Vier Jahre ist es her, dass der EuGH festgestellt hat, dass eine „unverzügliche“ Rechtsmittelfrist europarechtswidrig ist, weil sie sich nicht eindeutig berechnen lässt. Die Rechtsprechung in Deutschland zeigte sich davon überwiegend unbeeindruckt. Nur vereinzelt kam die Frage auf, ob nicht dasselbe auch für die „unverzügliche“ Rügefrist in § 107 Abs. 3 GWB gelten muss, da deren genaue Dauer (von einem Tag bis zu zwei Wochen) seit je her die Nachprüfungsinstanzen beschäftigt. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland konnte nun vorläufig verhindert werden – durch das Versprechen, § 107 Abs. 3 GWB alsbald zu ändern und eine konkret berechenbare 10- bzw. 15-tägige Rügefrist einzuführen.
§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB
Einführung
Am 28.01.2010 hatte der EuGH (Rs. C-406/08 und C-456/08) u.a. in einem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Irland entschieden, dass eine (irische) Norm, nach der ein Nachprüfungsantrag „unverzüglich“ eingereicht werden muss, gegen die Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG verstößt. Die Mitgliedsstaaten dürften zwar Ausschlussfristen vorsehen, nach deren Ablauf ein etwaiger Vergaberechtsverstoß nicht mehr geltend gemacht werden kann. Solche Ausschlussfristen müssten allerdings eine hinreichend klare, bestimmte und überschaubare Regelung aufweisen, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten erkennen können. Das Merkmal der „Unverzüglichkeit“ widerspricht diesen Grundsätzen, weil sich damit die genaue Dauer der Frist nicht berechnen lässt.
Rechtsprechung in Deutschland
Die Rechtsprechung hierzulande zeigte sich von der Entscheidung des EuGH überwiegend unbeeindruckt. Nach anfänglichen Unsicherheiten kehrte die beruhigende herrschende Meinung zurück, dass die „unverzügliche“ deutsche Rügefrist des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB immun gegen solche europarechtlichen Grundsätze sei. Ein ganzer Strauß an – typisch deutschen – Argumenten wurde dafür ins Feld geführt.
Das wichtigste Argument ging dahin, dass die deutsche Rüge schon gar kein förmliches Rechtsmittel sei, sondern eine „Obliegenheit“: ein Bieter muss also nicht rügen, er kann (und sollte) rügen, um Rechtsnachteile von sich abzuwenden (OLG Dresden, Beschluss vom 07.05.2010 – WVerg 6/10). Das zweite Argument verwies darauf, dass das Merkmal der „Unverzüglichkeit“ im deutschen Recht in § 121 Abs. 1 BGB gesetzlich definiert sei. „Unverzüglich“ bedeute danach „ohne schuldhaftes Zögern“ (OLG Rostock, Beschluss vom 20.10.2010 – 17 Verg 5/10). Ein juristischer Taschenspielertrick, denn die Frist wird dadurch nicht klarer oder gar berechenbar; es wird lediglich ein unbestimmter Rechtsbegriff durch einen anderen ausgetauscht. Ein drittes Argument verwies schließlich darauf, dass die „Unverzüglichkeit“ im deutschen Recht schon seit über hundert Jahren existiere und deshalb von der Rechtsprechung so weit als möglich konkretisiert und für die Normadressaten somit hinreichend bestimmt sei (OLG Hamburg, Beschluss vom 02.10.2012 – 1 Verg 2/12). Vor allem das letzte Argument erstaunte mit Blick auf die lebendige Vielfalt in der Rechtsprechung, wonach eine Rüge irgendwo zwischen einem Tag und zwei Wochen, mal inklusive und mal exklusive Feiertagen oder Wochenenden, als entweder „gerade noch“ oder eben „nicht mehr“ unverzüglich angesehen wurde.
Bei einigen Oberlandesgerichten überwogen deshalb die Zweifel an der Europarechtskonformität der „unverzüglichen“ Rügefrist (OLG Celle, Beschluss vom 26.04.2010 – 13 Verg 4/10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.12.2012 – 15 Verg 10/12; OLG Koblenz, Beschluss vom 16.09.2013 – 1 Verg 5/13 – siehe dazu auch die Besprechung von RAin Sonja Stenzel). Sie ließen § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB daher unangewendet. Zu Recht wies insbesondere das OLG Koblenz darauf hin, dass ein Bieter weder durch Lesen des Gesetzestextes in § 107 GWB oder § 121 BGB noch durch das Studium der umfangreichen, hundertjährigen Rechtsprechung feststellen kann, ob er noch heute rügen muss oder bis morgen Zeit hat. Genau das ist aber die Situation, die der EuGH als unvereinbar mit der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG angesehen hat.
Vorverfahren der Europäischen Kommission
Bereits im Mai 2012 hat die Europäische Kommission damit begonnen, sich mit den deutschen Rügevorschriften und der darin enthaltenen „unverzüglichen“ Rügefrist zu beschäftigen. Nach einem Jahr der Analyse und Prüfung hat die Kommission festgestellt, dass § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB, wonach ein Nachprüfungsantrag unzulässig ist, wenn der Antragssteller den in Frage stehenden Vergaberechtsverstoß nicht „unverzüglich“ nach dessen Kenntnisnahme gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber gerügt hat, den europarechtlichen Vorgaben, insbesondere Artikel 1 Absatz 4 und Artikel 2c der Rechtsmittelrichtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2007/66/EG, widerspricht. Die Unbestimmtheit der Vorschrift, verletzt die Rechtsmittelrichtlinie und die Gebote der Transparenz, Rechtssicherheit und Nichtdiskriminierung.
Im Juli 2013 hat die Kommission deshalb ein informelles Vorverfahren eingeleitet und ist in Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland eingetreten. Ziel des Vorverfahrens war es, eine gütliche Einigung zur Beseitigung des Europarechtsverstoßes herbeizuführen und die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EuGH nach Artikel 258 AEUV zu vermeiden.
Ende März 2014 hat das informelle Vorverfahren nun vorläufig ein erfolgreiches Ende gefunden, nachdem das Bundeswirtschaftsministerium zugesagt hat, die Vorschrift des § 107 Abs. 3 GWB alsbald zu ändern. Die Änderung soll im Zuge der jetzt laufenden Reform des GWB zur Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien 2014/23/EU, 2014/24/EU und 2014/25/EU erfolgen. Die Kommission hat sich damit einstweilen zufrieden gegeben, da der Europarechtsverstoß demnächst abgestellt werden wird. Die Kommission wird die Umsetzung der Zusage daher vorläufig nur überwachen.
Zukünftige Regelung
Mit der GWB-Reform bis 2016 soll nach der Zusage des BMWi die Rügefrist in § 107 Abs. 3 GWB an die Regelung der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG angepasst werden.
Nach Artikel 1 Abs. 4 der Rechtmittelrichtlinie darf ein Mitgliedsstaat im nationalen Vergaberecht vorschreiben, dass ein Bieter, der einen Nachprüfungsantrag einreichen will, den geltend gemachten Vergaberechtsverstoß zuvor beim Auftraggeber rügen muss. Vorausgesetzt ist allerdings, dass die Fristen zur Einreichung eines Nachprüfungsantrages nach Artikel 2c dadurch unberührt bleiben. Danach muss einem Bieter eine Überlegensfrist zustehen, die ab der Absendung der angegriffenen Entscheidung des Auftraggebers mindestens 10 Kalendertage (bei Übermittlung per Fax oder E-Mail bzw. 15 Kalendertage bei postalischer Übermittlung) betragen muss (vgl. die ähnliche Fristenregelung in § 101a Abs. 1 GWB). Diese Überlegensfrist darf durch eine vorgeschaltete Rügefrist nicht verkürzt werden. Die Rügefrist darf somit ihrerseits nicht weniger als 10 bzw. 15 Kalendertage betragen.
Der Zeitpunkt, ab dem die mindestens 10- bzw. 15-tägige Rügefrist zu laufen beginnt, ist nach Artikel 1 Abs. 4 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG nicht ausdrücklich festgelegt. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 28.01.2010, Rs. C-406/08) ergibt sich jedoch aus dem Ziel der Richtlinie, dass die Fristen stets erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem der Bieter von dem zu rügenden Vergaberechtsverstoß Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen.
Das schließt es nicht aus, dass eine künftige deutsche Regelung in § 107 Abs. 3 GWB n.F. eine generelle Rügefrist von 10 bzw. 15 Kalendertagen ab Veröffentlichung der Bekanntmachung oder Versendung (bzw. Erhalt) der Vergabeunterlagen enthalten könnte. Zu empfehlen wäre dies gleichwohl nicht. Denn eine solche generelle Ausschlussfrist würde es erfordern, dass die Bieter die Vergabeunterlagen stets sofort nach Veröffentlichung oder Erhalt prüfen müssen, ggf. unter Zuhilfenahme eines Rechtsanwalts. Außerdem müssten die Bieter binnen dieser Frist entscheiden, ob sie an dem Vergabeverfahren teilnehmen möchten und deshalb schon jetzt etwaige Fehler in den Vergabeunterlagen rügen müssen. Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) würde das die Teilnahme an Vergabeverfahren wesentlich erschweren. Hinsichtlich der Entscheidung zur Teilnahme am Vergabeverfahren würde dadurch außerdem die Bewerbungs- bzw. Angebotsfrist ungebührlich verkürzt werden.
Als Zeitpunkt, ab dem die Rügefrist zu laufen beginnt, würde sich hingegen weiterhin der Zeitpunkt der (positiven) Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß oder des mutwilligen Sichverschließens vor der Erkenntnis anbieten. Diese Kenntnis bzw. das Kennenmüssen entspräche der Rechtsprechung des EuGH (s.o.). Sie ist nach der Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 26.09.2006 – X ZB 14/06) hinreichend geklärt. Vorausgesetzt ist danach zweierlei: (1) dass der Bieter alle tatsächlichen Umstände eines Vergaberechtsverstoßes kennt und (2) über die zumindest laienhafte rechtliche Wertung verfügt, dass diese Tatsachen einen Verstoß gegen vergaberechtliche Bestimmungen darstellen. Lediglich das zweite Element, die rechtliche (Laien-)Wertung, bedürfte aus europarechtlicher Sicht einer Korrektur. Objektiver Maßstab einer solchen rechtlichen (Laien-)Wertung muss selbstverständlich ein durchschnittlicher europäischer Bieter sein, dem eine Kenntnis der – ggf. auch jahrelang gefestigten – deutschen Rechtsprechung zum deutschen Vergaberecht nicht unterstellt werden kann.
Die endgültige Ausgestaltung einer zukünftigen Rügefrist wird jedoch abzuwarten bleiben, bis der Gesetzgebungsprozess zur Umsetzung der noch druckfrischen neuen EU-Vergaberichtlinien abgeschlossen ist. Die Umsetzungsfrist läuft allerdings bis zum 17.04.2016. Mit einer wesentlich früheren Neuregelung dürfte wohl nicht zu rechnen sein.
Für die Zwischenzeit dürfte jetzt allerdings klar sein, dass die „unverzügliche“ Rügefrist des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB wegen Verstoßes gegen höherrangiges Europarecht keine Anwendung mehr finden kann und folglich unangewendet bleiben muss.
Zu einer abweichenden Entscheidung dürfte – als letzte vergaberechtliche Instanz – kein Oberlandesgericht mehr kommen, ohne die Frage zuvor nach Artikel 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH vorzulegen.
Zu einer abweichenden Entscheidung dürfte ein Oberlandesgericht auch mit Blick auf die Entscheidung des OLG Koblenz (Beschluss vom 16.09.2013 – 1 Verg 5/13) nicht mehr kommen, ohne die Frage zuvor nach § 124 Abs. 2 GWB zumindest dem BGH vorzulegen. Auch wenn das OLG Koblenz die Frage der Rügefrist in seiner Entscheidung dahinstehen lassen konnte (weil der damalige Nachprüfungsantrag jedenfalls unbegründet war), würden die Vorlagepflicht des § 124 GWB und das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG andernfalls ganz entleert werden. Wenn es eine Frage gibt, die nach einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung ruft und längst vor den BGH oder EuGH gehört hätte, dann die nach der „unverzüglichen“ deutschen Rügefrist.
John Richard Eydner
John Richard Eydner ist Rechtsanwalt und Partner bei der Wirtschaftskanzlei LANGWIESER | Rechtsanwälte Berlin | München. Er berät und begleitet bundesweit Auftraggeber bei der Konzeption und Durchführung von Vergabeverfahren ebenso wie Unternehmen bei der Teilnahme daran. Durch seine Erfahrungen auf „beiden Seiten“ steht Rechtsanwalt Eydner für problembewusste, konfliktvermeidende und störungsresistente Vergaben. Er ist Vorsitzender der DVNW-Regionalgruppe Berlin-Brandenburg
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