Seitdem Jean Claude Marie Vincent de Gournay 1751 als französischer Handelsminister das Arbeiten von Beamten nach festgeschriebenen Vorschriften als „bureaucratie“ („Herrschaft der Schreibtische“) kritisierte [LEI, S. 1], scheint ein besonderes Bestreben darin zu liegen, stetig Bürokratie abbauen zu wollen. Das Vergaberecht „erfreut“ sich hierbei besonderer „Aufmerksamkeit“. EU-Kommission, Gesetzgeber, Wirtschaftsverbände und eine Vielzahl anderer Interessenverbände fordern permanent Vereinfachungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Dass die Aktivitäten dazu offensichtlich als nicht ausreichend wahrgenommen werden, lässt sich wohl auch daraus ablesen, dass mit jeder Novelle des Vergaberechts gleich die nächste Diskussion um den Abbau von Hindernissen angestoßen wird.
Eine neue Variante im Abbau von Bürokratie sieht die EU-Kommission offensichtlich in der elektronischen Umsetzung zum Vergaberecht. In ihrem „GRÜNBUCH zum Ausbau der e-Beschaffung in der EU“ kündigt sie an, mit einem zentralen elektronischen System die Einhaltung der Transparenz- und Verfahrensvorschriften erreichen zu wollen [KOM, S. 15].
„Zuckerbrot und Peitsche“ der EU-Kommission
Dass die EU-Kommission nicht zufrieden mit der Umsetzung von eVergabe sowie der Einführung elektronischer Werkzeuge ist, stellt sie in ihrem Grünbuch heraus. Neu ist allerdings die Maßgabe, eine „Beschleunigung der Einführung von e-Procurement ‚mit Zuckerbrot und Peitsche’“ [KOM, S. 14] zu propagieren. Die EU-Kommission hofft „die Möglichkeit zur Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Einhaltung bestimmter Rechts- oder Verfahrensvorschriften vom öffentlichen Auftraggeber auf ein e-Procurement-System, das die Abwicklung des Beschaffungsverfahrens vollständig oder teilweise übernimmt“ [KOM, S. 15] nutzen zu können. Ziel ist es, einem elektronischen System die „Einhaltung der Transparenz- und Verfahrensvorschriften der Richtlinie sowie die Objektivität und Nachverfolgbarkeit der einzelnen Verfahren“ [KOM, S. 15] übertragen zu können. Dabei geht die EU-Kommission sogar so weit, von einem „sicheren Hafen für die einzelnen öffentlichen Auftraggeber“ [KOM, S. 15] zu sprechen. Wie das technisch erreicht werden soll, lässt die EU-Kommission allerdings offen.
Sofern sich ein solches System einrichten ließe, könnte es tatsächlich die Neigung der öffentlichen Auftraggeber zur Nutzung deutlich erhöhen, denn diese würden sich davon sicherlich ein gewisses Maß an Entlastung von der rechtlichen Verantwortung versprechen. Ob das wiederum im Interesse der EU-Kommission liegt, darf bezweifelt werden.
Ein Denkmodell zum Wissen über die Rechtmäßigkeit des Handelns
Damit ein Automat, also ein elektronisches System mit Funktionen für die Bearbeitung von vergaberechtlichen Sachverhalten, zu einem korrekten Ergebnis kommen könnte, müssten Algorithmen gefunden werden, mit denen die Rechtmäßigkeit des Handelns vollautomatisiert durch ein elektronisches Werkzeug abgeschätzt und folgerichtig umgesetzt werden kann. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es bereits herausragende Computersysteme gibt, die Schachgroßmeister an Grenzen heranführen können [HEI, S. 1], sollte die Umsetzung eines „Vergabeautomaten“ eigentlich nicht schwer fallen.
Und dennoch lässt sich das anhand des folgenden Denkmodells über das Wissen um die Rechtmäßigkeit des Handelns nur schwer vorstellen:
Abbildung 1: „Das kann ein elektronisches System bislang nicht leisten: Das Wissen um die Rechtmäßigkeit des Handelns im Vergaberecht“ [LAU1, S. 33]
Ausgehend von einer gedachten Legalitätsgrenze lassen sich rechtmäßiges und unrechtmäßiges Handeln voneinander abgrenzen. Allerdings ist gerade diese Grenze in der Wirklichkeit nicht so eindeutig bestimmbar, soweit es um die Auslegung unbestimmter Rechtbegriffe geht. Um es in diesem sehr vereinfachten Denkmodell auszudrücken: Rechtmäßig handelt, wer vor den Instanzen Recht erhält; unrechtmäßig handelt, wer unterliegt. Bei dieser Betrachtung wären auch gesellschaftliche Veränderungen, die zu rechtlicher Neuorientierung (z.B. „§ 218-Debatte“ in den 70er Jahren) führen als Wolke zwischen dem rechtmäßigen und dem unrechtmäßigen Handeln enthalten, ohne die Dynamik der rechtserheblichen Entwicklungen genau zu betrachten.
Soweit die im Denkmodell als unbestimmt bezeichneten Rechtsbegriffe zu einer Schärfung geführt haben und damit das Wissen über diese Schärfung vorausgesetzt werden kann, lassen sich das bewusst rechtmäßige und das bewusst unrechtmäßige Handeln wiederum voneinander abgrenzen. Dass strafbares Handeln der bewussten Unrechtmäßigkeit zugeordnet wird, ist trivial. Interessant wäre aber u.a. die Betrachtung der Bürokratie. In diesem Denkmodell wäre bürokratisches Handeln definiert als das nicht Ausschöpfen rechtlichen Spielraums im Gegensatz zum Handeln nach Verwaltungswissen. Der als Wolke dargestellte Grenzbereich um die gedachte Legalitätsgrenze herum soll die Ungewissheit bis zu dem Zeitpunkt darstellen, wenn von den Instanzen festgestellt wird, dass das eigene Handeln als rechtmäßig oder als unrechtmäßig einzustufen ist.
Schwierigkeiten in der elektronischen Abbildung des Denkmodells
Um einem Automaten die genannten Grenzen der Rechtmäßigkeit näher zu bringen, wären diese sowohl klar zu bestimmen als auch Toleranzbereiche festzulegen. Die Darstellung eindeutig rechtmäßigen und eindeutig unrechtmäßigen Handelns ließe sich sicherlich in einer Erfahrungsdatenbank unterbringen. Das Arbeiten mit diesem Wissen könnten elektronische Agenten übernehmen, die jeweils für einen bestimmten Zweck programmiert wären. So wie ein Mensch je nach Ausbildung und Erfahrungsanteilen eine bestimmte Methode entwickelt, um sich in Medien jeglicher Art zu informieren, könnte ein Automat mit spezifischen Algorithmen ausgestattet werden. Geibig hat dazu in seiner Dissertation mit Bezug auf das Vergaberecht erste Vorschläge gemacht [GEI, S. 31-40].
Problematisch wird aber bereits die Abbildung des Instanzenweges. Ein Automat müsste die Rechtssystematik der Instanzen in Bezug auf gesprochenes Recht kennen und das Bedürfnis Unterlegener in der Folgeinstanz Recht zu erhalten. Während es beim Schach selbst bei einer Vielzahl von Zugalternativen immer eine Unterscheidung zwischen „ja“ und „nein“ für einen folgenden Zug gibt, ist die Rechtsprechung nicht auf ein solches „entweder-oder“ eingestellt. Grundsätzlich lösbar scheint dieser Aspekt dennoch zu sein, denn die Technik kennt Methoden wie die Fuzzylogik, mit der sich Ungenauigkeiten technisch abbilden lassen. Einen ersten Bezug der Fuzzylogik zur Rechtslehre stellt zumindest Adrian her [ADR].
Hinzu kommt die Schwierigkeit, die gesamte Rechtsprechung als Grundlage für ein rechtssicheres Handeln in einer Wissensdatenbank unterzubringen. Es wären elektronische Agenten zu schaffen, die das von den Instanzen geschaffene Recht aufnehmen, selektieren und in geeigneter Form speichern, so dass elektronische Such-Agenten diese als Wissensgewinn in den laufenden Prozess einspeichern können.
Die Frage wäre allerdings, welchen Wert eine elektronisch herbeigeführte Vergabeentscheidung gegenüber einer durch einen Menschen getroffene hätte, wenn sich der Automat aufgrund der Komplexität und Schwierigkeit bei der Abgrenzung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Handeln ein gewisses Maß an Ungenauigkeit leisten könnte.
Was ist möglich?
Ausgehend von der Annahme, dass sich die Entwicklung elektronischer Agenten für das Vergaberecht noch nicht einmal in den „Kinderschuhen“ befindet, sind die Ziele der EU-Kommission mehr als ambitioniert. Sicherlich ist anzunehmen, dass die fortschreitende Entwicklung der Informationstechnologie auch dieses Feld noch erschließen wird. Dazu müsste der Vorschlag von Geibig aufgenommen und weiter ausgebaut werden. Dass dies erfolgt, ist der Literatur zumindest aktuell noch nicht zu entnehmen. In Bezug auf die betriebswirtschaftliche Wirksamkeit von eVergabe hat Laux das Umfeld der elektronischen Auftragsvergabe beleuchtet [LAU2]. Aber auch er kommt zur Erkenntnis, dass derzeit der Wunsch zur elektronischen Abbildung der Beschaffungsprozesse einschließlich des Vergaberechts weit größer ist als die tatsächlich vollzogene technische Realität.
Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage, für welche Verfahren die EU-Kommission eine rechtssichere elektronische Vergabe schon jetzt angehen bzw. bereitstellen könnte. Letztlich werden es wohl nur einfach standardisierte Verfahren sein können. Und müssten die Handelnden der öffentlichen Auftraggeber nicht gerade diese beherrschen?
Vielleicht wäre es sinnvoll, mehr Vertrauen in die handelnden Personen zu legen und ihnen mehr rechtskonformes Handeln zuzutrauen, anstatt in elektronischen Werkzeugen die Lösung personeller Defizite zu suchen. Sicherlich werden die vergaberechtlich Handelnden auch in Zukunft elektronische Werkzeuge benötigen. Aber diese sollten darauf ausgerichtet sein, sie zu unterstützen und nicht sie zu ersetzen.
Der Autor Dr. Dieter Laux ist Leiter Beschaffung im Präsidium für Technik, Logistik und Verwaltung (PTLV) in Wiesbaden (das PTLV ist zentraler Dienstleister der hessischen Polizei). Daneben ist er Lehrbeauftragter für Betriebswirtschaftlehre an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV) in Wiesbaden. Sie erreichen den Autor unter dieter.laux@polizei.hessen.de.
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Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
[ADR] Adrian, A. (2009): Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, Duncker & Humblot Verlag, Berlin
[KOM] EU-Kommission (2010): „GRÜNBUCH zum Ausbau der e-Beschaffung in der EU“, Arbeitspapier SEK(2010) 1214 der EU-Kommission vom 18.10.2010, Brüssel
[GEI] Geibig, O. (2007): Agentenbasierte Unterstützung öffentlicher Ausschreibungen von Bauleistungen unter Verwendung von Methoden der Künstlichen Intelligenz, TUDpress Verlag der Wissenschaften Dresden, Dresden
[HEI] heise online (2005): „Computerschach: Großmeister von Hydra deklassiert“, Artikel vom 28.06.2005 unter http://www.heise.de
[LAU1] Laux, D. (2011): „Vom Risiko mit E-Vergabe Werkzeug des Werkzeugs zu werden“, Vortrag bei den Lösungstagen des BME in Bonn am 24.03.2011 zur Thematik „Wirksamkeit von E-Vergabe im Beschaffungsmanagement der öffentlichen Verwaltung“, Bonn
[LAU2] Laux, D. (2010): Wirksamkeit von E-Vergabe im Beschaffungsmanagement der öffentlichen Verwaltung, kasseler university press, Kassel
[LEI] Leitl, M. (2005): „Bürokratie“, in Harvard Businessmanager, Artikel vom 22.11.2005, manager magazin Verlagsgesellschaft mbH, Hamburg
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