Der Düsseldorfer Vergabesenat hat entschieden, dass eine Wertungsmatrix, nach der das beste Angebot mit 100 Punkten und das schlechteste mit 0 gewertet wird, bei nur zwei abgegebenen Angeboten rechtswidrig ist. Führt dies zu einer Umkehrung der Gewichtung der bekanntgemachten Zuschlagskriterien, verstößt die Vergabestelle gegen ihre Verpflichtung zur Selbstbindung (OLG Düsseldorf, Beschluss 22. Januar 2014 – VII-Verg 26/13).
Leitsatz
1. Ein Angebots-Wertungssystem, das auf dem Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots beruht, jedoch beim Unterkriterium der Leistung (Qualität) trotz einer Wertungsmatrix mit Wertungspunkten vorsieht, „100 Punkte erhält das Angebot mit der höchsten Wertungspunktzahl und null Punkte erhält das Angebot mit der niedrigsten Wertungspunktzahl“, ist jedenfalls dann, wenn im Bieterwettbewerb lediglich zwei Angebote eingegangen sind, rechtlich ungeeignet, die Zuschlagsentscheidung zu begründen.
2. Indem die vom Angebot mit der niedrigsten Wertungspunktzahl erreichten Wertungspunkte „unter den Tisch fallen“, missachtet der Auftraggeber die Selbstbindung an das von ihm bekannt gegebene Kriterium des wirtschaftlich günstigsten Angebots und die Gewichtung der Unterkriterien.
Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber schrieb im offenen Verfahren die Auftragsvergabe Abrechnungsmanagement nach § 302 SBG V aus. Das wirtschaftlichste Angebot sollte anhand der Zuschlagskriterien Preis 60% und Leistung 40% ermittelt werden. Das preislich günstigste Angebot erhielt dabei 100 Wertungspunkte. Alle folgenden Angebote in der Kategorie Preis wurden auf einer Skala interpoliert, nach der das günstigste Angebot mit seinen 100 Wertungspunkten die Obergrenze bildet. Der 1,5-fache Wert dieses günstigsten Angebots stellt die Untergrenze dar, die mit 0 Punkten gewertet wurde.
Die Ermittlung des leistungsfähigsten Angebots erfolgte auf drei vertikalen Ebenen. Auf der untersten, der dritten Ebene, wurde anhand verschiedener einzelner kleiner Leistungskriterien jedem Angebot für die jeweilige Leistung eine genaue Punktzahl zugeteilt. Diese Kriterien wurden auf einer darüber liegenden, der zweiten Ebene, in drei größere Unterkriterien zusammengefasst, wobei die Punktzahlen aus den einzelnen Leistungskriterien addiert wurden. Diese drei Unterkategorien wurden auf der obersten, der ersten Ebene, unter der Kategorie Leistung zusammengefasst. Diese floss letztendlich zu 40% in die Zuschlagswertung ein. Die Wertungsmatrix sah vor, dass jedes Angebot auf der dritten Ebene unabhängig von den anderen Angeboten Leistungspunkte erzielt. Diese Punkte würden auf der zweiten Ebene in die drei Unterkategorien übertragen. Der Transfer der Punkte aus den drei Unterkategorien auf die oberste Ebene erfolgte dergestalt, dass das beste Angebot mit 100 und das schlechteste mit 0 Wertungspunkten bewertet werde. Der Gewinner einer dieser drei Unterkategorien erhielt dabei stets die volle Wertungspunktzahl, der Schlechteste keine Wertungspunkte und die dazwischen liegenden Angebote erhielten die anhand dieser Skala vergebenen Wertungspunkte.
Nur zwei Bieter reichten ein Angebot ein. Beide Angebote konnten auf der untersten Ebene Punkte erzielen. Die Besonderheit des Falles lag darin, dass bei nur zwei abgegebenen Angeboten das zweitbeste Angebot die bereits gesammelten Punkte verlor. Es war daher unerheblich, wie das zweitplatzierte Angebot auf der untersten Ebene gewertet wurde. Die dort erfüllten Kriterien wurden bei der Zuschlagserteilung nicht berücksichtigt. So kam es, dass das Angebot der Antragstellerin das preislich günstigste war und in dieser Kategorie 100 Wertungspunkte erzielte. In der Kategorie Leistung war das Angebot schlechter als das Angebot der Beigeladenen und erhielt als schlechtestes Angebot keine Wertungspunkte. Wären die Unterkriterien berücksichtigt worden, hätte das Angebot der Antragsstellerin als wirtschaftlichstes Angebot den Zuschlag erhalten. Den daraufhin erhobenen Nachprüfungsantrag wies die Vergabekammer beim Bundeskartellamt zurück. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hob den Beschluss der Vergabekammer auf und untersagte der Antragsgegnerin den Zuschlag.
Die Entscheidung
Die Bewertungsmatrix der Antragsgegnerin ist vergaberechtswidrig. Die Antragsgegnerin verstößt gegen das Prinzip der Selbstbindung. Sie hat bekanntgemacht, dass sie das Kriterium Preis stärker gewichtet. Bei nur zwei abgegebenen Angeboten wird diese Gewichtung umgekehrt. Während in der Kategorie Preis auch das zweitplatzierte Angebot Wertungspunkte erhält, trifft dies in der Kategorie Leistung nicht zu. Den Zuschlag kann daher jedenfalls bei nur zwei angegebenen nur das Angebot erhalten, das als erstplatziertes Angebot in der Kategorie Leistung die volle Wertungspunktzahl erhält. Über den Zuschlag entscheidet folglich nicht das stärker gewichtete Kriterium des Preises, sondern das der Leistung.
Auch die Wertungsmatrix als solche ist vergaberechtswidrig, da sie nicht das wirtschaftlichste Angebot ermittelt. Das preislich günstigste Angebot kann, wie in dem vorliegenden Fall, das wirtschaftlichste sein, wenn es in der Kategorie Leistung nur geringe Abweichungen zu dem Angebot des Erstplatzierten aufweist. Das 100 Punkte oder nichts-Prinzip berücksichtigt nicht diese geringen Unterschiede. Für die Wertung ist die Qualität der Leistung ohne Bedeutung; das marginal schlechtere Angebot wird dem maximal schlechteren Angebot gleichgestellt. Werden nur zwei Angebote abgegeben, ist es für den Zweitplatzierten daher gleichgültig, wie viele Punkte er in den Unterkriterien erzielt. Solange er in der Wertung den zweiten Platz belegt, verliert er alle zuvor in den Unterkriterien erzielten Punkte. Dies führt dazu, dass die jeweiligen Unterkriterien bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots nicht berücksichtigt werden. Mit einer vergleichbaren Bewertungsmatrix hatte sich der erkennende Senat bereits im Rahmen einer früheren Entscheidung (3. März 2010 – VII-Verg 48/09) befasst. In dieser war das hier zu Tage getretene Problem jedoch nur theoretischer Natur: Bei drei abgegebenen Angeboten realisierte sich der Vergabeverstoß nicht. Ein drittes Angebot führte vielmehr dazu, dass das zweitplatzierte Angebot auch in der Kategorie Leistung Wertungspunkte erhält. Der Zuschlag hängt damit nicht nur von der objektiven Wertung der Angebote ab, sondern auch von ihrer Anzahl.
Diese Entscheidung zeigt, welche Vorsicht bei der Erstellung der Bewertungsmatrix an den Tag gelegt werden muss. Von dem oft verwendeten 100 Punkte oder nichts-Prinzip ist aus verschiedenen Gründen Abstand zu nehmen. Wie in diesem Fall kann es in bestimmten Konstellationen zu einem Wegfall einzelner Wertungskriterien kommen. Doch nicht nur das. Trifft eine Wertungsmatrix nach dem 100 Punkte oder nichts-Prinzip auf eine gleichzeitig verwandte anders gestaltete Bewertungsmatrix (zum Beispiel eine Interpolation anhand fester Werte) können sich die bekanntgemachten Wertungskriterien verschieben. Angesichts des top or not-Effektes können auch marginale Unterschiede der Angebote über den Zuschlag entscheiden.
Der voraussehende Bieter sollte daher stets bemüht sein, den Schwerpunkt seiner Angebotsgestaltung auf diese Kategorie zu legen, unabhängig ihrer Gewichtung. Für den öffentlichen Auftraggeber bringt dies den Nachteil, dass die Angebote nicht mehr nach der von ihm festgelegten Gewichtung erstellt werden. So kann ein Angebot den Zuschlag erhalten, das nicht das wirtschaftlichste, aber das mathematisch am besten erstellte Angebot ist. Dem Ziel einer effektiven Auftragsbeschaffung wird das nicht gerecht.
Eine weitere Gefahr ist die in der Rechtsprechung als Flipping-Effekt bezeichnete Verschiebung der Bieterreihenfolge in Abhängigkeit von Angeboten Dritter (so beispielsweise Oberlandesgericht Düsseldorf 19. Juni 2013 – VII-Verg 8/13). Lapidar ausgedrückt kann ein drittes Angebot die Bewertung der beiden anderen Angebote derart verändern, dass das zunächst zweitplatzierte Angebot auf den ersten Platz springt (hierzu ausführlich: Bartsch in NZBau 2012, 393 ff.). Hierdurch wird mit der Anzahl der abgegebenen Angebote eine nicht vorgesehene Bedingung für den Zuschlag geschaffen. Besondere Beachtung verdient aber auch die Tatsache, dass dem öffentlichen Auftraggeber ein Vergabeverstoß zur Last gelegt wurde, den er zum Zeitpunkt der Erstellung der Vergabeunterlagen nicht kannte. Während im Regelfall eine Vergabeunterlage bereits im Zeitpunkt ihrer Bekanntmachung rechtswidrig oder rechtmäßig ist, lag hier der Fall anders. Durch die Verwendung der Bewertungsmatrix nach dem 100 Punkte oder nichts – Prinzip hat der Auftraggeber eine latente Gefahr geschaffen, die sich erst im Zeitpunkt der Angebotsabgabe realisierte. Hätten mehr als nur zwei Bieter ein Angebot abgegeben, so wäre es wie in der vorgenannten Entscheidung (3. März 2010 – VII-Verg 48/09) nicht zwingend zu dem hier beanstandeten Vergaberechtsverstoß gekommen. Die Gefahr eines Vergaberechtsverstoßes und die damit verbundene Aufhebung der Ausschreibung hängen von einer Bedingung ab, auf die der Auftraggeber keinen Einfluss hat. Kann der Auftraggeber den Verstoß erkennen nämlich bei Eingang der Angebote ist es bereits zu spät für ihn, den Fehler zu heilen ohne schwerwiegend in die Ausschreibung einzugreifen. Zur Vorsorge sind die Auftraggeber daher gehalten, von dem 100 Punkte oder nichts-Prinzip Abstand zu nehmen und es durch eine Matrix mit einer von der Angebotsanzahl unabhängigen Interpolation zu ersetzen.
Jochen Spindler ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Lindenau Prior & Partner, Düsseldorf/Berlin. Er berät und vertritt öffentliche Auftraggeber aber auch Bieter in Vergabeverfahren.
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