Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 7. Januar 2014 (X ZB 15/13) entschieden, dass Nebenangebote nicht zugelassen und gewertet werden dürfen, wenn in einem Vergabeverfahren der Preis alleiniges Zuschlagskriterium ist. Auf die Divergenzvorlage des OLG Jena (Beschluss vom 16.09.2013 9 Verg 3/13; vgl. den Beitrag von Sonja Stenzel) hin hat der BGH nunmehr eine der umstrittensten vergaberechtlichen Fragen der vergangenen Jahre geklärt. Einer Vorlage an den EuGH bedurfte es nach Ansicht des entscheidenden Senats nicht, weil Nebenangebote bereits nach dem Inhalt des anzuwendenden nationalen Vergaberechts bei einem reinen Preiswettbewerb nicht zugelassen werden dürfen. Die bisherige Rechtsprechung der Vergabesenate hatte demgegenüber stets auf den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Vergabekoordinierungsrichtlinie (RL 2004/18/EG) abgestellt.
GWB § 97 Abs. 2, 5; VOB/A § 8 EG Abs. 2 Nr. 3 lit. b), § 16 EG Abs. 2, 6; SektVO § 8 Abs. 1, § 20 Abs. 1, 2, § 29
Leitsatz
1. Ist in einem in den Geltungsbereich des Vierten Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen fallenden Vergabeverfahren der Preis alleiniges Zuschlagskriterium, dürfen Nebenangebote grundsätzlich nicht zugelassen und gewertet werden. (amtlicher Leitsatz)
2. Die für Nebenangebote vorzugebenden Mindestanforderungen brauchen im Allgemeinen nicht alle Details der Ausführung zu erfassen, sondern dürfen Spielraum für eine hinreichend große Variationsbreite in der Ausarbeitung von Alternativvorschlägen lassen und sich darauf beschränken, den Bietern, abgesehen von technischen Spezifikationen, in allgemeinerer Form den Standard und die wesentlichen Merkmale zu vermitteln, die eine Alternativausführung aufweisen muss. (amtlicher Leitsatz)
3. Die vergaberechtskonforme Wertung von Nebenangeboten, die den vorgegebenen Mindestanforderungen genügen, ist durch Festlegung aussagekräftiger, auf den jeweiligen Auftragsgegenstand und den mit ihm zu deckenden Bedarf zugeschnittener Zuschlagskriterien zu gewährleisten, die es ermöglichen, das Qualitätsniveau von Nebenangeboten und ihren technisch-funktionellen und sonstigen sachlichen Wert über die Mindestanforderungen hinaus nachvollziehbar und überprüfbar mit dem für die Hauptangebote nach dem Amtsvorschlag vorausgesetzten Standard zu vergleichen. (amtlicher Leitsatz)
4. Im offenen Verfahren ist die Vergabestelle nicht an die einmal bejahte Eignung eines Bieters gebunden; verneint sie dessen Eignung nachträglich, insbesondere erst, nachdem dieser einen Nachprüfungsantrag gestellt hat, kann dies lediglich Anlass geben, besonders kritisch zu prüfen, ob die Entscheidung die im Interesse eines verantwortungsvollen Einsatzes öffentlicher Mittel gebotene Korrektur einer Fehleinschätzung darstellt oder von sachfremden Erwägungen getragen ist. (amtlicher Leitsatz)
Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber schrieb Bauleistungen im Zusammenhang mit dem Umbau einer Straßenbahntrasse im Rahmen eines offenen Verfahrens europaweit aus. Als alleiniges Zuschlagskriterium war der niedrigste Preis vorgesehen. Nebenangebote waren zugelassen. Der öffentliche Auftraggeber beabsichtigte, den Zuschlag auf ein Nebenangebot zu erteilen. Hiergegen wendete sich ein anderer Bieter mit dem Argument, die Wertung von Nebenangeboten sei dann unzulässig, wenn der Preis einziges Zuschlagskriterium sei. Die Vergabekammer gab dem Nachprüfungsantrag statt. Das mit der sofortigen Beschwerde befasste OLG Jena sah sich an der Zurückweisung der sofortigen Beschwerde gehindert, weil es von einer Entscheidung des OLG Schleswig (Beschluss vom 15.04.2011 1 Verg 10/10; vgl. den Beitrag von Dr. Jan Seidel) abweichen würde. Der Vergabesenat legte daher die Sache dem BGH zur Entscheidung vor.
Die Entscheidung
Der BGH ist der Auffassung, dass es vergaberechtswidrig wäre, im Streitfall auf ein zugelassenes Nebenangebot den Zuschlag zu erteilen. Bei einem reinen Preiswettbewerb dürfen im Anwendungsbereich des GWB-Vergaberechts Nebenangebote bereits nach dem Inhalt des anzuwendenden nationalen Vergaberechts, unabhängig von sich aus den vergaberechtlichen Richtlinien des Unionsrechts ergebenden Schranken, nicht zugelassen werden.
Den zentralen Grund für seine Entscheidung sieht der BGH in folgender Erwägung:
Verlangt das anzuwendende Recht, für Nebenangebote (lediglich) Mindestanforderungen vorzugeben, ohne Regelungen darüber zu treffen, wie Nebenangebote im Verhältnis zu der als Hauptangebot vorgesehenen Ausführung („Amtsvorschlag“) zu werten sind, ist eine wettbewerbskonforme Wertung der Nebenangebote nicht gewährleistet, wenn für den Zuschlag allein der Preis maßgeblich sein soll. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 02.11.2011 Verg 22/11; vgl. den Beitrag von Dr. Valeska Pfarr) erläutert der BGH, dass ansonsten eine Situation eintreten könne, in der ein Nebenangebot zwar den Mindestanforderungen genüge und geringfügig billiger sei als das günstigste Hauptangebot, aber überproportional hinter dessen Qualität zurückbleibe. Obwohl es sich bei wirtschaftlicher Betrachtung gerade nicht um das günstigste Angebot handele, müsste ein solches Nebenangebot mangels geeigneter Zuschlagskriterien dennoch den Zuschlag erhalten. Eine solche Wertungspraxis sei jedoch unvereinbar mit dem vergaberechtlichen Wettbewerbsprinzip und dem aus § 97 Abs. 5 GWB folgenden Gebot, den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen.
Der BGH bestätigt im Ergebnis die Rechtsauffassung des vorlegenden OLG Jena und des OLG Düsseldorf (vgl. neben der oben zitierten Entscheidung außerdem OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.01.2010 Verg 61/09 und Beschluss vom 23.03.2010 Verg 61/09). Anders als die Vergabesenate stützt der BGH seine Ansicht jedoch nicht auf eine Auslegung der Vergabekoordinierungsrichtlinie (VKR), sondern geht davon aus, dass eine vergaberechtskonforme Wertung von Nebenangeboten nicht möglich sei, wenn allein der Preis als Zuschlagskriterium fungiere. Das OLG Jena und das OLG Düsseldorf hatten ihre Rechtsansicht im Wesentlichen damit begründet, dass die VKR in Artikel 53 Abs. 1 danach differenziere, den Zuschlag entweder nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots oder nach dem Kriterium des niedrigsten Preises zu erteilen. Art. 24 Abs. 1 VKR lasse Varianten (und damit Nebenangebote) nur bei öffentlichen Aufträgen zu, die nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots vergeben werden. Daher dürften öffentliche Auftraggeber Nebenangebote nur berücksichtigen, wenn der betreffende Auftrag nach dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots vergeben werde.
Der BGH setzt sich im Rahmen seiner Entscheidung ausführlich auch mit der gegenteiligen Auffassung des OLG Schleswig auseinander. Dieses hatte seine Rechtsauffassung damit begründet, dass zuschlagsfähige Nebenangebote über die Erfüllung der Mindestanforderungen hinaus mit dem Amtsvorschlag gleichwertig sein müssen. Die Gleichwertigkeitsprüfung erfolge bereits auf einer Wertungsstufe, welche der Anwendung der eigentlichen Zuschlagskriterien vorgelagert sei. Es finde damit vorab eine Sonderprüfung des Nebenangebots statt. Mit Blick auf die einschlägigen Bestimmungen der VKR ergebe sich nicht zwingend, dass Nebenangebote nicht auch lediglich nach dem niedrigsten Preis gewertet werden könnten. Der Begriff des wirtschaftlich günstigsten Angebots könne insoweit auch als Oberbegriff gesehen werden.
Der BGH erteilt dieser Auffassung eine klare Absage:
Die Zulassung von Nebenangeboten bezwecke, das unternehmerische Potenzial der für die Deckung des Vergabebedarfs geeigneten Bieter zu erschließen. Das Gebot, für gewünschte Nebenangebote Mindestanforderungen festzulegen, diene der Transparenz, die die Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter gewährleisten soll. Je mehr diesem letzteren Regelungsziel durch die Anhebung der Mindestanforderungen Rechnung getragen würde, desto mehr bleiben die mit der Zulassung von Nebenangeboten verfolgten Zwecke Innovationspotenzial der Bieter unberücksichtigt. Die dem Ziel der Erschließung des wettbewerblichen Potenzials entsprechende und damit vergaberechtskonforme Wertung von Nebenangeboten, die den vorgegebenen Mindestanforderungen genügen, lasse sich nur durch Festlegung aussagekräftiger, auf den jeweiligen Auftragsgegenstand und den mit ihm zu deckenden Bedarf zugeschnittener Zuschlagskriterien gewährleisten.
Die sorgfältig und überzeugend begründete Entscheidung des BGH hat massive Auswirkungen auf die Praxis. Vor allem bei der Vergabe von Bauleistungen hat die Zulassung von Nebenangeboten große Bedeutung, um nach Möglichkeit innovative Lösungen zu erhalten.
Wollen öffentliche Auftraggeber künftig Innovations- und Einsparpotenzial durch abweichende Lösungsvorschläge freisetzen, so stehen sie vor der Schwierigkeit, für Nebenangebote zum einen Mindestanforderungen zu formulieren, um sich von vornherein transparent also für die Bieter erkennbar auf bestimmte Vorgaben für Nebenangebote festzulegen. Zum anderen erfordert die Rechtsprechung des BGH nunmehr die Festlegung aussagekräftiger, auf den jeweiligen Auftragsgegenstand und den mit diesem zu deckenden Bedarf zugeschnittener Zuschlagskriterien. Diese müssen es ermöglichen, das Qualitätsniveau von Nebenangeboten und ihren technisch-funktionellen und sonstigen sachlichen Wert über die Mindestanforderungen hinaus nachvollziehbar und überprüfbar mit dem für die Hauptangebote nach dem Amtsvorschlag vorausgesetzten Standard zu vergleichen.
Die Rechtsprechung des BGH erhöht zwar einerseits die Anforderungen an öffentliche Auftraggeber im Hinblick auf die Wertung von Nebenangeboten beträchtlich, gibt aber andererseits klare Anhaltspunkte dafür, wie eine vergaberechtskonforme Wertung von Nebenangeboten zu erfolgen hat. Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass die Vergabepraxis diese Hinweise aufnimmt, um auch künftig Innovationen zu ermöglichen und nicht etwa die Zulassung von Nebenangeboten noch mehr scheut als bislang.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
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