Die Europäische Kommission hat beschlossen, förmliche Aufforderungen an Deutschland zu richten, die den Abschluss öffentlicher Dienstleistungsverträge über die Instandhaltung von Kreisstraßen durch Landkreise in acht Bundesländern sowie die Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrages über die Erbringung von Flugvermessungsdiensten im Jahr 2002 betreffen. In beiden Fällen wurden die Aufträge ohne vorheriges Vergabeverfahren vergeben.
Die förmlichen Aufforderungen ergehen in Form von „mit Gründen versehenen Stellungnahmen“, die den zweiten Schritt des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 226 EG-Vertrag darstellen. Erhält die Kommission binnen zwei Monaten keine zufriedenstellende Antwort, kann sie den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anrufen.
I.
Viele Landkreise in Deutschland treffen mit den für Bundesstraßen zuständigen staatlichen Behörden vertragliche Vereinbarungen über die Instandhaltung von Kreisstraßen. Den einschlägigen Landesgesetzen zufolge sind die Landkreise grundsätzlich für den Bau und die Instandhaltung von Kreisstraßen zuständig; sie können jedoch Bundesbehörden gegen Vergütung mit der Instandhaltung dieser Straßen betrauen, wobei die Zuständigkeit gleichwohl auf Landesebene verbleibt. Die entsprechenden Verträge zwischen den Landkreisen und den Bundesbehörden werden zumeist ohne vorherige Ausschreibung oder Durchführung eines Vergabeverfahrens geschlossen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die fraglichen Vereinbarungen keine öffentlichen Aufträge zum Gegenstand haben, sondern Ausdruck der internen staatlichen Organisation sind und mithin nicht den gemeinschaftsrechtlichen Regeln zur öffentlichen Auftragsvergabe unterliegen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) berührt der Umstand, dass alle Vertragsparteien öffentlich-rechtliche Körperschaften sind, an sich jedoch nicht die Anwendbarkeit der Richtlinien zum öffentlichen Beschaffungswesen. Durch die fraglichen Verträge wird nicht die Zuständigkeit für die Instandhaltung der Kreisstraßen übertragen, sondern lediglich die Erbringung der entsprechenden Dienstleistungen. Vertragsgegenstand ist also die Verpflichtung staatlicher Stellen, Dienste gegen ein Entgelt zu erbringen. Die Kommission ist daher der Auffassung, dass es sich hierbei um öffentliche Aufträge im Sinne der Richtlinien zum öffentlichen Beschaffungswesen handelt, die folglich nach den in diesen Richtlinien vorgesehenen Verfahren zu vergeben sind.
II.
Die Deutsche Flugsicherung GmbH (DFS) ist die in Deutschland für die Überwachung des Flugverkehrs zuständige Organisation. DFS befindet sich zu 100 % im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland und ist damit ein öffentlicher Auftraggeber im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zum öffentlichen Beschaffungswesen. Sie hat jedoch bei der Vergabe eines Dienstleistungsvertrags von Flugvermessungsdiensten kein Vergabeverfahren durchgeführt, sondern direkt ein Unternehmen beauftragt, an dem sie selbst 55 % der Anteile hält.
Nach Auffassung der Bundesregierung fällt die Vergabe von Dienstleistungen im Bereich der Flugvermessung nicht in den Anwendungsbereich des europäischen Vergaberechts. Flugvermessungen seien eine mit der der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Artikel 45 EG-Vertrag verbundene öffentliche Aufgabe. Daneben bestehe ein enger Zusammenhang zwischen Flugvermessungen und nationalen Sicherheitsinteressen. Und schließlich sei die Kontrolle der DFS über den Auftragnehmer der Kontrolle vergleichbar, die sie über ihre eigenen Dienststellen ausübt.
Die Kommission kann sich dieser Argumentation allerdings nicht anschließen. Flugvermessungen seien ein technischer Dienst und Teil der regelmäßigen Instandhaltung und Inspektion der Flugnavigationseinrichtungen. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen dieser Dienstleistung und der Ausübung öffentlicher Gewalt. Flugvermessungen seien keine Dienste im nationalen Interesse, sondern Dienste im Interesse der technischen Sicherheit des Luftverkehrs. Auch könne die DFS den Auftragnehmer nicht in vergleichbarer Weise kontrollieren wie ihre eigenen Dienststellen, da sie nur 55 % der Anteile des Unternehmens hält. Deshalb liegen nach Ansicht der Kommission die Voraussetzungen für eine Nichtanwendung des europäischen Vergaberechts nicht vor.
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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