Als eine der ersten Nachprüfungsinstanzen im Rahmen des KHZG hatte sich die VK Nordbayern mit dem Gebot der Losvergabe in Bezug auf den Fördertatbestand 2 auseinanderzusetzen. Die VK Nordbayern vertritt die Auffassung, dass das digitale Aufnahme- und Behandlungsmanagement einerseits sowie das Entlassmanagement andererseits in Fachlosen auszuschreiben sind, da für jene (Teil-)Leistungen unabhängige Bietermärkte bestehen. Hierbei betont die Vergabekammer insbesondere die Wichtigkeit der entsprechenden Dokumentation.
§ 97 Abs. 4 GWB, § 97 Abs. 6 GWB, § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KHSFV, § 21 Abs. 2 KHSFV
Mit Bekanntmachung im EU-Amtsblatt schrieb die Vergabestelle eines Krankenhauses die Beschaffung und Implementierung eines Patientenportalsystems i.S.d. § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KHSFV in einem Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus. Förderfähig im Sinne des § 19 KHSFV sind dabei Patientenportale, die ein digitales Aufnahme- und Entlassmanagement sowie das Überleitungsmanagement von Patientinnen und Patienten zu nachgelagerten Leistungserbringern ermöglichen. Eine Aufteilung in Lose erfolgte nicht.
Nach Ablauf der Frist für den Eingang der Teilnahmeanträge lagen 10 Teilnahmeanträge vor, wobei die Antragstellerin keinen Teilnahmeantrag einreichte. Zudem benannten 8 der 10 Bewerber einen Nachunternehmer für das Entlassmanagement, wobei 5 der 8 Bewerber die Antragstellerin als Nachunternehmerin benannten. Die übrigen 2 Bewerber deklarierten hingegen keinen Nachunternehmereinsatz.
Die Antragstellerin rügte die fehlende Losaufteilung vor Ablauf der Teilnahmefrist. Nachdem die Auftraggeberin der Antragstellerin mitteilte, der Rüge nicht abzuhelfen, reichte die Antragstellerin einen Antrag auf Nachprüfung gem. § 160 ff. GWB bei der zuständigen Vergabekammer ein.
Mit Erfolg! Nach Ansicht der Vergabekammer Nordbayern verletzt die beabsichtigte Gesamtvergabe die Antragstellerin in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 i.V.m. § 97 Abs. 4 S. 2 GWB. Bei den im Fördertatbestand 2 des KHZG zwar zusammengefassten Leistungen des Aufnahme- und Behandlungsmanagement einerseits und des Entlassmanagements andererseits handelt es sich gleichwohl um getrennte Bietermärkte, sodass die von der Vergabestelle vorgenommene Gesamtvergabe unzulässig sei.
Die Vergabekammer bekräftigt zwar zunächst, dass der Vergabestelle unstreitig ein Leistungsbestimmungsrecht zustehe, sodass die Leistung durch die Vergabestelle sowohl in Inhalt und Umfang individuell bestimmbar sei; gleichwohl bestehe das Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers nicht uneingeschränkt. Beschränkt wird jenes Recht durch das Gebot der Mittelstandsförderung. Hiernach seien Leistungen grundsätzlich in Losen zu vergeben, § 97 Abs. 4 S. 2 GWB. Unter Bezugnahme auf gleichlautende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.01.2012, VII-Verg 52/11) und München (OLG München, Beschl. v. 09.04.2015, Verg. 1/15) sei für die Losaufteilung von wesentlicher Bedeutung, ob ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen bestehe, wobei die aktuellen Marktverhältnisse maßgeblich seien.
Die Vergabestelle führt in dem zu entscheidenden Fall zur Begründung der Gesamtvergabe in dem Vergabevermerk aus, dass die Leistungen des FTB 2 nicht teilbar seien, da kein eigener Anbietermarkt bestehe, sodass kein Raum für eine Fachlosaufteilung existiere.
Dieser Auffassung folgt die Vergabekammer nicht. Die Vergabekammer geht davon aus, dass für die Teilleistung Entlassmanagement ein eigener Anbietermarkt bestehe. Dies begründet die Kammer neben abrufbaren Studien zum Entlassmanagement zudem mit der gesetzlichen Grundlage des GKV-Versorgungsstärkungsgesetz aus dem Jahr 2015. Danach umfasst gem. § 39 Abs. 1a SGB V die Krankenhausbehandlung ein Entlassmanagement.
Aufgrund dieser gesetzlichen Neuerung bestehe ein eigenständiger Markt an Unternehmen, die sich auf eine Softwarelösung für das Entlassmanagement spezialisiert haben. Zudem sprächen die unterschiedlichen Zielsetzungen sowie die funktionalen Anforderungen des Aufnahme- und Behandlungsmanagement einerseits und des Entlassmanagements andererseits, welche in der Förderrichtlinie zu § 21 Abs. 2 KHSFV (Richtlinie zur Förderung von Vorhaben zur Digitalisierung der Prozesse und Strukturen im Verlauf eines Krankenhausaufenthaltes von Patientinnen und Patienten nach § 21 Absatz 2 KHSFV des Bundesamtes für Soziale Sicherung vom 03.05.2021) manifestiert seien, für einen eigenständigen Bietermarkt. Zudem gebe es zum Zeitpunkt der Entscheidung keinen Anbieter am Markt, welcher sowohl eine Softwarelösung für das Aufnahme- und Behandlungsmanagement als auch eine Lösung für das Entlassmanagement anbiete.
Für die Vergabekammer letztlich entscheidend sind die eingereichten Teilnahmeanträge, da diese eine ausreichend objektive Grundlage für die Bewertung des Anbietermarktes darstellen. Aufgrund der Tatsache, dass sich 8 von 10 Unternehmen für das Entlassmanagement eines Nachunternehmers bedienten, ist von einem eigenständigen Bietermarkt für das Entlassmanagement auszugehen. Zudem stellt die Vergabekammer fest, dass sich aus den übrigen 2 Teilnahmeanträgen nicht hinreichend ergebe, dass die Leistung Patientenportal aus einer Hand erbracht werden könne. Vor diesem Hintergrund seien grundsätzlich Fachlose zu bilden.
Von der Losvergabe könne nur dann abgewichen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern, § 97 Abs. 4 S. 2 GWB, wobei die rechtliche Kontrolle der Nachprüfungsinstanzen eingeschränkt sei. Insoweit steht dem Auftraggeber eine Einschätzungsprärogative zu. Die Vergabekammer kann die Entscheidung der Vergabestelle, ob eine Gesamtvergabe aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen zulässig ist, lediglich dahingehend überprüfen, ob jene Abwägung auf einem vollständigen und zutreffenden Sachverhalt und nicht auf einer Fehlbeurteilung, beruht. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 29.04.2022 15 Verg 2/22) sei hier die Dokumentation im Vergabevermerk maßgeblich.
Nach Auffassung der Vergabekammer ist die Vergabestelle in dem zu entscheidenden Fall von einem unzutreffenden Sachverhalt, nämlich davon, dass für das Entlassmanagement kein eigener Anbietermarkt existiere, ausgegangen. Diese Beurteilung konnte insbesondere in der mündlichen Verhandlung widerlegt werden. Vor diesem Hintergrund wurde bei der Beurteilung im Rahmen des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB ein fehlerhafter Sachverhalt zugrunde gelegt, sodass der zustehende Beurteilungsspielraum überschritten wurde. Dies stelle bereits einen vergaberechtlichen Verstoß dar, sodass es auf die Frage, ob und inwieweit technische oder wirtschaftliche Gründe eine Gesamtvergabe erfordern, nicht mehr ankomme.
Die Entscheidung der Vergabekammer Nordbayern ist in dem vorliegenden Fall nachvollziehbar und folgerichtig, obgleich eine Entscheidung in der Sache, also ob wirtschaftliche oder technischen Gründe eine Gesamtvergabe in dem zu entscheidenden Fall erfordern, nicht getroffen wurde (bzw. werden musste). Vielmehr beschränkt sich die Kammer bei Ihrer Entscheidung auf die fehlerhafte Sachverhaltsermittlung und die mangelnde Dokumentation im Vorfeld des Vergabeverfahrens.
Dies verdeutlicht einmal mehr, dass eine Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der Losvergabe i.S.d § 97 Abs. 4 GWB unabdingbar und eine zutreffende Analyse des Anbietermarktes wesentlich ist. Hierbei lässt die Vergabekammer sämtliche Informationsgewinnung zu, sodass u.a. öffentlich einsehbare Studien bei der Abwägung der Losvergabe herangezogen werden können und müssen.
Die Vergabekammer Nordbayern vertritt in dem vorliegenden Beschluss die Rechtsauffassung weiterer Nachprüfungsinstanzen zur Losvergabe (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.04.2022 – 15 Verg 2/22; VK Bund, Beschluss vom 10.03.2022 – VK 1-19/22; VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.01.2022 – 1 VK 63/21; VK Westfalen, Beschluss vom 13.08.2021 – VK 3-26/21).
Gleichwohl bezieht sich der vorliegende Beschluss der Vergabekammer Nordbayern neben dem Beschluss des OLG Karlsruhe vom 07.09.2022 Az.: 15 Verg 8/22) zum Ausschluss von Tochtergesellschaften von US-amerikanischen Cloud-Dienst-Anbietern aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken auf einen Sachverhalt im KHZG, sodass sich sämtliche KHZG-Fördermittelempfänger mit dem Beschluss der Vergabekammer Nordbayern fortan im Besonderen auseinandersetzen müssen. Zwar betrifft der vorliegende Beschluss ausschließlich den Fördertatbestand 2 (Patientenportale) des KHZG. Gleichwohl dürfte jener Beschluss dafür sensibilisieren, auch in den übrigen Fördertatbeständen das Gebot der Mittelstandsförderungspflicht des § 97 Abs. 4 S. 1 GWB sorgfältig zu prüfen.
Nach dem Grundsatz Wer schreibt, der bleibt sollen und müssen sämtliche Erwägungen zum Verzicht auf die Losvergabe zwingend im Vergabevermerk niedergelegt werden.
Aufgrund des sich rasant verändernden Marktgeschehens im Gesundheitssektor sind Vergabestellen dabei gut beraten, sich fortlaufend über die Marktverhältnisse zu informieren, um insbesondere bei geförderten (KHZG-)Projekten keine vergaberechtlichen Fehler zu begehen, die womöglich auch fördermittelrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Die Vergabekammer weist völlig zu Recht darauf hin, dass die Dokumentation im Vergabevermerk hierbei entscheidend ist.
Der Autor Henrik Trockel ist Rechtsanwalt bei der aurantia Rechtsanwalts- und Steuerberatungsgesellschaft mbH am Standort Oberhausen und berät seit 2018 Mandanten auf den Gebieten des Vergabe- und Beihilferechts sowie des Zuwendungsrechts. Im Bereich des Vergaberechts steht Herr Trockel öffentlichen Auftraggebern beim Strukturieren und Durchführen von Vergabeverfahren beratend und gestaltend zur Seite. Zu seinem vergaberechtlichen Tätigkeitsfeld gehört ebenso die verfahrensbegleitende Unterstützung auftragsinteressierter Unternehmen beim Erstellen von Teilnahmeanträgen sowie Angeboten. Ein weiterer Fokus seiner beruflichen Tätigkeit ist die Durchführung von Schulungsveranstaltungen im Bereich des Vergabe- und Zuwendungsrechts.
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