Auftraggeber dürfen nur solche Leistungen vergeben, die sich für einen durchschnittlichen Bieter eindeutig aus der Bekanntmachung und den Vergabeunterlagen ergeben. Sie dürfen sich nicht mit einem Verweis auf eine nationale Rechtsnorm begnügen und auf dieser Grundlage mehr Leistungen vergeben als unmittelbar aus den Vergabeunterlagen ersichtlich. Dies hat der EuGH am 22.04.2010 (C-423/07) entschieden und damit seine Anforderungen an die Bekanntmachungspflicht konkretisiert. Zudem hat er sich erneut zu den Voraussetzungen geäußert, unter denen die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Vergabefehlern betreiben darf.
Der Fall des EuGH betrifft ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Spanien wegen der Vergabe einer Baukonzession für den Teilabschnitt einer Autobahn. Nach der ursprünglichen Bekanntmachung im EU-Amtsblatt und den ursprünglichen Vergabeunterlagen umfasste die Baukonzession unter anderem die Erweiterung eines Teilabschnitts der Autobahn um einen vierten Fahrstreifen in beide Richtungen. Der Ausschreibungsgegenstand wurde später geändert, so dass es eine neue Bekanntmachung und neue Vergabeunterlagen gab; diese enthielten die genannte Erweiterung um einen vierten Fahrstreifen nicht mehr.
Der anschließende Zuschlag umfasste jedoch wieder den Bau dieses vierten Fahrstreifens. Zudem enthielt die vergebene Baukonzession den Bau weiterer Fahrstreifen und eines Tunnels, die weder in der ersten noch in der zweiten Bekanntmachung und den dazugehörigen Vergabeunterlagen aufgetaucht waren. Auf die Hinweise von nicht am Vergabeverfahren beteiligten Personen leitete die EU-Kommission daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Spanien ein.
Die spanische Regierung verteidigte sich mit dem Argument, die Vergabe habe nicht nur auf den Ausschreibungsbedingungen beruht, sondern auch auf dem nationalen Autobahngesetz. Danach dürfen Bieter auch zusätzliche Arbeiten für Autobahnen vorschlagen. Der Verzicht auf die erneute Nennung aller Baumaßnahmen im Rahmen der zweiten Ausschreibung habe es der Initiative und Kreativität der Bieter überlassen, Bauwerke zur Lösung der Verkehrsprobleme vorzuschlagen. Zudem habe der erfolgreiche Bieter die zusätzlichen Baumaßnahmen nicht selbst ausgeführt, sondern seinerseits in mehreren Vergabeverfahren vergeben. Schließlich hätte die EU-Kommission nicht tätig werden dürfen, da die Beschwerden von Personen ohne tatsächliches oder potenzielles Interesse an dem Zuschlag eingereicht worden seien und das höchste spanische Gericht die Rechtmäßigkeit der Vergabe bestätigt habe.
Gleichlauf von Unterlagen und Zuschlag
Diese Argumente hat der EuGH nun zurückgewiesen. Er stellt klar, dass sich eine Vergabestelle nicht mit dem Verweis auf eine nationale Regelung ihren Bekanntmachungspflichten entziehen kann. Ein normal unterrichteter und sorgfältiger Bieter muss den Auftragsgegenstand klar erkennen können; diese Erkennbarkeit darf nicht davon abhängen, dass die Bekanntmachung oder die Leistungsbeschreibung erst im Lichte des nationalen Rechts ausgelegt werden müssen. Zwar kann ein Verweis auf nationale Regelungen in besonderen Fällen unvermeidlich sein, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit oder Umweltschutz. Hierfür gelten jedoch strenge Anforderungen. Insbesondere müssen sie auf den Ausschreibungsgegenstand bezogen sein und dürfen sich nicht – wie hier – in Anliegen der allgemeinen Verkehrspolitik ergehen. Ansonsten wären die zusätzlichen Arbeiten der Bekanntmachungspflicht und damit jedem Wettbewerb entzogen. Auch eine Vergleichbarkeit der Angebote wäre nicht gegeben.
Damit bleibt der EuGH bei seinen strengen Anforderungen an den Inhalt von Bekanntmachungen und Vergabeunterlagen. Insbesondere Verweise auf nationale Rechtsvorschriften kommen für Auftraggeber nur ausnahmsweise in Betracht. Der EuGH hatte hierzu bereits in seiner Entscheidung vom 16.10.2003 (C-421/01 „Traunfellner“) festgestellt, dass Auftraggeber die erforderlichen Mindestanforderungen an Nebenangebote nicht durch einen solchen Verweis auf eine nationale Regelung erfüllen können.
Keine Rolle spielt für den EuGH zudem der Einwand, der erfolgreiche Bieter habe die zusätzlichen Arbeiten nicht selbst ausgeführt, sondern seinerseits in mehreren Vergabeverfahren vergeben. Der EuGH stellt klar, dass die Vergabestelle und den erfolgreichen Bieter hier kumulative, nicht jedoch alternative Vergabepflichten getroffen hätten.
„Anschwärzen“ bleibt Risiko
Schließlich äußert der EuGH auch keine Bedenken an der Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens durch die EU-Kommission. Die Einleitung eines solchen Verfahrens steht allein im Ermessen der EU-Kommission. Der Umstand, dass unterlegene Bieter die Vergabeentscheidung nicht angefochten haben, spielt hierfür keine Rolle. Auch die Bestätigung des Vergabeverfahrens durch ein nationales Gericht wirkt sich dem EuGH zufolge auf den Ausgang eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht aus.
Das „Anschwärzen“ bei der EU-Kommission bleibt daher für Auftraggeber ein ernst zu nehmendes Risiko. Der EuGH macht deutlich, dass hierfür nicht die Maßstäbe eines Nachprüfungsverfahrens gelten. Am 21.01.2010 hatte der EuGH bereits klargemacht, dass die EU-Kommission auch auf die Beschwerde eines unterlegenen Bieters tätig werden darf, der selbst schon präkludiert ist (C-17/09).
Mehr Informationen über den Autor Dr. Jan Seidel finden Sie im Autorenverzeichnis.
Dr. Jan Seidel ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer und Nürnberger Büro der KPMG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Dort berät er öffentliche Auftraggeber und Bieter in Vergabeprojekten mit einem Schwerpunkt auf der kommunalen Infrastruktur (insbesondere Ver- und Entsorgung sowie ÖPNV).
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