VKR Art. 1 Abs. 2 lit. b; Richtlinie 93/37/EG Art. 1 lit. a
Bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die Elemente mehrerer Auftragsarten beinhalten, bestimmt grundsätzlich der Hauptgegenstand, welche Rechtsvorschriften über öffentliche Aufträge anwendbar sind. Trotz dieses Grundsatzes ist eine vergaberechtskonforme Abgrenzung in der Praxis nicht immer einfach vorzunehmen, weil die Abgrenzung der Auftragsarten entlang unbestimmter Rechtsbegriffe zu erfolgen hat. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in dieser Hinsicht vor kurzem zur Einordnung von Erschließungsmaßnahmen als öffentlicher Bauauftrag Stellung genommen (EuGH, Urteil vom 26. Mai 2011 – C-306/08 – „Kommission ./. Spanien“). Bauleistungen führen nach der Rechtsauffassung des Gerichtshofs dann nicht zum Vorliegen eines öffentlichen Bauauftrags, soweit die Erschließungsmaßnahmen lediglich von untergeordneter Bedeutung sind und damit nicht den Hauptinhalt des zu vergebenden Vertrags prägen.
Gegenstand der Entscheidung
Im zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der EuGH über eine spanische Regelung zu befinden, die Vorgaben zur Umsetzung von Förderungsmaßnahmen für die Stadtentwicklung enthält. Diesen Regelungen zufolge obliegen dem jeweiligen Erschließungsträger neben der Errichtung der Bauwerke insbesondere auch stadtplanerische Aufgaben sowie die Sicherstellung der Finanzierung des jeweiligen Vorhabens. Die Kommission der Europäischen Union vertrat im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens die Auffassung, dass die Auftragsvergabe an den Erschließungsträger als öffentlicher Bauauftrag ausschreibungspflichtig sei.
Rechtsauffassung des EuGH
Der EuGH ist der Rechtsauffassung der EU-Kommission entgegengetreten. Die Erschließung eines oder mehrerer Grundstücke erfordere zwar Bauarbeiten, etwa die Herstellung von Fahrbahnen. Allerdings umfasse die Erschließung von Grundstücken neben der Errichtung eines Bauwerks auch Tätigkeiten, die nicht als „Bauarbeiten“ im Sinne der EU-Vergaberichtlinien qualifiziert werden könnten. Ein Vertrag, der zugleich Elemente eines Bauauftrags und Elemente eines öffentlichen Auftrags anderer Art aufweise, sei nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch nach den Regeln zu vergeben, die auf den Hauptgegenstand des Vertrags Anwendung finden.
Mit dieser Entscheidung führt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung zur Abgrenzung der Auftragsarten konsequent fort. Öffentliche Bauaufträge enthalten nämlich häufig neben der eigentlichen Bauleistung zusätzlich Liefer- oder Dienstleistungen. Überwiegt die Bauleistung oder ist diese nur geringfügig kleiner als andere Leistungsteile, so ist der Gesamtauftrag als öffentlicher Bauauftrag auszuschreiben. Denn in einem solchen Fall ist die Bauleistung nicht nur von untergeordneter Bedeutung.
Bewertung der Entscheidung
Die wesentlichen Aussagen der Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich auch der einschlägigen Vorschrift des deutschen Rechts entnehmen (§ 99 Abs. 7 GWB). Danach gilt ein öffentlicher Auftrag, der sowohl Dienst- als auch Bauleistungen umfasst, als Dienstleistungsauftrag, sofern die Bauleistungen im Verhältnis zum Hauptgegenstand lediglich Nebenarbeiten darstellen (sog. Wesentlichkeitstheorie).
Ab welchem Prozentwert ein gemischter Auftrag als öffentlicher Bauauftrag auszuschreiben ist, lässt sich indes nicht pauschal bestimmen. Zudem fehlt es bislang an aussagekräftigen Entscheidungen der deutschen Nachprüfungsinstanzen, die aus nachvollziehbaren Gründen bislang davon abgesehen haben, das Erreichen eines bestimmten prozentualen Anteils als Maßstab heranzuziehen. Eine schematische Betrachtung wäre auch nicht zielführend, da es entscheidend darauf ankommt, welcher Leistungsteil dem betreffenden Auftrag sein Gepräge gibt. Daher kann auch ein quantitativ untergeordneter Leistungsteil einen Vertrag (qualitativ) maßgeblich prägen. In der Regel dürfte aber ein Auftrag, der einen Bauleistungsanteil von mehr als einem Drittel enthält, bereits häufig als öffentlicher Bauauftrag einzustufen sein.
Fazit und Praxishinweise
Enthält ein öffentlicher Auftrag Bauleistungen, die nicht nur von untergeordneter Bedeutung sind, so handelt es sich nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des EuGH um einen öffentlichen Bauauftrag. Neben dieser Abgrenzung sollte die kommunale Praxis – im Hinblick auf die unterschiedlichen Schwellenwerte aber auch am Erhalt des Auftrags interessierte Unternehmen – im Einzelfall darauf sehen, ob es sich möglicherweise um einen Dienstleistungsauftrag oder gar um eine Dienstleistungskonzession handelt. Auf Dienstleistungskonzessionen ist nach derzeitiger Rechtslage das förmliche Vergaberecht nicht anwendbar. Beim Vorliegen einer Dienstleistungskonzession müssen lediglich die allgemeinen Grundsätze des europäischen Vergaberechts (insbesondere Wettbewerb, Transparenz und Nichtdiskriminierung) Beachtung finden.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Dort berät und vertritt er insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Dr. Martin Ott
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
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