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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 06/02/2023 Nr. 52275

Immer wieder Ärger mit Inhouse-Geschäften (EuGH, Urt. v. 22.12.2022 – C-383/21 u. C-384/21 – Sambre & Biesme)

Entscheidung-EUMit den in § 108 GWB geregelten Vergabeausnahmen bei öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit sollte die Rechtsunsicherheit bei Inhouse-Geschäften und interkommunaler Zusammenarbeit beseitigt werden. Erreicht wurde das gesetzgeberische Ziel noch nicht. Vor allem Beschaffungen bei gemeinsamer Kontrolle mehrerer öffentlicher Auftraggeber sind fehleranfällig, wie ein Richterspruch des EuGH beweist.

§ 108 Abs. 5 u. 6 GWB; Art. 12 Abs. 3 u. 4 RL 2014/24/EU.

Leitsatz

Die gemeinsame Kontrolle durch mehrere öffentliche Auftraggeber bei einem Inhouse-Geschäft verlangt, dass der Auftraggeber in den beschlussfassenden Organen des Auftragnehmers entweder durch einen eigenen Vertreter oder durch einen Stellvertreter eines anderen öffentlichen Auftraggebers repräsentiert sein muss.

Sachverhalt

Die gemeinwirtschaftliche Wohnungsbaugenossenschaft Sambre & Biesme (kurz: Wohnungsbaugenossenschaft) hat u.a. die belgische Gemeinde Farciennes (kurz: Gemeinde) als Mitglied. Wohnungsbaugenossenschaft und Gemeinde wollten im Gemeindegebiet ein ökologisches Wohnbauprojekt verwirklichen. Dazu beauftragte die Wohnungsbaugenossenschaft eine andere gemeinwirtschaftliche, aber im Planungsbereich tätige Genossenschaft, die Igretec, ohne ein Vergabeverfahren durchzuführen. Dort waren – neben der Gemeinde und weiteren Kommunen – andere nichtkommunale Stellen sowie die Wohnungsbaugenossenschaft mit einem nur symbolischen Anteil von 6,20 Euro Mitglied (Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge v. 9.6.2022 C-383/21 u. C-384/21, Rdnr. 12). In den Beschlussorganen der Igretec lag der Stimmenanteil sehr deutlich bei den anderen Kommunen. In den Verwaltungsräten von Wohnungsbaugenossenschaft und Igretec war auch ein Gemeinderatsmitglied vertreten. Im Verwaltungsrat der Igretec war die Wohnungsbaugenossenschaft selbst nicht vertreten.

Die Auftragserteilung an Igretec wurde von der Nachprüfungs- und Aufsichtsbehörde für nichtig erklärt. Die Wohnungsbaugenossenschaft (Rs. C-383/21) und Gemeinde (Rs. C-384/21) ersuchten daraufhin um Rechtsschutz. Sie waren der Meinung, dass sowohl ein Inhouse-Geschäft mit gemeinsamer Kontrolle und eine interkommunale Zusammenarbeit die vergabefreie Direktbeauftragung rechtfertigen würden.

Die Entscheidung

Bei der Auslegung von Normen sind (1.) der Wortlaut, (2.) der Zusammenhang, (3.) die Ziele und (4.) auch die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen (Rdnr. 54).

Nach dem Wortlaut (1.) von § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB muss ein öffentlicher Auftraggeber, der eine gemeinsame Kontrolle ausübt, über einen Vertreter in den beschlussfassenden Organen des Auftragnehmers verfügen. Die Vertretung zählt zu einem der drei in Abs. 5 genannten Kriterien (Vertretungskriterium, Einflusskriterium und Interessenkriterium), um eine gemeinsame Kontrolle i.S.d. § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB bejahen zu können (Rdnr. 55 ff.).

Der Zusammenhang (2.) zu § 108 Abs. 1 u. Abs. 2 Satz 2 GWB, bei dem ein einziger öffentlicher Auftraggeber den Auftragnehmer auch indirekt kontrollieren kann, zeigt auf, dass bei der gemeinsamen Kontrolle nach § 108 Abs. 5 GWB dagegen keine mittelbare Kontrollmöglichkeit vorgesehen ist. Vielmehr muss der gemeinsam kontrollierende öffentliche Auftraggeber in den beschlussfassenden Organen des Auftragnehmers durch einen (Stell-)Vertreter selbst repräsentiert sein. Dieses Vertretungserfordernis kann daher nicht durch ein Mitglied dieser Organe erfüllt werden, das dort nur als Vertreter eines anderen öffentlichen Auftraggebers fungiert. Außerdem bestätigt die Tragweite der (materiellen) Voraussetzung nach § 108 Abs. 5 Nr. 2 GWB, wonach die gemeinsam kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber die strategischen Ziele und wesentlichen Entscheidungen des Auftragnehmers ausschlaggebend beeinflussen müssen, dass mit dem in § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB geregelten Vertretungserfordernis ein formelles Erfordernis geschaffen wurde (Rdnr. 59 ff.).

Die Inhouse-Ausnahme verfolgt das Ziel (3.), öffentlichen Auftraggebern die Erfüllung ihrer Aufgaben auch in Eigenleistung zu ermöglichen. Die Zielsetzung bestätigt daher, dass in den beschlussfassenden Organen des Auftragnehmers ein (Stell-)Vertreter des gemeinsam kontrollierenden öffentlichen Auftraggebers selbst handeln muss. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein öffentlicher Auftraggeber seine eigenen Mittel einsetzt und selbst handelt, wenn er nicht in der Lage ist, in den beschlussfassenden Organen durch einen in seinem Namen handelnden (Stell-)Vertreter Einfluss zu nehmen, und seine Interessenwahrnehmung folglich davon abhängt, ob sie mit den Interessen der anderen vertretenen öffentlichen Auftraggeber übereinstimmt (Rdnr. 71 ff.).

Die Entstehungsgeschichte (4.) des Inhouse-Geschäftes beweist außerdem, dass der Unionsgesetzgeber das Vertretungserfordernis bei gemeinsamer Kontrolle stärken wollte. Denn vor der Inhouse-Regulierung im Jahr 2014 war die Vertretung in den beschlussfassenden Organen nur einer der nach der Rechtsprechung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, um festzustellen, ob die strategischen Ziele und wesentlichen Ziele ausschlaggebend beeinflusst werden konnten. Da das Vertretungserfordernis nunmehr eigenständig in § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB genannt ist, stellt es eine von § 108 Abs. 5 Nr. 2 GWB unabhängige Voraussetzung dar (Rdnr. 68 ff.).

Für den vorliegenden Sachverhalt heißt dies, dass die Wohnungsbaugenossenschaft zum einen selbst über keinen eigenen Vertreter in den beschlussfassenden Organen von Igretec verfügt. Und zum anderen handelt auch das Gemeinderatsmitglied, obwohl es im Verwaltungsrat der Wohnungsbaugenossenschaft saß, im Verwaltungsrat von Igretec nur als Vertreter der Gemeinde selbst, nicht aber der Wohnungsbaugenossenschaft. Die für eine Inhouse-Ausnahme nötige gemeinsame Kontrolle scheitert somit am fehlenden Vertretungskriterium nach § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB (Rdnr. 74 f.).

Schließlich ist vorliegend auch keine interkommunale Zusammenarbeit nach § 108 Abs. 6 GWB anzunehmen. Insoweit mangelt es an einer kollaborativen Zusammenarbeit zwischen Wohnungsbauunternehmen und Igretec. Zwar sind die Leistungen von Igretec Teil der Zusammenarbeit zwischen dem Wohnungsbauunternehmen und der Gemeinde, um beide bei dem ökologischen Wohnbauprojekt zu unterstützen. Allerdings handelt es sich bei der Realisierung des Öko-Viertels in der Gemeinde um kein von Igretec selbst verfolgtes Ziel. Ein allen öffentlichen Auftraggebern gemeinsames Ziel fehlt – wie hier – immer dann, wenn ein öffentlicher Auftraggeber (hier: Igretec) keine Ziele anstrebt, die er mit den anderen öffentlichen Auftraggebern (hier: Wohnungsbaugenossenschaft) teilt, sondern sich darauf beschränkt, lediglich zur Zielerreichung beizutragen, die nur diesen anderen öffentlichen Auftraggebern gemeinsam sind (hier: Gemeinde und Wohnungsbaugenossenschaft). Unter solchen Umständen hat der öffentliche Auftrag nur den Erwerb einer Leistung gegen Zahlung eines Entgeltes zum Gegenstand. Somit fehlt es zwischen Wohnungsbaugenossenschaft und Igretec auch an einer echten Zusammenarbeit gemäß § 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB.

Rechtliche Würdigung

Im Hinblick auf die fehlende Voraussetzung einer interkommunalen Zusammenarbeit nach § 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB bestätigt der EuGH seine Rechtsprechung [vgl. Vergabeblog.de vom 25/06/2020, Nr. 44376] zum Erfordernis einer echten Zusammenarbeit im Sinne eines kooperativen Konzeptes der von den öffentlichen Partnern initiierten Vertragskooperation. Eine Zusammenarbeit muss auf einer gemeinsamen Strategie der Kooperationspartner beruhen. Sie darf sich nicht auf eine bloße Geldzahlung oder Kostenerstattung des einen öffentlichen Auftraggebers beschränken.

Der EuGH präzisiert hingegen seine bisherige Spruchpraxis, wenn die auftragsausführende juristische Person durch mehrere öffentliche Auftraggeber gemeinsam nach § 108 Abs. 5 GWB kontrolliert wird. Die Möglichkeit einer gemeinsam ausgeübten Kontrolle war bereits im prominenten Teckal-Urteil aus dem Jahr 1999 angedeutet (EuGH, Urt. v. 18.11.1999 – C-107/98 – Teckal, Rdnr. 50). Diese Option hat der EuGH in den Folgejahren mehrfach bestätigt (EuGH, Urt. v. 19.04.2007 C-295/05 – Asemfo, Rdnr. 65; Urt. v. 13.11.2008 – C-324/07 – Coditel Brabant, Rdnr. 50). Später haben die Luxemburger Richter das Kontrollkriterium für Gemeinschaftsunternehmen der öffentlichen Hand sogar verschärft: Wenn mehrere öffentliche Stellen eine gemeinsame Einrichtung zur Erfüllung einer gemeinsamen Gemeinwohlaufgabe einschalten, ist es zwar nicht unbedingt erforderlich, dass jede dieser Stellen allein ein individuelles Kontrollrecht über diese Einrichtung hat, doch darf die über die Einrichtung ausgeübte Kontrolle nicht nur auf der Kontrollbefugnis der öffentlichen Stelle beruhen, die Mehrheitsaktionärin der betreffenden Einrichtung ist, da andernfalls das Konzept der gemeinsamen Kontrolle ausgehöhlt würde (Urteil vom 29.11.2012 – C-182/11 u. C-183/11 – Econord, Rdnr. 30).

Nunmehr stellt der EuGH heraus, dass das in § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB geregelte Vertretungserfordernis in den beschlussfassenden Organen des Auftragnehmers eine eigenständige formelle Voraussetzung gemeinsamer Kontrolle ist. Sie ist von den beiden übrigen in § 108 Abs. 5 Nr. 2 u. 3 GWB genannten (materiellen) Anforderungen (Einflusskriterium und Interessenkriterium) unabhängig und kommt damit eine eigenständige Rechtsbedeutung zu. Das Vertretungserfordernis ist demnach zu verneinen, wenn ein öffentlicher Auftraggeber in einem beschlussfassenden Organ selbst über keinen eigenen Vertreter verfügt (§ 108 Abs. 5 Nr. 1, Halbs. 1 GWB) oder sich dort auch nicht durch den Stellvertreter eines anderen öffentlichen Auftraggebers (§ 108 Abs. 5 Nr. 1, Halbs. 2 GWB) repräsentieren lässt. Letztere Möglichkeit geht auf den Änderungsantrag 23 des Ausschusses für Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten vom 26.09.2012 zum Kommissionsvorschlag vom 20.12.2011 für die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe zurück. Die genauen Beweggründe für die Einfügung des Halbs. 2 sind in dem Änderungsantrag nicht ausdrücklich dokumentiert. Ob die EU-Parlamentarier mit dem Halbs. 2 die Arbeitsfähigkeit der beschlussfassenden Organe sicherstellen wollten, wie teilweise kommentiert wird, erscheint nicht ausgeschlossen. Jedenfalls schwächt die Möglichkeit zur Stellvertretung das formelle Erfordernis der Selbstvertretung nach Halbs. 1 ab, kann aber zugleich die gemeinsame Kontrolle in der Praxis erleichtern. Schwierig wird es für Stellvertreter ohnehin dann, wenn sie gegenläufige Interessen der Vertretenen in einem beschlussfassenden Organ repräsentieren sollen. Für solche Fälle bedarf es klarer Weisungen der Vertretenen an den/die Stellvertreter, um die Kontrolle für jeden des/der von ihm/ihnen Vertretenen zu gewährleisten, um einem monokratischen Stimmverhalten des Stellvertreters entgegenzuwirken.

Eine Stellvertretung nach § 108 Abs. 5 Nr. 1, Halbs. 2 GWB liegt aber – wie hier – nicht schon dann vor, wenn lediglich ein anderer öffentlicher Auftraggeber (hier: Gemeinde) in dem beschlussfassenden Organ (hier: Igretec) seinen Vertreter entsandt hat. Dieser vertritt den nicht repräsentierten öffentlichen Auftraggeber (hier: Wohnungsbaugenossenschaft) keinesfalls automatisch mit, nur weil beide ein gemeinsames Beschaffungsprojekt (hier: ökologisches Wohnviertel) verwirklichen wollen.

Praxistipp

Die europäische Spruchpraxis beweist immer wieder die enge Auslegung von Ausnahmebestimmungen, wie der interkommunalen Zusammenarbeit und dem Inhouse-Geschäft. Ein öffentlicher Auftraggeber kommt im Hinblick auf das Vertretungskriterium nach § 108 Abs. 5 Nr. 1 GWB also nicht umhin, in den beschlussfassenden Organen des gemeinsam kontrollierten Auftragnehmers entweder selbst einen Vertreter zu entsenden oder wenigstens den Vertreter eines anderen öffentlichen Auftraggebers mit seiner Interessenwahrnehmung ausdrücklich stellvertretend zu bevollmächtigen. Ohne (Stell-)Vertreter kann es keine gemeinsame Kontrolle geben.

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Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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