Bieter müssen einen erkannten Vergaberechtsverstoß nach dem Willen des Gesetzgebers unverzüglich rügen, wenn sie nicht ihr Recht auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens verlieren wollen. Diese Regelung verstößt nach Auffassung des OLG Koblenz (Beschluss vom 16.09.2013 – 1 Verg 5/13) gegen Unionsrecht. Damit stellt sich das OLG gegen die Meinung einiger anderer Obergerichte. Leider war das Problem mal wieder nicht entscheidungsrelevant, so dass eine höchstrichterliche Klärung daher nach wie vor aussteht.
§ 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB
Sachverhalt
Gegenstand des Auftrags waren die Lieferung, Verteilung und Endmontage von 40.000 Altpapiersammeltonnen. Eine Aufteilung in Lose war nicht vorgesehen.
Der Antragsteller wollte lediglich die Verteilung der Wertstoffbehälter mit allen Zusatzleistungen erbringen. 20 Tage nach Erhalt der Vergabeunterlagen rügte der Bieter die unterbliebene Losaufteilung. Erwartungsgemäß wies die Vergabestelle die Rüge als verspätet zurück.
Die Entscheidung
Das OLG Koblenz hält das Erfordernis der unverzüglichen Rüge gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB unter Berufung auf die Urteile des EuGH vom 28.01.2010 (Rs. C-406/08 und C-456/08) für unanwendbar. Die Rüge des Antragstellers war damit nicht verspätet und der Nachprüfungsantrag zulässig.
Das OLG Koblenz verlangt zwar weiterhin eine Rüge, wendet aber das Erfordernis der Unverzüglichkeit nicht mehr an. Der Begriff unverzüglich sei zu unbestimmt und verstoße gegen Unionsrecht. Der Blick auf § 121 BGB, der zwar den Begriff unverzüglich definiere und Gegenstand umfangreicher Rechtsprechung sei, helfe nicht weiter. Denn der Bieter wisse trotzdem nicht, ob er noch heute rügen müsse oder noch bis morgen Zeit habe. Genau diese Situation habe der EuGH als unvereinbar mit der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG angesehen.
Damit hat dem Bieter zwar die späte Rüge nicht geschadet, in der Sache hatte er jedoch keinen Erfolg. Das OLG Koblenz sah keine Pflicht zu einer Aufteilung des Auftrags in Fachlose (die unterbliebene Teillosvergabe hatte der Bieter nicht gerügt). Vom Ansatzpunkt her sei ein Fachlos eine Teilleistung, die marktüblich von einem Unternehmen ausgeführt wird, das zu einem bestimmten Handwerks- oder Gewerbezweig gehört. Allerdings sei die Losvergabe kein Selbstzweck, sondern solle möglichst vielen Unternehmen die Teilnahme am Vergabeverfahren ermöglichen. Daher komme es darauf an, ob ein Anbietermarkt mit einer hinreichenden Anzahl von Fachunternehmen existiere, die sich auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisiert haben und ohne eine Losvergabe keinen Zugang zu öffentlichen Aufträgen hätten. Auf dem Mülltonnenmarkt gebe es (anders als bei der Grund- und Glasreinigung) keinen solchen Teilmarkt für die Verteilung von Behältern, sondern Hersteller bzw. Lieferanten böten die Verteilung samt Zusatzleistungen regelmäßig als Nebenleistung an.
Das OLG Koblenz stellt sich mit seiner Auffassung zur Rügefrist gegen die überwiegende Meinung der Nachprüfungssenate, die § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB weiterhin uneingeschränkt anwenden (OLG Brandenburg, Beschluss vom 30.04.2013, Az. Verg W 3/13; OLG Hamburg, Beschluss vom 02.10.2012, Az. 1 Verg 3/12; OLG Dresden, Beschluss vom 07.05.2010, Az. WVerg 6/10; OLG Celle, Beschluss vom 26.04.2010, Az. 13 Verg 4/1; a.A. OLG Celle, Beschluss vom 26.04.2010, Az. 13 Verg 4/1).
Auslöser der Diskussion waren die Urteile des EuGH vom 28.01.2010. Der EuGH hatte über eine nationale Vorschrift zu entscheiden, nach der der Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens unverzüglich zu stellen war. Das Gericht sah diese Ausschlussfrist als nicht hinreichend genau, klar und vorhersehbar an. Eine Ausschlussfrist, deren Dauer in das freie Ermessen des zuständigen Richters gestellt werde, genüge nicht den Anforderungen der Rechtsmittelrichtlinie.
Die Verteidiger der unverzüglichen Rüge halten der Entscheidung der EuGH im Wesentlichen zwei Argumente entgegen. Zum einen wird vorgebracht, im deutschen Recht sei die Frist nicht in das freie Ermessen des Gerichts gestellt, denn der Begriff unverzüglich werde in § 121 BGB als ohne schuldhaftes Zögern legal definiert. Der Begriff sei im deutschen Recht als ohne schuldhaftes Zögern im Sinne des § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB definiert und durch die Rechtsprechung – auch zu § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB a. F. – weitergehend konkretisiert (vgl. OLG Brandenburg, aaO).
Zum anderen sei der vom EuGH entschiedene Sachverhalt nicht auf die Situation im deutschen Recht übertragbar. § 107 Abs. 3 GWB enthalte im Unterschied zu den vom EuGH entschiedenen Konstellationen keine Rechtsmittelfrist zur Einleitung des Nachprüfungsverfahrens (abgesehen von der hier nicht einschlägigen Bestimmung in § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB), sondern eine materiell-rechtliche Präklusionsregel, wonach der Bieter sich auf bestimmte ihm positiv bekannte Vergabefehler nicht mehr berufen darf, wenn er sie nicht so rechtzeitig gerügt hat, wie es ihm möglich gewesen wäre (vgl. OLG Dresden, aaO).
Bei näherer Betrachtung sind diese beiden Argumente jedoch nicht zwingend. Dem OLG Koblenz ist zuzugeben, dass trotz der unzähligen Entscheidungen zum Begriff der Unverzüglichkeit im Einzelfall nicht klar ist, wie lang die Rügefrist läuft. Wäre die Rechtsprechung zur Unverzüglichkeit tatsächlich so ausdifferenziert, dass praktisch kein Ermessen der Gerichte mehr bestünde, dürfte es theoretisch keine großen Unterschiede in der Normanwendung geben. Dem ist aber nicht so. Tatsächlich unterscheiden sich bekannter Maßen die Rügefristen, die einem Bieter regelmäßig zugestanden werden, von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk. Letztlich verbleibt immer eine vom EuGH kritisierte Unsicherheit, wann der Bieter seine Rüge anbringen muss.
Das zweite Argument, bei der Rügefrist handele es sich lediglich um eine materielle Präklusionsvorschrift, ist letztlich ebenfalls nicht überzeugend. Zwar ist es richtig, dass Gegenstand der EuGH-Entscheidung eine Rechtsmittelfrist und keine Rügefrist war. Jedoch ist die Argumentation des EuGH auf die deutsche Rügefrist übertragbar. Denn die Rügefrist, mag sie auch rechtssystematisch die Durchsetzbarkeit des materiellen Anspruchs betreffen, wirkt im Vergabenachprüfungsverfahren wie die vom EuGH kritisierte prozessuale Ausschlussfrist: ihre Versäumung führt zur Unzulässigkeit des Nachprüfungsantrags und die Frage, ob die Frist eingehalten worden ist, liegt letztlich im Ermessen der Nachprüfungsinstanz.Freilich ist das Ergebnis des OLG Koblenz unbefriedigend. Vergabestellen wird mangels Pflicht zur unverzüglichen Rüge die Möglichkeit genommen, erkannte Vergaberechtsverstöße frühzeitig zu beheben. Rügen sind faktisch bis zur Zuschlagserteilung möglich. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Gesetzgeber gerade im Namen der Beschleunigung des Verfahrens auf eine starre Frist verzichtet hat (vgl. BT-Drs 16/10117, S. 42). Dieser Verzicht dürfte nun zu erheblichen Verzögerungen führen.
Leider war die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags mangels materiellen Vergaberechtsverstoßes letztlich nicht entscheidungserheblich, so dass es nicht zu einer Divergenzvorlage kam. Die Frage wird hoffentlich entweder bald höchstrichterlich entschieden und/oder im Zuge der anstehenden Vergaberechtsreform vom Gesetzgeber aufgegriffen.
Praxistipp
Der Gedanke liegt nahe, zur Lösung des Dilemmas in dem „betroffenen“ Gerichtsbezirk den Bietern eine konkrete Rügefrist vorzugeben. Angesichts einer Entscheidung des OLG Düsseldorf, das eine Rügefrist von 7 Tagen für zu kurz befunden hat (Beschluss vom 19.06.2013, Az. Verg 8/13), sollten sich Auftraggeber an der überwiegend anerkannten Höchstfrist für eine Rüge von zwei Wochen orientieren.
Die Autorin Sonja Stenzel ist Rechtsanwältin in Berlin und bei der BG Kliniken - Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH tätig.
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