Seit der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 13.12.2017 (s. Vergabeblog.de vom 01/02/2018, Nr. 35321) besteht eine große Rechtsunsicherheit für öffentliche Auftraggeber: Muss auch im Unterschwellenbereich eine Vorabinformation vor Zuschlagserteilung erfolgen? Und wenn ja, führt ein Verstoß gegen diese Pflicht zur Nichtigkeit des abgeschlossenen Vertrages? Das OLG Düsseldorf hatte beide Fragen bejaht. Nunmehr hat sich das Kammergericht ausführlich mit eben diesen Rechtsfragen auseinandergesetzt und beide Fragen verneint. Hiermit liegt das Kammergericht auf einer Linie mit dem OLG Celle, welches zwei Tage später (Urteil vom 09.01.2020 – 13 W 56/19) zum selben Ergebnis kam.
Damit steht nun mit jedenfalls für öffentliche Auftraggeber mit Gerichtsstand Berlin fest, dass vor Zuschlagserteilung im Unterschwellenbereich keine Information-und Wartepflicht besteht und abgeschlossene Verträge rechtswirksam sind.
§§ 134, 135 GWB; § 134 BGB; §§ 935, 940 ZPO; Art. 3, 19 Abs. 4 GG; Art. 45, 56 AEUV
Leitsatz
Sachverhalt
Im Rahmen eines nationalen Vergabeverfahrens nach den Vorschriften des 1. Abschnitts der VOB/A hat sich der spätere Kläger und einem Angebot beteiligt. Dieses belegte nach dem Submissionsprotokoll (der Preis war das alleinige Zuschlagskriterium) den ersten Wertungsrang. Auf entsprechende Aufforderung hin übersendete der Bieter dem Auftraggeber am 07.10.2019 noch fehlende Unterlagen. Am 10.10.2019 erhielt der Bieter die Mitteilung, dass sein Angebot aufgrund fehlender Zertifikate ausgeschlossen worden sei. Der Bieter beanstandete dies und erfuhr hierbei, dass der Auftraggeber den Zuschlag bereits am 09.10.2019 auf das Angebot eines anderen Bieters erteilt hatte.
Hiergegen wendete sich der Bieter mit einem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes an das Landgericht Berlin mit dem Ziel, dem Auftraggeber die weitere Durchführung des Vergabeverfahrens einstweilen zu untersagen. Hierbei berief sich der Bieter maßgeblich auf die eingangs erwähnte Entscheidung des OLG Düsseldorf, wonach im Unterschwellenbereich eine ungeschriebene Informations- und Wartepflicht bestehe und ein Verstoß gegen diese Pflicht zur Nichtigkeit des geschlossenen Vertrages führe.
Nachdem das Landgericht den Antrag zurückgewiesen hatte, wendete sich der Bieter gegen diese Entscheidung mit seiner Berufung an das Kammergericht.
Die Entscheidung
Das Kammergericht bestätigt die Entscheidung des Landgerichts und weist die Berufung zurück. Hierbei referiert das Kammergericht zunächst ausführlich die im Unterschwellenbereich bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten für Bieter, welche sich in ihren Rechten verletzt sehen. Hierbei weist das Kammergericht darauf hin, dass bei Binnenmarktrelevanz des zu vergebenden Auftrages die Grundfreiheiten aus Art. 45, 56 AEUV zu beachten sind. Die im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens durchsetzbaren Rechte erlöschen jedoch mit der wirksamen Vergabe des Auftrages. Nach einer solchen Beendigung des Verfahrens können Bieter lediglich Schadensersatzansprüche geltend machen.
Rechtliche Würdigung
Nach Ansicht des Kammergerichts liegt eine wirksame Beendigung des Vergabeverfahrens durch die wirksame Zuschlagserteilung an den anderen Bieter vor. Insbesondere ist der Vertrag nicht nichtig. Das Kammergericht diskutiert zunächst eine analoge Anwendung des § 134 GWB, welcher die Informations- und Wartepflicht im Oberschwellenbereich regelt.
Da in Berlin anders als in Thüringen, Sachsen Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und seit dem 01.01.2020 auch in Niedersachsen keine landesgesetzliche Regelung besteht, existiert zunächst auch keine geschriebene Informations- und Wartepflicht. Ein Erfordernis, dass der Landesgesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen zum Erlass einer solchen Regelung verpflichtet wäre, kann das Kammergericht nicht erkennen. Eine ungeschriebene Informations- und Wartepflicht besteht entgegen der Ansicht des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 2017 ebenfalls nicht. Die vom OLG Düsseldorf in Bezug genommenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Beamtenrecht, des OVG Berlin-Brandenburg zum Gewerberecht und des Europäischen Gerichts 1. Instanz (EuG) sind nicht übertragbar. Hierbei setzt sich das Kammergericht ausführlich mit den jeweiligen Entscheidungen auseinander.
Weiter thematisiert das Kammergericht, ob sich eine Informations- und Wartepflicht auf europarechtlicher Grundlage herleiten lässt. Nach Ansicht des Kammergerichts kann sich eine solche Pflicht aus den Grundfreiheiten des AEUV herleiten, allerdings nur bei Aufträgen mit Binnenmarktrelevanz (EuG, Urt. v. 20.05.2010 T-258/06 Rn. 74, 87). Da sich der Wert des im konkreten Fall zu beurteilenden Auftrages nur auf etwa ein Fünftel des für Bauaufträge maßgeblichen Schwellenwerts beläuft, war für das Kammergericht eine Binnenmarktrelevanz weder festgestellt noch ersichtlich. Ein bloßer Verweis auf eine relative Grenznähe zum EU Ausland genüge für sich ebenfalls nicht für die Annahme einer Binnenmarktrelevanz.
Schließlich gibt das Kammergericht zu bedenken, dass auch das unterstellte Bestehen einer Informations- und Wartepflicht nicht zur Unwirksamkeit des abgeschlossenen Vertrages nach § 134 BGB führen würde. Nach Ansicht des Kammergerichts führt bereits das bloße Bestehen einer Informations- und Wartepflicht nicht zu einem Verbot eines Vertragsschlusses ohne Beachtung dieser Pflicht. So diene die Unwirksamkeitsvorschrift für den Oberschwellenbereich, § 135 GWB, gerade dem Ziel, die zu erheblicher Rechtsunsicherheit führende Folge einer allgemeinen Unwirksamkeit der unter Verstoß gegen § 134 GWB geschlossenen Verträge nach § 134 BGB zu begegnen.
Darüber hinaus stelle eine Informations- und Wartepflicht nur ein einseitiges, den öffentlichen Auftraggeber bindendes Verbotsgesetz dar. Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des BGH führt das Kammergericht aus, dass bei einem Verstoß gegen ein einseitiges Verbotsgeschäft das Rechtsgeschäft in der Regel gültig bleiben muss, es sei denn, dass es mit Sinn und Zweck des Verbotes nicht vereinbar wäre, die durch das Geschäft getroffene Regelung hinzunehmen und bestehen zu lassen. Einen solchen Ausnahmefall will das Kammergericht im Unterschwellenbereich nicht annehmen. Insbesondere bestünde ein Wertungswiderspruch gegenüber dem Oberschwellenbereich, da dort an die Nichtigkeit eines unter Verletzung der Informations- und Wartepflicht geschlossenen Vertrages in § 135 GWB einschränkende Vorgaben gemacht werden (zeitliche Begrenzung und positive Feststellung durch die Vergabekammer). Außerdem seien in einem solchen Falle schutzwürdige Interessen des Auftragnehmers verletzt, welcher gerade nicht Adressat der Informations- und Wartepflicht ist.
Die letztgenannten Erwägungen sind insbesondere für diejenigen Bundesländer von erheblicher Relevanz, in welchen die Landesgesetzgeber eine Informations- und Wartepflicht vorgesehen haben (Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen). Sämtliche dieser Landesregelungen beinhalten keine Sanktionsvorschrift entsprechend § 135 GWB oder § 134 BGB. Während in Sachsen-Anhalt die für Unterschwellenvergaben zuständige 3. Vergabekammer stets die Nichtigkeit eines unter Verstoß gegen die Informations- und Wartepflicht geschlossenen Vertrages annimmt (bspw. VK Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14.08.2018 – 3 VK LSA 48/18), hat das Landgericht Rostock für die Rechtslage in Mecklenburg-Vorpommern eine solche Nichtigkeit verneint (LG Rostock, Urteil vom 06.11.2015 – 3 O 703/15). Da sich das OLG Celle in seinem angesprochenen Urt. v. 09.01.2020 mit dieser Frage für Niedersachsen nicht auseinandergesetzt hat, da der dortige § 16 NTVergG erst ab dem 01.01.2020 gilt, verbleibt auch in diesem Bereich weiterhin eine Rechtsunsicherheit für unter Verstoß gegen die Pflicht geschlossene Verträge.
Praxistipp
Das Kammergericht beseitigt zunächst für öffentliche Auftraggeber mit Gerichtsstand in Berlin die Rechtsunsicherheit im Umgang mit einer Informations- und Wartepflicht im Unterschwellenbereich. Hier bestehen zunächst keine Rechtsrisiken bei einer unterbliebenen Information. Kommt einem Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse im Sinne einer Binnenmarktrelevanz zu, besteht zwar eine Informations- und Wartepflicht. Hier lässt das Kammergericht jedoch klar erkennen, dass die Verletzung einer solchen Pflicht nicht zur Vertragsnichtigkeit führen kann.
Öffentliche Auftraggeber in Bundesländern mit einer geschriebenen Informations- und Wartepflicht müssen (auch weiterhin) gesetzeskonform handeln und dieser Pflicht nachkommen. Bei Verletzung der Pflicht besteht aber auch nach Ansicht des Kammergerichts nicht die Gefahr einer Vertragsnichtigkeit, da die Informations- und Wartepflicht nur ein einseitiges Verbot darstellt und eine Nichtigkeit den Vertragspartner unangemessen benachteiligen würde.
Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass ein bundesweit einheitlicher rechtssicherer Zustand nur durch eine bundeseinheitliche Regelung geschaffen werden kann. Ob dies aufgrund der weiterhin unklaren und streitigen Gesetzgebungskompetenzen für die Regelung des Rechtsschutzes im Unterschwellenbereich zeitnah erfolgt, ist zu bezweifeln, wäre jedoch im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen.
Dr. Oskar Maria Geitel ist Partner, Fachanwalt für Vergaberecht sowie Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und Rechtanwalt bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB in Berlin. Er berät öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Tätigkeit stellt die rechtliche Begleitung von Bauvorhaben bezüglich aller Fragen des Baurechts dar, welche sich unmittelbar an die Begleitung des Vergabeverfahrens anschließt. Herr Geitel ist Kommentarautor, Lehrbeauftragter für Vergaberecht und Dozent bei diversen Bildungseinrichtungen.
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