Die Entscheidung des OLG Koblenz enthält zwar keinen vergaberechtlichen Paukenschlag, streift jedoch die höchst praxisrelevanten Themen Bieterfragenmanagement, Auslegung von Vergabeunterlagen sowie die Möglichkeit der Vergabestelle, ein Verfahren wegen eigener Fehler in eine frühere Phase des Verfahrens zurückzuversetzen oder gar aufzuheben. Letzteres ist entgegen den möglicherweise missverständlichen Leitsätzen des Gerichts nur unter engen Voraussetzungen möglich und grundsätzlich nur angezeigt, wenn eine Korrektur des Fehlers im laufenden Verfahren nicht mehr möglich ist.
§ 97 Abs. 2 GWB, §§ 10 Abs. 1, 12 Abs. 7, 17 Abs. 1 VOB/A-EG
Leitsatz
Sachverhalt
In einem europaweiten Bauvergabeverfahren war der Eröffnungstermin sowohl in den Vergabeunterlagen als auch in der Bekanntmachung als 13.11.2013, 11 Uhr angegeben. In den Betreffzeilen von vier Rundschreiben an die Interessenten wurde jedoch aufgrund eines Schreibfehlers der 13.11.2013, 14 Uhr als Angebotsfrist genannt. Einem Unternehmen der spätere Antragsteller war dieser Widerspruch aufgefallen; auf telefonische Nachfrage bei der Vergabestelle wurde ihm mitgeteilt, die ursprünglich angegebene Uhrzeit (11 Uhr) sei verbindlich. Weitere Interessenten wurden nicht informiert.
Nach Submission um 11 Uhr erwies sich das Angebot des Antragstellers als das günstigste.
Es kam jedoch, wie es kommen musste ein anderes Unternehmen hatte sich durch die Angabe in den Informationsschreiben in die Irre führen lassen und sein Angebot erst um 13:40 Uhr abgegeben. Dieses Angebot wäre günstiger als das des Antragstellers gewesen.
Die Vergabestelle hielt dieses Angebot für nicht wertbar und versetzte zugleich das Verfahren unter Hinweis auf die widersprüchlichen Zeitangaben in die Phase vor Angebotsabgabe zurück. Hiergegen wandte sich der Antragsteller.
Die Entscheidung
Das OLG Koblenz billigt die Vorgehensweise der Vergabestelle. Es sei richtig gewesen, das verspätete Angebot nicht zu werten. Denn der Eröffnungstermin sei nicht verschoben worden und das Angebot daher zu spät gewesen. Die vier Informationsschreiben hätten von einem verständigen Empfänger nicht als eine Erklärung dahingehend ausgelegt werden können, dass der Termin verschoben worden ist.
Allerdings sieht das Gericht die Schuld an der Verspätung des Angebots bei der Vergabestelle. Spätestens durch die telefonische Frage des Antragstellers sei die Vergabestelle auf ihren Fehler hinsichtlich der widersprüchlichen Uhrzeitangaben aufmerksam geworden. Die abweichende Angabe der Uhrzeit in den Informationsschreiben sei geeignet gewesen, bei einem Bieter den Eindruck zu erwecken, der Eröffnungstermin sei verschoben worden. Das OLG erkannte hier ein Informationsbedürfnis, das nicht nur in der objektive Erläuterungsbedürftigkeit der Vergabeunterlagen begründet war, sondern sich auch aus einem subjektiven, eventuell sogar vermeidbaren Missverständnis ergeben konnte.
Die Vergabestelle sei daher in Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verpflichtet gewesen, alle Unternehmen, die die Vergabeunterlagen angefordert hatten, unverzüglich über ihren Fehler zu informieren. Der verspätete Angebotseingang hätte hierdurch mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden können.
Das OLG Koblenz sieht in dem Vergaberechtsverstoß zwar keinen sanktionsfreien, aber trotzdem einen sachlichen Grund, der sogar eine Verfahrensaufhebung und Einleitung eines neuen Verfahrens hätte rechtfertigen können. Gleichwohl sei der Weg der Vergabestelle, den milderen Weg der Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in den Stand vor Ablauf der Angebotsfrist zu wählen, vergaberechtlich nicht zu beanstanden.
Rechtliche Würdigung
Die Vergabestelle hat ihre zwei Fehler die widersprüchlichen Zeitangaben und die unzureichende Bieterinformation durch Zurückversetzung in die Phase vor Angebotsabgabe wiedergutgemacht. Daher hatte der Nachprüfungsantrag zu Recht keinen Erfolg. Eine Zurückversetzung ist in jeder Phase des Verfahrens zur Behebung von Fehlern der Vergabestelle zulässig, sofern die Entscheidung auf einem sachlichen Grund beruht und willkürfrei getroffen wird. Das war hier der Fall; die Zurückversetzung war für alle Beteiligten das effektivste Mittel, um die Vergaberechtsverstöße zu beseitigen und das Vergabeverfahren zügig zu beenden.
Interessant sind einige Anmerkungen des Gerichts, die eher nebenbei gefallen sind. Zunächst hat es erwähnt, dass ein Verschieben des Angebotstermins durchaus zulässig gewesen wäre. Das ist zutreffend; die formalen Verfahrensvorgaben können grundsätzlich in jeder Phase des Verfahrens unter Berücksichtigung von Gleichbehandlung und Transparenz abgeändert werden, beispielsweise wenn die ursprüngliche Frist aufgrund von erforderlichen Änderungen und Korrekturen des Leistungsverzeichnisses nicht mehr eingehalten werden kann. Der Antragsteller hatte hiergegen eingewandt, die Angaben in der Bekanntmachung müssten immer Vorrang haben; das ist jedoch bei einer zulässigen Verfahrensänderung nicht (mehr) der Fall.
Praxisrelevant sind ferner die Feststellungen dazu, unter welchen Voraussetzungen eine allgemeine Bieterinformation geboten ist. Nicht nur eine objektive Widersprüchlichkeit der Vergabeunterlagen löst ein allgemeines Informationsbedürfnis aus, sondern schon die Möglichkeit, dass einzelne Bieter aufgrund von vermeidbaren Missverständnissen Vorgaben falsch verstehen.
Im vorliegenden Fall hätte die bloße Erwähnung einer geänderten Uhrzeit in den vier Rundschreiben von einem verständigen Bieter eigentlich nicht als verbindliche Verschiebung des Submissionstermins verstanden werden dürfen. Vergabestellen dürfen jedoch bei unklaren Vorgaben nicht vom verständigen Bieter ausgehen, sondern müssen in Betracht ziehen, dass Unklarheiten immer ein allgemeines Informationsbedürfnis auslösen.
Die Schwelle für die Pflicht, alle zu informieren, ist also sehr gering. Das gilt erst recht, wenn einzelne Unternehmen bereits informiert worden sind. Hier gebietet schon der Grundsatz der Gleichbehandlung eine allgemeine Information. Nicht zuletzt folgt dies aus § 12 Abs. 7 VOB/A-EG, nach dessen Wortlaut der Vergabestelle eigentlich gar kein Ermessen bei der Entscheidung zukommt, ob Informationen an alle zu erteilen sind oder nicht.
Irritierend ist die Aussage des OLG Koblenz, die Vergaberechtsverstöße hätten sogar einen sachlichen (wenn auch nicht sanktionsfreien) Grund für eine Aufhebung und Einleitung geliefert. Denn es ist anerkannt, dass die Aufhebung als ultima ratio nur in Betracht kommt, wenn eine Korrektur des Fehlers im laufenden Verfahren nicht mehr möglich ist (vgl. Vorinstanz VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 31.01.2014, Az. VK 1 – 33/13 unter Verweis auf OLG Koblenz, Beschluss vom 26.10.2005, Az. 1 Verg 4/05). Der Vergabestelle obliegt insofern eine Ermessensentscheidung. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass eine Aufhebungsentscheidung ermessensfehlerhaft wäre, weil es eine weniger einschneidende Möglichkeit zur Fehlerbehebung gibt, ist kein Raum mehr für eine sachlich begründete Aufhebungsentscheidung.
Überdies ist eine Aufhebungsentscheidung, obgleich sie willkürfrei und auf nachvollziehbarer Grundlage getroffen wurde, grundsätzlich angreifbar und kann Schadensersatzansprüche auslösen. Denn Maßstab ist letztlich immer der schwerwiegende Grund i. S. d. § 17 VOB/A-EG, dessen Voraussetzungen enger sind als die des sachlichen Grundes. Insofern sind die amtlichen Leitsätze Nr. 2-4 mit Vorsicht zu genießen.
Praxistipp
Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass Vergabestellen mit Bieterinformationen höchst sensibel umgehen sollten. Das beinhaltet zunächst klare Vorgaben in den Vergabeunterlagen, in welcher Form (ausschließlich schriftlich) und in welcher Frist (in Anlehnung an § 12 Abs. 7 VOB/A-EG sechs Kalendertage vor Ablauf der Angebotsfrist) Bierfragen zu stellen sind. Ferner sollten Antworten im Zweifel immer allen interessierten Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.
Sollten sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dennoch einmal Fehler einschleichen, sollten Vergabestellen immer in Betracht ziehen, das Verfahren beispielsweise durch Zurückversetzung in eine frühere Phase zu retten. Der dadurch entstehende Zeitverlust ist einer angreifbaren Vergabeentscheidung allemal vorzuziehen. Eine Aufhebung eines Vergabeverfahrens ist hingegen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig (vgl. hierzu den Beitrag von Dr. Martin Ott zu BGH, Beschl. v. 20.03.2014 – Az. X ZB 18/13)
Hinweis der Redaktion: Hermann Summa, Stellvertretender Vorsitzender, Vergabe- und 1. Strafsenat am OLG Koblenz, wird auch auf dem 1. Deutschen Vergabetag am 23.10.2014 referieren. Programm & Anmeldung.
Die Autorin Sonja Stenzel ist Rechtsanwältin in Berlin und bei der BG Kliniken - Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH tätig.
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