatzierte, das Ergebnis des Realisierungswettbewerbs anzugreifen und damit schon zu einem früheren Zeitpunkt die Ausschreibungspflicht der Leistung durchzusetzen.
Die Entscheidung des OLG München schützt das Interesse an wirksamen und vollziehbaren Verträgen. Sie begrenzt so – über den Gedanken der „Verwirkung“ nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB hinaus – ins Endlose reichende rechtliche Risiken bei neuer Rechtsprechung. Dabei ist die Eingrenzung des rechtlichen Wertungselements nur konsequent: schließlich sehen die zugrunde liegenden EU-Rechtsmittelrichtlinien auch nur Fristen vor, die an die (objektive) Information seitens des Auftraggebers und nicht an die (subjektive) Kenntnis oder gar Wertung des Bieters anknüpfen (vgl. Art. 2 f) Abs. 1, a) der RL 89/665/EWG und der RL 92/13/EWG). Dementsprechend hat schon das OLG Düsseldorf klargestellt, dass § 101b Abs. 2 GWB (verschärfend) europarechtskonform auszulegen sei (vgl. OLG Düsseldorf Beschluss vom 1.08.2012, AZ.: Verg 15/12). Zu beachten ist jedoch, dass die Entscheidung die Besonderheiten des Falls herausstellt, so dass abzuwarten bleibt, inwieweit sich im Hinblick auf Rechtsprechungsänderungen generell eine großzügigere Praxis etablieren wird.
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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