Der Wettbewerb um Marktanteile für generische Arzneimittel findet in Deutschland mittlerweile hauptsächlich über Rabattverträge statt. Denn in der Apotheke werden in der Regel Arzneimittel von Herstellern verkauft, die mit der Krankenkasse des Versicherten einen Rabattvertrag abgeschlossen haben. Dementsprechend hart umkämpft sind die Vergabeverfahren, in denen die Verträge vergeben werden. Mit dem aktuellen Verfahren der AOKs wurde eine neue Stufe erreicht: In gleich drei Entscheidungen musste sich die die Vergabekammer des Bundes mit den Anforderungen an Preisprüfungen und Unterkostenangebote befassen (VK 3 126/10, VK 3 135/10 und VK 3 162/10). Sie ordnete eine neue Angebotsrunde an und verlangte, dass Unterkostenangebote konsequent ausgeschlossen werden. Der von den Auftraggebern hierbei angelegte Maßstab sei den Bieter transparent mitzuteilen.
Vergabeunterlagen fordern Angabe von Staffelpreisen
Gegenstand des Verfahrens war die Vergabe von Arzneimittelrabattverträgen gemäß § 130 Abs. 8 SGB V über 87 Wirkstoffe mit einem Gesamtauftragswert von circa 2,3 Milliarden Euro (Apothekenverkaufspreis). Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Der Preis war je Gramm Wirkstoff gestaffelt nach fünf fest vorgegebenen Abgabemengen („Umsetzungsquoten“) anzugeben. Die gestaffelten Preise wurden auf der vierten Wertungsstufe unterschiedlich gewichtet.
Der nach Vertragsschluss zu zahlende Preis richtete sich allerdings ausschließlich nach der am Ende der Vertragslaufzeit feststehenden Umsetzungsquote. Damit kommt in jedem Fall nur einer der fünf angebotenen Preise zum Tragen. Grund für die Staffelung war die Befürchtung der Auftraggeber, dass künftige Abgabemengen infolge gesetzlicher Neuerungen durch das AMNOG von den Erfahrungswerten der Vergangenheit abweichen.
Gefahr für den Wettbewerb durch Ausnutzung von Spielräumen
Das eröffnete erstaunliche Möglichkeiten zur Verbesserung der Zuschlagschancen: Da die Mehrzahl der Bieter – anders als der Auftraggeber – davon ausgegangen ist, dass die abgefragten niedrigen „Umsetzungsquoten“ von 0-60% faktisch nicht eintreten, konnten sie durch die Angabe extrem niedriger Preise für die unwahrscheinlichen Staffeln den Gesamtangebotspreis insgesamt künstlich drücken und sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Eine lohnende Überlegung, denn in Rabattvertragsvergaben entscheiden schon Preisunterschiede im Bereich von Cent-Bruchteilen über den Zuschlag. Da in den unwahrscheinlichen Staffeln die Wirtschaftlichkeit des Angebots für den Bieter keine Rolle spielte, war der Spielraum nach unten nur durch die Regelungen über den Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote begrenzt.
§ 19 Abs. 6 EG VOL/A
“Erscheint ein Angebot im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig, verlangen die Auftraggeber vom Bieter Aufklärung. Auf Angebote, deren Preise in offenbarem Missverhältnis zur Leistung stehen, darf der Zuschlag nicht erteilt werden.”
Auf die wettbewerbswidrigen Effekte dieses Vorgehens angesprochen, erklärten die Auftraggeber, dass die dargestellte Bieterstrategie grundsätzlich zulässig sei. Allerdings dürften die Bieter nicht darauf vertrauen, dass bestimmte Staffeln definitiv nicht eintreten werden. Weiterhin werde bei Preisen, die ungewöhnlich niedrig erscheinen, eine Preisprüfung vorgenommen. Nach Angebotsabgabe wurde diese Ankündigung mit hohem Aufwand und auf breiter Front in die Tat umgesetzt, was in diversen Fällen zum Ausschluss führte.
Mehrere Bieter leiteten Nachprüfungsverfahren ein, wobei insbesondere die Erlaubnis spekulativer Angebotsstrategien sowie der Umgang mit Unterkostenangeboten kritisiert wurden.
Durchsetzbares Bieterrecht auf Preisprüfung in besonderen Gefahrenlagen
In den hierzu ergangenen Entscheidungen (VK 3 126/10, VK 3 135/10 und VK 3 162/10) stellte die Vergabekammer des Bundes fest, dass die Auftraggeber mit der Staffelpreisregelung außergewöhnliche Spekulationsmöglichkeiten eröffnet haben. Denn es bestehe die Besonderheit, dass am Vertragsende nur einer von fünf angegebenen Preisen zum tragen komme, was zu erheblichem Spielraum bei den übrigen Preisen führe, insbesondere in den unwahrscheinlichen Staffeln. Hieraus resultiere eine besondere Verpflichtung des Auftraggebers, einen an Gleichbehandlung orientierten Wettbewerb zu gewährleisten.
Im konkreten Fall sei der Wettbewerb durch konsequente Preisprüfungen zu schützen. Aus den Entscheidungen geht hervor, dass diese Prüfung und die erforderlichen Angebotsausschlüsse von den Bietern eingefordert werden können. Das ist bemerkenswert, weil die Frage nach der Durchsetzbarkeit von Preisprüfungen hochumstritten ist. In „gefahrgeneigten Verfahren“ werden die Rechtsschutzmöglichkeiten von Bietern damit deutlich gestärkt.
Die Entscheidungen enthalten allerdings keinen Hinweis darauf, dass Bieter generell ein durchsetzbares Recht auf den Ausschluss von Unterkostenangeboten haben. Die Vergabekammer hat ausdrücklich nur den hier beschriebenen Sonderfall eines „gefahrgeneigten Verfahrens“ entschieden.
Kein Zuschlag auf Unterkostenangebote
Laut Vergabekammer müssen Unterkostenangebote in der vorliegenden Konstellation zwingend ausgeschlossen werden. Auch dies stellt eine Neuerung dar: Nach bisherigem Diskussionsstand konnte der Auftraggeber eine Prognoseentscheidung über die zuverlässige und vertragsgerechte Leistung treffen und bei positiver Einschätzung den Zuschlag auch auf ein Unterkostenangebot erteilen.
Dementsprechend hatten die Auftraggeber in einem ersten Schritt geprüft, ob unter Einstandskosten angeboten wurde. In einem zweiten Schritt konnte der Bieter sein Unterkostenangebot aber rechtfertigen, indem er darlegte, dass die ordnungsgemäße Vertragserfüllung nicht gefährdet und das Angebot nicht mit der Absicht abgegeben wurde, Wettbewerber zu verdrängen.
Diesen Rechtfertigungsmöglichkeiten hat die Vergabekammer des Bundes eine Absage erteilt: Zulassung von Unterkostenangeboten mache den Weg frei für eine Ausnutzung der unwahrscheinlichen Rabattstaffeln und führe so Wettbewerbsverzerrungen auf der vierten Wertungsstufe. Dies müssten die Auftraggeber als Garanten des Wettbewerbs verhindern und Unterkostenangebote in jedem Fall ausschließen.
Transparente Mitteilung des Vorgehens in der Preisprüfung
Darüber hinaus stellte die Vergabekammer fest, dass Aufgreifschwelle und die vom Auftraggeber konkret verwendeten Kriterien für Unterkostenangebote den Bietern zuvor eindeutig mitzuteilen sind. Auch insofern seien Bieterrechte verletzt.
Verunsicherte Bieter hatten vor Angebotsabgabe detaillierte Fragen zur Preisprüfung gestellt, die von den Auftraggebern häufig nur mit dem Verweis auf allgemeine Grundsätze und den Gesetzeswortlaut des § 19 Abs. 6 EG VOL/A beantwortet wurden.
Folgen für Auftraggeber
Wer als Auftraggeber Gefahren für den Wettbewerb eröffnet, der muss die Auswirkungen kontrollieren. Im vorliegenden Verfahren war das – wenn überhaupt – nur über Preisprüfungen möglich. Deren Art und Umfang entschied damit in vielen Fällen de facto über den Zuschlag. Wenn die Preisprüfung derart wettbewerbsrelevant ist, muss vorher feststehen, wie sie vorgenommen wird. Hierauf bezogene Bieterfragen müssen konkret beantwortet werden.
Die Entscheidungen bedeuten nicht, dass Staffelrabatte generell eine Gefahr für den Wettbewerb darstellen. Im Gegenteil: Die Staffelvorgabe wurde im Einklang mit der bisher bestehenden Entscheidungspraxis ausdrücklich für zulässig erklärt. Die Spekulationsmöglichkeiten entstanden im vorliegenden Verfahren nur dadurch, dass von fünf angebotenen Preisen nur einer zum Tragen kommen sollte. Es gibt diverse andere Gestaltungen. Denkbar ist es, dass der Auftraggeber für die abgegebenen Mengen in der untersten Staffel (z.B. Liefermengen von 0-20 % Umsetzungsquote) den hierfür einschlägigen Preis zahlt und für die darüber hinausgehenden Mengen den Preis der dann einschlägigen höheren Staffeln.
Folgen für Bieter
Schaffen die Vergabeunterlagen ernstzunehmende Gefahren für den Wettbewerb, so kann der Bieter Gegenmaßnahmen vom Auftraggeber verlangen. Sollen Preisprüfungen das Risiko eindämmen, so ist über Art und Umfang vor Angebotsabgabe aufzuklären. Diese Bieterrechte sind im Nachprüfungsverfahren durchsetzbar.
Die Entscheidungen sind auf der Website der Vergabekammer des Bundes abrufbar. Sie befassen sich neben dem hier wiedergegebenen Inhalt noch mit weiteren Fragen und insbesondere mit der Verpflichtung, den Vertragsgegenstand und die Kalkulationsgrundlagen hinreichend zu präzisieren – hier hatte es Unklarheiten wegen anstehender Änderungen der Packungsgrößenverordnung gegeben. Die Entscheidungen VK 3 126/10 und VK 3 135/10 sind bestandskräftig, gegen die Entscheidung VK 162/10 wurde sofortige Beschwerde eingelegt.
Der Autor Dr. Karsten Lisch ist Rechtsanwalt der Sozietät Osborne Clarke, Köln. Er betreut Mandanten aus den Bereichen Informationstechnologie und Gesundheitswesen in Vergabeverfahren. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
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