Ein Gastbeitrag von Dr. Martin Ott
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 29. April 2010 (Rs. C-160/08) entschieden, dass bei der Vergabe von Aufträgen über öffentliche Notfall- und qualifizierte Krankentransportleistungen nach dem sog. Submissionsmodell grundsätzlich das europäische Vergaberecht Anwendung finden muss. Der heutige Gastbeitrag von Dr. Martin Ott, Menold Bezler Rechtsanwälte Partnerschaft, Stuttgart, erläutert die Entscheidung, ihre Konsequenzen für die Praxis und die noch offenen Fragen (Anmk. der Red.).
Verfahrensgegenstand der Entscheidung
Gegenstand des von der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland geführten Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EG-Vertrag (nunmehr Art. 258 AEUV) waren Verträge der kommunalen Auftraggeber mit Leistungserbringern (zumeist Hilfsorganisationen wie DRK, MHD, Johanniter etc.) über Krankentransportleistungen in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Vergütung erfolgt in diesen Bundesländern im Submissionsmodell, wonach der Leistungserbringer das Entgelt unmittelbar vom Leistungsträger (also dem Kreis oder der kreisfreien Stadt) erhält. Die Bundesrepublik Deutschland vertrat während des Verfahrens die Auffassung, die Richtlinie sei nicht anwendbar, weil Rettungsdienstleistungen zum einen mit der Ausübung hoheitlicher Tätigkeit gemäß Art. 44, 55 EG-Vertrag (nunmehr Art. 51, 62 AEUV) verbunden sind und zum anderen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag (Art. 106 Abs. 2 AEUV) vorlägen.
Das Urteil des EuGH
In seiner Entscheidung stellt der EuGH zunächst fest, dass die Erbringung von Rettungsdienstleistungen keine Tätigkeit darstellt, die in einem Mitgliedsstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, so dass die Bereichsausnahme der Art. 44, 55 EG-Vertrag (Art. 51, 62 AEUV) nicht eingreift. Nach Auffassung des Gerichtshofs rechtfertigen weder der Beitrag zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, noch die Sonderrechte für Rettungsdienste im Straßenverkehr (Vorfahrtsrecht, Blaulicht) oder die Qualifizierung der abgeschlossenen Vereinbarungen als öffentlich-rechtliche Verträge eine Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt.
Im Hinblick auf die Frage, ob es sich um eine „Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ handele, gelangt der EuGH zur Überzeugung, dass Deutschland als Beklagter nicht dargelegt habe, dass sämtliche Tatbestandsmerkmale dieser Ausnahme vorlägen. Da somit Ausnahmebestimmungen nicht einschlägig sind, ist bei der Vergabe von Rettungsdienstleistungen, die im Submissionsmodell vergütet werden, das europäische Vergaberecht anzuwenden.
Das Urteil des EuGH entspricht im Ergebnis dem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 1. Dezember 2008 (Az.: X ZB 31/08). Der BGH hatte in seiner Entscheidung jedoch offengelassen, ob die Erbringung von Rettungsdienstleistungen eine hoheitliche Angelegenheit bedeutet, sondern argumentiert, dass diese nach nationalem Recht nicht von dem GWB-Vergaberegime ausgenommen ist.
EuGH entscheidet in Kürze auch über das Konzessionsmodell
Die Rechtsprechung des EuGH und des BGH hat unmittelbare Bedeutung für diejenigen Bundesländer, in denen das Submissionsmodell zur Anwendung kommt, begründet jedoch keineswegs einen „Freibrief“ für diejenigen Bundesländer, in denen das sog. Konzessionsmodell (z.B. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen) gilt. Zwar hat die Vergabekammer Südbayern mit Beschluss vom 3. April 2009 (Az.: Z3-3-3194-1-49-12/08) entschieden, dass Rettungsdienstleistungen nach dem Bayerischen Rettungsdienstgesetz 2009 auf die Leistungserbringer in Form einer – grundsätzlich ausschreibungsfreien – Dienstleistungskonzession übertragen werden. Der EuGH wird allerdings auch über das deutsche Konzessionsmodell zu entscheiden haben, weil das OLG München mit Beschluss vom 2. Juli 2009 (Az.: Verg 5/09) dem EuGH die entscheidenden Fragen vorgelegt hat.
Die Vorlageentscheidung deutet bereits an, dass auch das OLG München nicht davon ausgeht, der EuGH werde vor dem Hintergrund seiner bisherigen Entscheidungen (zuletzt in der Rechtssache „Oymanns“ – Urteil vom 11.06.2009, Rs. C-300/07 –, in der die öffentliche Auftraggebereigenschaft der gesetzlichen Krankenkassen festgestellt wurde), das Konzessionsmodell tatsächlich als Dienstleistungskonzession einstufen. Denn im Rahmen des Konzessionsmodells erhalten die Leistungserbringer das Entgelt von den gesetzlichen Krankenkassen, die selbst öffentliche Auftraggeber sind. Außerdem ist fraglich, ob die Leistungserbringer tatsächlich ein Betriebsrisiko übernehmen (vgl. dazu auch den Beitrag von Dr. Ortner hier).
Eine restriktivere Auffassung als das vorlegende OLG München vertritt hingegen der Generalanwalt beim EuGH in seinen die Entscheidung des Gerichtshofs vorbereitenden Schlussanträgen von 9. September 2010 (Rs. C-274/09). Dem Generalanwalt zufolge stellt das Fehlen einer unmittelbaren Vergütung durch den öffentlichen Auftraggeber ein hinreichendes Kriterium für die Qualifizierung eines Vertrags als Dienstleistungskonzession dar. Des Weiteren ist er der Ansicht, dass der Umfang des mit der fraglichen Dienstleistung verbundenen Vertriebsrisikos für das Vorliegen einer Dienstleistungskonzession nicht entscheidend ist (vgl. in dieser Hinsicht auch EuGH, Urteil vom 10.09.2009 – Rs. C-206/08 – „Eurawasser“). Vielmehr komme es auf die Übertragung des Risikos auf den Dienstleistungserbringer insoweit an, als die öffentliche Stelle, welche die Dienstleistung vergibt, diesem Risiko selbst ausgesetzt wäre, wenn sie die Dienstleistung zu erbringen hätte. Vor diesem Hintergrund bleibt die Entscheidung des EuGH mit Spannung zu erwarten.
Beschluss des BVerfG zur Organisation des Rettungsdienstes
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 8. Juni 2010 (Az.: 1 BvR 2011/07, 1 BvR 2959/07) entschieden, dass die Eingliederung des privaten in die Trägerschaft des öffentlichen Rettungsdienstes als Eingriff in die Berufsfreiheit jedenfalls dann gerechtfertigt ist, wenn diese Neuordnung nach Einschätzung des Gesetzgebers Verbesserungen bei dem Schutz der Bevölkerung, der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung sowie in Bezug auf Transparenz und Chancengleichheit im Verfahren zur Auswahl der Leistungserbringer erwarten lässt.
Hintergrund der Entscheidung ist, dass die Organisation des Rettungsdienstes in Deutschland in die Zuständigkeit der Bundesländer fällt. In allen Bundesländern besteht derzeit ein bodengebundener Rettungsdienst (Krankentransport und Notfallrettung) in öffentlicher Trägerschaft (öffentlicher Rettungsdienst). Rettungsdienstleistungen werden in den meisten Bundesländern nach dem „dualen System“ erbracht, das auch „Trennungsmodell“ genannt wird. Dieses Modell beruht auf der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Rettungsdienst, der etwa 70 % aller Rettungsdienstleistungen ausmacht, und der Erbringung von Rettungsdienstleistungen aufgrund von Genehmigungen nach den einschlägigen Landesgesetzen, deren Anteil am Gesamtaufkommen dieser Dienstleistungen etwa 30 % beträgt.
Die Entscheidung des BVerfG eröffnet den Bundesländern erheblichen Gestaltungsspielraum hinsichtlich einer etwaigen Neuregelung des Rettungsdienstrechts. Es erlaubt denjenigen Bundesländern, in denen Rettungsdienstleistungen bislang nach dem dualen System erbracht werden, grundsätzlich die Schaffung von Verwaltungsmonopolen. In Bezug auf bestehende Ausschreibungspflichten lässt sich der Entscheidung indes nur entnehmen, dass ein faires und transparentes Verfahren auch verfassungsrechtlich geboten ist. Entscheidend für den Umfang, in dem das europäische Vergaberecht bei der Vergabe von Rettungsdienstleistungen Anwendung findet, ist jedoch die Rechtsprechung des EuGH.
Fazit
Obwohl das Urteil des EuGH im Ergebnis lediglich beanstandet, dass Deutschland bzw. die genannten Bundesländer keine Bekanntmachungen über die Ergebnisse des Verfahrens zur Auftragsvergabe veröffentlicht haben, werden Rettungsdienstleistungen künftig grundsätzlich nach den Vorgaben des europäischen Vergaberechts zu vergeben sein. Die Beschränkung des Urteilsspruchs des EuGH beruht nämlich allein auf formalen Gründen. Welche vergaberechtlichen Vorschriften öffentliche Auftraggeber im konkreten Fall beachten müssen, hängt allerdings davon ab, ob die Verkehrsleistungen oder die medizinischen Notfallleistungen überwiegen.
Wenig ratsam erscheint derzeit darüber hinaus, vorschnell die „Flucht ins Konzessionsmodell“ anzutreten. Es bleibt insoweit abzuwarten, ob der EuGH in Bälde auch die Vergabe von Rettungsdienstleistungen im Rahmen des Konzessionsmodells dem Anwendungsbereich des Vergaberechts unterwirft oder diese als – grundsätzlich ausschreibungsfreie – Dienstleistungskonzession qualifiziert.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt in der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte Partnerschaft, Stuttgart. Er berät und vertritt insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Sie erreichen Rechtsanwalt Dr. Ott unter martin.ott@menoldbezler.de.
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