Zuschlagskriterien lenken die Auswahlentscheidung und sind damit zentral für jede Ausschreibung. Der Auftraggeber hat insoweit einen „Festlegungsspielraum“, den das OLG Düsseldorf allerdings einer Vertretbarkeitskontrolle unterworfen sieht (vgl. Beitrag Pfarr vom 19.08.2012: OLG Düsseldorf: Darf es ein bisschen mehr Preis sein?). Im Rahmen dieser Kontrolle hat das OLG Düsseldorf nun die Gewichtung des Preises mit 90% für vergaberechtswidrig erklärt und scheint damit neue Maßstäbe zu setzen (OLG Düsseldorf, 09.01.2013, Az.: Verg 33/12).
Der Fall
In einem Vergabeverfahren über Außenputzarbeiten sollte der Zweitplatzierte aus preislichen Gründen nicht den Zuschlag erhalten. Das Unternehmen erreichte im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens eine Korrektur der ausgeschriebenen Mengensätze und die Neubewertung der Angebote. Obwohl das Angebot nach erneuter Wertung preislich nunmehr auf Platz 1 gelegen hätte, erhielt es mangels Gleichwertigkeit mit dem ausgeschriebenen Produkt dennoch nicht den Zuschlag. Dieses Mal bestätigten sowohl Vergabekammer als auch das OLG Düsseldorf die Entscheidung des Auftraggebers, das Angebot war daher auszuschließen. Obwohl es im vorliegenden Fall nicht mehr darauf ankam, erklärte das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung ergänzend, die Gewichtung des Preises mit 90 % und des technischen Wertes als weiteres Wirtschaftlichkeitskriterium mit 10% sei vergaberechtswidrig.
Grundsätzlich verbotene Gewichtung mit 90%?
In der Begründung wird kein Bezug zu dem konkreten Fall und den konkreten Zielen des Auftraggebers hergestellt. Vielmehr wiederholt der Senat die einer früheren Entscheidung erklärten Grundsätze bei der Wahl des Zuschlagskriteriums „wirtschaftlichstes Angebot“. Dort dürften andere Kriterien neben dem Preis nicht marginalisiert werden (vgl. OLG Düsseldorf vom 21.05.2012, Az.: VII Verg 3/12). Der Preis dürfe weder über- noch unterbewertet werden. Da das Gericht aber keine näheren Ausführungen zu dem Gegenstand des konkreten Auftrags herstellt, scheint es davon auszugehen, dass unabhängig von der Einzelfallgestaltung ein übergroßes Gewicht des Preises immer bei 90% zu bejahen ist.
Fehlender qualitativer Spielraum im Einzelfall unerheblich?
Diese Aussage erstaunt vor dem Hintergrund, dass der Auftraggeber gerade in der betroffenen Ausschreibung von Außenputzarbeiten eine ganz spezifische Putzqualität zwingend gefordert hatte. Es kam ihm auf einen besonderen „Glimmereffekt“ an, der so speziell war, dass er – wie das OLG Düsseldorf bestätigte – nur durch ein Leitprodukt genau beschrieben werden konnte. Es blieb insoweit also äußerst geringer gestalterischer Spielraum. In Fällen, in denen die Leistungsbeschreibung aber derart konkret ist, dass nur wenig Spielraum verbleibt, erscheint eine geringe Gewichtung qualitativer Kriterien nur konsequent. Der BGH hat dementsprechend – nahezu zeitgleich – hinsichtlich einer nicht angegebenen Gewichtung von Zuschlagskriterien festgestellt, es komme
„(…) dem Preis bei der Gewichtung umso größere Bedeutung zu, je standardisierter der Gegenstand der Beschaffung ist oder je detaillierter der Leistungsinhalt in den Vergabeunterlagen festgelegt wurde“ (BGH, Urteil vom 15.01.2013, Az.: X ZR 155/10)
Geringes Gewicht bedeutet nicht zwingend marginale Bedeutung
Natürlich könnte man sich fragen, wieso der Auftraggeber in einem solchen Fall, in dem nur geringe qualitative Spielräume bleiben, nicht gleich den Preis zum alleinigen Zuschlagskriterium bestimmt. Grundsätzlich gilt allerdings, dass ein gering gewichtetes Kriterium nicht zwangsläufig von marginaler Bedeutung sein muss, wie ein jüngerer, durch das OLG Koblenz entschiedener Fall zeigt. Hier war der Preis ebenfalls mit 90% gewichtet, die mit 10% gewichtete qualitative Bewertung hatte aber für die Auswahl zwischen den beiden preislichen Spitzenkandidaten den Ausschlag gegeben – mitnichten also war diese für sie von marginaler Bedeutung. Das OLG Koblenz stellte hier klar, dass es bei Zuschlagskriterien mit geringem Spielraum nur folgerichtig sei, wenn schon ein kleiner Mehrwert zu einer besseren Bewertung führe (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 02.10.2012, Az.: 1 Verg 4/12). Es scheint zumindest erklärungsbedürftig, warum ein Auftraggeber, der im Grundsatz dem Preiskriterium absoluten Vorrang einräumt, nicht die Möglichkeit haben soll, zwischen den nach dem Preiskriterium in der Spitzengruppe liegenden Bietern nach einem weiteren, qualitativen Kriterium auszuwählen.
Die Vergaberichtlinien stehen der Wahl auch eines gering gewichteten qualitativen Kriteriums jedenfalls nicht erkennbar entgegen und sie sehen auch nicht zwingend die Wahl allein des Preises als Zuschlagskriterium vor. Sie überlassen dem Auftraggeber vielmehr die Entscheidung, ob er den Zuschlag auf das „wirtschaftlich günstigste Angebot“ erteilen will und daher verschiedene mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängende Kriterien wie insbesondere Qualität, Preis und technischer Wert wählt oder aber ob er nur das Kriterium des niedrigsten Preises vorsieht (vgl. Art. 53 RL 2004/18/EG bzw. Art. 55 RL 2004/17/EG).
Eine Gewichtung des Preises mit 90% ist nach dieser Entscheidung – unbeschadet aller vorstehenden Überlegungen – zumindest vergaberechtlich riskant. Es bleibt zwar abzuwarten, inwieweit andere Oberlandesgerichte sich der strengen Linie des OLG Düsseldorf anschließen. Auftraggeber sollten aber künftig mit gesteigerten Begründungsanforderungen an einer Stelle rechnen, die Viele noch dem Bereich der originären, der Kontrolle entzogenen Beschaffungsautonomie zuordnen.
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
Werte Frau Kollegin Dr. Pfarr,
zunächst einmal ein großes Kompliment für Ihren interessanten Beitrag zu dem Beschluss des Oberlandesgerichtes Düsseldorf. Dieser Beschluss könnte möglicherweise die Overtüre zur nächsten größeren vergaberechtlichen Diskussion sein. Dieses jedenfalls, nachdem der Streit um die Kombinierbarkeit von Nebenangeboten und Niedrigstpreisvergaben mit den Hinweisen des BGH etwas abgekühlt ist. Erlauben Sie mir anzumerken, dass ich den Beschluss des Oberlandesgerichtes Düsseldorf aber anders und noch kritischer sehe als Sie. Ich würde zu einem anderen Fazit kommen.
Beim Studium des Beschlusses ist mir aufgefallen, dass er sich in erster Linie mit dem Endlosthema produktneutrale Ausschreibung befasst. Hierzu kommt wenig Überraschendes. Den Preisaspekt erwähnt der Senat im Tatbestand mit dem Satz: „Schließlich verweist die Antragstellerin auf einen Wertungswiderspruch im Hinblick darauf, dass nach den Vergabeunterlagen der Preis mit 90 % und der technische Wert mit 10 % bewertet werden sollte.“ Das Thema Zuschlagskriterien greift er erst am Ende seines Beschlusses in einem kurzen obiter dictum auf, nach dem er klarstellt: „Es kann ausgeschlossen werden, dass sich der Fehler auf die Auftragschancen der Antragstellerin ausgewirkt hat.“
Die Aussagen, die der Vergabesenat in dem obiter dictum macht, sind in diverser Hinsicht überraschend und weit reichend. Ich sehe sie kritisch. Die Aussagen würden – wenn sich das OLG Düsseldorf in einem späteren Hauptsacheverfahren beim Wort nehmen lässt – wohl erhebliche Auswirkungen zeitigen.
Aufgefallen ist mir, dass die Zuschlagskriterien beim Themenkreis „Rüge/Präklusion“ nicht angesprochen worden sind. Die Zuschlagskriterien müssen aber spätestens in den Vergabeunterlagen enthalten gewesen sein, sodass sie der Antragsteller bis zum Ende der Angebotsfrist hätte rügen müssen. Weder aus dem Tatbestand der Vergabekammerentscheidung noch aus dem des Beschwerdebeschlusses ist indes zu ersehen, dass eine rechtzeitige Rüge der Zuschlagskriterien erfolgt ist. Schon hier hätte der Senat den Aspekt abhandeln können. Dass er in der Begründetheit das weit reichende Thema der Zuschlagskriterien ohne Not als obiter dictum angesprochen hat, überrascht umso mehr.
Weiterhin finde ich bemerkenswert, dass der Düsseldorfer Vergabesenat seine Rechtsprechung, dass der Preis nicht marginalisiert werden darf, so unproblematisch auf die qualitativen Zuschlagskriterien spiegelt. Ich zitiere:
„Der Preis darf weder unter- noch überbewertet werden. Eine Festlegung und Gewichtung von Zuschlagskriterien, bei denen Wirtschaftlichkeitskriterien neben dem Angebotspreis nur eine marginale Rolle spielen oder der Preis eine übermäßige Bedeutung einnimmt, kann demnach gegen das Wirtschaftlichkeitsprinzip nach § 97 Abs. 5 GWB, § 16 Abs. 8 VOL/A verstoßen (Senat, Beschl. v. 21.05.2012, VII-Verg 3/12).“
Dass der Preis nicht marginalisiert werden darf, leuchtet mir mit Blick auf den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz sofort ein. Dass der öffentliche Auftraggeber umgekehrt nun auch die qualitativen Zuschlagskriterien nicht marginalisieren darf, finde ich keineswegs zwingend. Ganz im Gegenteil: Wenn zwei Angebote preislich Kopf an Kopf liegen, warum sollte dann nicht der Qualitätsaspekt das Zünglein an der Waage sein dürfen?
Man stelle sich folgenden Fall vor. Ein öffentlicher Auftraggeber schreibt im Herbst die Lieferung von Streusalz aus. Weil es sich um eine Standardware handelt, kommt es ihm im Wesentlichen auf den Preis an. Er würde aber gerne die Lagerfähigkeit in geringem Maße berücksichtigt haben. Sie stellt für ihn ebenfalls ein interessantes Kriterium dar. Gleichzeitig will er das genannte Kriterium nicht in die Leistungsbeschreibung nehmen, um sich nicht von ihm abhängig zu machen. In Befolgung der Rechtsprechung des hier diskutierten Beschlusses verzichtet er auf das Kriterium der Lagerbarkeit. Er schreibt alleine nach dem niedrigsten Preis aus. Er erhält zwei Angebote. Bieter A bietet dem Auftraggeber ein schlecht lagerbares Salz für 400.010 Euro an. Bieter B bietet dem Auftraggeber ein gut lagerbares Salz für 400.200 Euro an. Der Auftraggeber ist nun gezwungen, dem Bieter A den Zuschlag zu erteilen, obwohl sehr viel lieber das nur sehr geringfügig teurere, qualitativ bessere Konkurrenzangebot von Bieter B bezuschlagt hätte.
Ich würde aus einem Erst-Recht-Schluss folgern, dass eine hohe Gewichtung des Preises mit zum Beispiel 90% zulässig ist. Dass die Vergabe alleine nach dem niedrigsten Preis vergaberechtlich zulässig ist, ist zwar ebenfalls umstritten, wird aber von der ganz herrschenden Meinung bejaht. Ich zitiere einige Fundstellen:
Hailbronner in: Byok/Jaeger, Vergaberecht, GWB § 97, Rn. 135; Frenz, in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, GWB § 97 Rn. 39; Weyand, in: IBR-Onlinekommentar, GWB § 97, Rn. 1106; Summa, in: Heiermann/Zeiss/Blaufuß, juris-PK VergR, GWB § 97, Rn. 238 f; Just, in: Schulte/Just, Kartellrecht, GWB § 97, Rn. 44; BGH, NZBau 2008, 505; OLG Düsseldorf, NZBau 2009, 398; OLG Naumburg, VergabeR 2009, 486; OLG München, IBR 2010, 411; OLG Schleswig, NZBau 2011, 375; OLG Frankfurt IBR 2012, 468; a.A. Fehling, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, GWB § 97, Rn. 174 f.; Ziekow, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht Kommentar, GWB § 97, Rn. 105 ff.
Wenn also die Vergabe alleine nach dem niedrigsten Preis zulässig ist, dann muss es meines Erachtens erst Recht zulässig sein, dass der öffentliche Auftraggeber den Preis mit 90% gewichten darf und dazu 10% qualitative Kriterien ergänzt.
Ich bin auf Ihre und weitere Meinungen im Blog gespannt.
Vielen Dank für die beiden sehr guten Beiträge.
Es wird ganz überwiegend angenommen, dass der Preis als einziges Zuschlagskriterium zulässig ist. Wie immer muss dies aber natürlich im Einzelfall auch sachgerecht sein.
Dass es im Gegensatz problematisch wird, wenn der Preis eine sehr marginale Rolle spielt, ist angesichts von Sinn und Zweck der öffentlichen Auftragsvergabe einleuchtend. Doch auch hier kann man im Einzelfall über sich aus der Beschaffungsautonomie ergebene Spielräume der öffentlichen Auftraggeber nachdenken.
Warum aber nun eine sehr starke Gewichtung des Preiskriteriums in Verbindung mit einer relativ bzw. sehr geringen Gewichtung eines Qualitätskriteriums unzulässig sein soll, erschließt sich mir nicht. Insofern ist der Erst-Recht-Schluss von Herrn Dr. Schwabe mehr als einleuchtend. Insbesondere kann es im Einzelfall eine große Rolle spielen, ob ein Aspekt Teil der Leistungsbeschreibung wird (und damit zum K.O.-Kriterium), oder ob er wertend auch eine Rolle spielen soll.
Aus Sicht der Vergabepraxis ist es schwer vorstellbar, dass sich diese Rechtsprechung durchsetzen wird.
Eine Frage lässt auch dieser Beschluss wieder offen: Was genau bedeutet es, dass der Preis einen bestimmten Wertungsanteil (z.B. 90% oder 30%) hat?
Wie kann der tatsächliche Wertungsanteil des Preises bestimmt werden? Woher weiß ich, dass der Preis diesen Wertungsanteil hatte?
Diese Frage beschäftigt mich nun schon geraume Weile und finde keine zufriedenstellende Antwort.
Nicht ausreichend ist hierfür sicherlich, dass eine Zuschlagsformel verwendet wird, in der die Preiskomponente mit einem Faktor 90% oder 30% versehen wird.
Denn es gibt zahllose solche Formeln mit Preisgewichtung – alleine das Sonderheft 2012 zur UfAB (http://bescha.bund.de, Publikationen) nennt sechs verschiedene Formeln, die meisten jedoch als nicht empfehlenswert bezeichnet. In der Literatur findet man noch dutzende weitere; und diese verschiedenen Formeln können selbst bei identischer „Gewichtung des Preises“ (in der UfAB nun „Wertigkeitsfaktoren“ genannt) zu unterschiedlichen Zuschlagsergebnissen führen bei ansonsten identischen Angebotswerten (Preis, Leistung der einzelnen Angebote).
Das beweist, dass die Wertigkeitsfaktoren nicht dem tatsächlichen Gewicht (Wertungsanteil) des Preises entsprechen. Denn wenn die Anwendung verschiedener Formeln mit identischem „Preisgewicht“ (Wertigkeitsfaktor) von z.B. 90% zu unterschiedlichen Rangfolgen der (ansonsten unveränderten) Angebote führt, dann kann dieser Formelparameter „Wertigkeitsfaktor“ nicht dem tatsächlichen Wertungsanteil des Preises entsprechen.
Schlimmer noch, es kann die Wertungsreihenfolge bei vielen Zuschlagsformeln mit Preisgewichtung vom „Flipping-Effekt“ beeinflusst werden; das heißt, bei ansonsten unveränderten Bedingungen (identische Wertigkeitsfaktoren und unveränderte Angebotswertungen) kann alleine der Preis eines dritten Angebots über die Rangfolge der beiden führenden Angebote entscheiden (vgl. NZBau 7/2012 S. 393). Wohlgemerkt bei identischem Wertigkeitsfaktor des Preises von z.B. 90%.
Wenn also die Preisgewichtung bzw. der Wertungsanteil des Preises nicht dem Formelparameter „Wertigkeitsfaktor“ in einer Zuschlagsformel entspricht, wie bestimmt sich dann das tatsächliche Preisgewicht bzw. den tatsächlichen Preis-Einfluss? Wann kann man von einem gesicherten Preis-Anteil an der Wertung von (unter) 90% oder (über) 30% sprechen?
Über Vorschläge zu einer Definition für den Begriff Preisgewichtung – falls man davon sinnvollerweise überhaupt sprechen kann – wäre ich dankbar.
Liebe Kollegen,
auch von mir vielen Dank für die interessanten Beiträge!
Hinsichtlich der Rügepräklusion, sehe ich das so wie Sie, lieber Herr Schwabe.
Zunächst dürfte die Antragstellerin im entschiedenen Fall mit der Rüge der Verletzung des Gebotes produktneutraler Ausschreibung präkludiert gewesen sein.
Dann wurde der vom Senat angenommene Verstoß gegen den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz von der Antragstellerin jedenfalls nach dem mitgeteilten Tatbestand schon nicht gerügt:
„Schließlich verweist die Antragstellerin auf einen Wertungswiderspruch im Hinblick darauf, dass nach den Vergabeunterlagen der Preis mit 90 % und der technische Wert mit 10 % bewertet werden sollte.“;
ein „Verweis auf einen Wertungswiderspruch“ dürfte keine Rüge im Sinne von § 107 Abs. 3 GWB sein. Selbst wenn eine Rüge in diesem Sinne ausgesprochen worden sein sollte, wurde sie nach meinem Verständnis des Tatbestands erst mit der sofortigen Beschwerde (und damit in jedem Fall verfristet) vorgetragen.
Der Senat führt zu der (seiner Ansicht nach nicht verfristeten) Rüge der Verletzung des Gebotes produktneutraler Ausschreibung aus, dass
„bei lebensnaher und realistischer Betrachtung (…) die Kognitionsmöglichkeiten der Bieter nicht überschätzt werden (dürfen).“
Das kann man verstehen, wie man möchte. Die Antragstellerin wird diese Aussage wohl allein deshalb nicht als Affront aufgefasst haben, weil sie (anders als noch vor der VK Münster) dadurch eine materielle Prüfung der Zulässigkeit der Vorgabe des Leitfabrikats bekommen hat.
Interessant ist aber der Maßstab, den der Senat für § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB definiert:
„Selbst wenn – wie im Streitfall – ein bestimmtes Produkt in den Vergabeunterlagen ausdrücklich genannt wird, versetzt dies den Bieter, zumal er die Vergabeakten und eine mögliche Begründung des Auftraggebers nicht kennt, noch nicht in die Lage zu beurteilen, ob eine produktspezifische Ausschreibung durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist bzw. ein Fall vorliegt, in dem – sei es insgesamt oder hinsichtlich einzelner gewünschter Beschaffenheitsmerkmale – der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemeinverständlich beschrieben werden kann.“
Der Bieter verfügt also erst dann über hinreichende „Kognitionsmöglichkeiten“, wenn er die Begründung des Auftraggebers für die Vorgabe des Leitfabrikats kennt, die freilich nur in der Vergabeakte dokumentiert ist. § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB stellt indes nicht darauf ab, dass ein Vergabeverstoß in der Vergabeakte erkennbar ist, sondern in den Vergabeunterlagen. Wäre die Auffassung des Düsseldorfer Senats richtig, liefe § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB stets leer, weil die Bieter das, was sie in den Vergabeunterlagen lesen, erst dann aus ihrer vergaberechtlichen Laiensphäre verstehen („erkennen“) können, wenn sie zusätzlich Einblick in die Vergabeakte haben. Darauf haben sie bekanntlich aber erst Anspruch, wenn ein Nachprüfungsantrag anhängig ist.
Hinsichtlich der Frage der zulässigen Gewichtung des Preises wage ich einmal die kühne These, dass nicht nur die Zuschlagskriterien selbst, sondern auch ihre Gewichtung mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängen bzw. durch ihn gerechtfertigt sein muss. Der Wortlaut von § 16 EG Abs. 7 Satz 2 VOB/A 2012, 19 EG Abs. 9 VOL/A, 29 Abs. 2 SektVO gibt das zwar so nicht ausdrücklich her. M.E. folgt das aber aus der richtigen Überlegung der h.M., dass der Preis insbesondere dann das alleinige Zuschlagskriterium sein kann (d.h. mit einem Gewicht von 100%), wenn standardisierte Leistungen zur Vergabe ausgeschrieben sind, die eine qualitative Differenzierung der Angebote nicht zulassen. Aus dieser Überlegung wird der Zusammenhang zwischen Auftragsgegenstand und Gewichtung der Zuschlagskriterien m.E. recht deutlich.
Möglicherweise ist es für die Praxis hilfreich, die Diskussion um die „zulässige“ Gewichtung des Preises jeweils im Einzelfall am Maßstab des konkreten Auftragsgegenstandes zu führen. Ich persönlich kann mit den vom Düsseldorfer Senat genannten Schlagworten „gewichtiges Merkmal“, „darf nicht am Rande stehen“, „nur eine marginale Rolle“, „übermäßige Bedeutung“, „Vertretbarkeit“ und „angemessener Raum zur Bewertung“ wenig anfangen.
Schließlich könnte vielleicht auch geprüft werden, ob und inwieweit § 97 Abs. 5 GWB in den Fällen, in denen eine (vermeintlich) unzulässige Festlegung und/oder Gewichtung von Zuschlagskriterien Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens ist, überhaupt bieterschützende Wirkung hat (die h.M. nimmt das freilich an, vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 05.03.2012, 11 Verg 3/12).´
Beste Grüße
Marc Röbke
Werte BloggerInnen,
Aus der Praxis würde ich gerne noch eine immer wiederkehrende Problematik zur Diskussion Zuschlagskriterien/Preisrelation beisteuern. Tägliche Praxis ist auch, dass das liebe Geld nicht endlos zur Verfügung steht, sprich unsere Titelverwalter geben vor dass z.B. für eine bestimmte Leistung im Forschung- und Entwicklungsbereich nur 100.000.-€ zur Verfügung stehen. Entsprechende Formulierungen finden Eingang in eine Veröffentlichung. Unsere Bedarfsträger fragen jetzt wieviel Leistung bekomme ich für diesen Preis. Daraus resultiert jetzt die Problematik der Gestaltung der Zuschlagskriterien, sowohl in der Formulierung der Kriterien als auch in der Abhängigkeit dieser Kriterien zum Preis und zur prozentualen Aufteilung, mit entsprechender Wertung. Diese Problematik im Lichte der Rechtsprechung mit Ihren Kommentaren betrachtet bitte ich um viele Beiträge.
Mit besten Grüßen
W. Unuetzer