Stärkung des Rechtsschutzes unterhalb der Schwellenwerte: Zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen können Bietern Auskunftsansprüche gegen den Auftraggeber zustehen.
Die Effektivität des Rechtsschutzes beteiligter Bewerber und Bieter an Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte wird bis heute beklagt. Eine gesetzliche Spezialzuständigkeit – wie die der Vergabekammern und Vergabesenate oberhalb der Schwellenwerte – existiert für den Primärrechtsschutz (Verhinderung der Zuschlagserteilung und Nachprüfung vor Vergabe des Auftrags) unterhalb der Schwellenwerte nicht. Die ordentlichen Gerichte (im Wege einstweiliger Verfügungsverfahren) oder Aufsichtsbehörden bzw. „Nachprüfungsstellen“ entscheiden bei Vergaben unterhalb der Schwellenwerte manchmal mehr, manchmal weniger effektiv über Primärrechtsschutzbegehren.
Umso größere Bedeutung haben Schadensersatzansprüche der Bieter unterhalb der Schwellenwerte (Sekundärrechtsschutz). Dies insbesondere in den in der Praxis immer wieder anzutreffenden Fällen, in denen der Auftraggeber ein Vergabeverfahren mit der Begründung aufhebt, die eingegangenen Angebote würden seine ursprüngliche Kostenschätzung bzw. sein für die ausgeschriebene Leistung zur Verfügung stehendes Budget überschreiten. Eine effektive Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen hängt in solchen Fällen insbesondere vom Bestehen von Auskunftsansprüchen der betroffenen Bieter im Sinne eines Akteneinsichtsrechts ab. Hiermit war im vorliegenden Fall das Landgericht Oldenburg befasst.
§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 242, 810 BGB, §§ 17, 20, 17 EG, 20 EG VOB/A
Leitsatz
- Hat der Bieter mit dem günstigsten Angebot keine faire Chance auf den Zuschlag, weil der Auftraggeber die Ausschreibung wegen einer (angeblichen) Überschreitung der Kostenschätzung aufgehoben und den Auftrag einem anderen, am Vergabeverfahren bislang nicht beteiligten Unternehmen „zugeschanzt“ hat, kann dem Bieter ein Anspruch auf Schadensersatz zustehen.
- Lässt sich für den Bieter erst nach Einsicht in die Kostenschätzung klären, ob diese zu beanstanden ist und sich daraus möglicherweise ein Schadensersatzanspruch ergibt, kann er Einsicht in die Unterlagen zur Kostenschätzung verlangen.
Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber, eine niedersächsische Stadt, schrieb Tiefbauarbeiten im Wege einer Beschränkten Ausschreibung nach VOB/A aus. Hieran beteiligte sich das später gerichtlich klagende Tiefbauunternehmen und gab das günstigste Angebot ab. Der Auftraggeber hob die Ausschreibung auf, weil die Angebote seine Kostenschätzung deutlich überstiegen. Im Anschluss an die Aufhebung vergab der Auftraggeber den Auftrag freihändig an einen Wettbewerber des Tiefbauunternehmens, der sich an der ursprünglichen Ausschreibung nicht beteiligt hatte. Diese Freihändige Vergabe erfolgte „im Umfang der ursprünglichen Ausschreibung“.
Das klagende Tiefbauunternehmen ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Beschränkten Ausschreibung nicht vorgelegen hätten und es den Auftrag hätte erhalten müssen. Es begehrt Akteneinsicht in sämtliche Vergabevorgänge zu der streitigen Ausschreibung, um Ersatz des positiven Schadens (entgangener Gewinn) zu erlangen. Es hegt den Verdacht, dass der Auftrag seinem Wettbewerber, der den Auftrag erhalten hatte, „zugeschanzt“ werden sollte, und erwartet hierzu Anhaltspunkte in den Akten.
Das Amtsgericht (1. Instanz) hat dem klagenden Tiefbauunternehmen ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zugesprochen. Dagegen wendet sich der beklagte Auftraggeber mit der Berufung.
Die Entscheidung
Mit teilweisem Erfolg! Auskunftsanspruch und Akteneinsichtsrecht des Bieters bestehen nur hinsichtlich der Kostenschätzung zu der Beschränkten Ausschreibung. Darüber hinausgehende Auskunftsansprüche oder Akteneinsichtsrechte bestehen nicht.
Nach den Maßstäben ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, Urt. v. 06.02.2007 – X ZR 117/04) zu § 242 BGB steht dem Bieter ein Anspruch auf Einsicht in die Unterlagen des Auftraggebers zur Kostenschätzung der Beschränkten Ausschreibung zu. Der Bieter ist in entschuldbarer Weise über das Bestehen eines Rechts, nämlich eines etwaigen ihm zustehenden Schadensersatzanspruchs, im Ungewissen und der Auftraggeber kann hierüber unschwer Auskunft geben.
Der hier geltend gemachte Schadensersatzanspruch – gerichtet auf den entgangenen Gewinn – setzt nach ständiger Rechtsprechung u.a. voraus, dass dem Bieter bei ordnungsgemäßem Verlauf des Vergabeverfahrens der Zuschlag hätte erteilt werden müssen (BGH, Urt. v. 20.11.2012 – X ZR 108/10). Dies hängt vorliegend davon ab, ob der Auftraggeber das Vergabeverfahren aufheben durfte. Eine Aufhebung ist erlaubt, wenn die vor der Ausschreibung vorgenommene Kostenschätzung des Auftraggebers aufgrund der bei ihrer Aufstellung vorliegenden und erkennbaren Daten als vertretbar erscheint und die im Vergabeverfahren abgegebenen Angebote deutlich darüber liegen. Die Kostenschätzung ist eine Prognose, die dann nicht zu beanstanden ist, wenn sie unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten in einer der Materie angemessenen methodisch vertretbaren Weise erarbeitet wurde.
Für den hier klagenden Bieter wird sich erst nach Einsicht in die Kostenschätzung klären lassen, ob die Kostenschätzung zu beanstanden ist und sich daraus möglicherweise ein Schadensersatzanspruch ergibt. Hierfür bestehen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die drei im Vergabeverfahren abgegebenen Angebote die vom Auftraggeber angesetzten Kosten erheblich überschritten haben. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Auftraggeber den ausgeschriebenen Auftrag nach der Aufhebung der Beschränkten Ausschreibung freihändig an einen dritten, zuvor nicht beteiligten Wettbewerber vergeben hat. Dies kann im Zusammenhang mit den erheblichen Wertunterschieden zwischen Kostenschätzung und abgegebenen Angeboten auf das Fehlen einer fairen Chance des klagenden Bieters im Wettbewerb hindeuten.
Ein weitergehender Auskunftsanspruch als die Einsicht in die Kostenschätzung steht dem klagenden Bieter nicht zu. Über die dargelegten Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruches hinaus – nämlich Aufhebung der Beschränkten Ausschreibung wegen unvertretbarer Kostenschätzung – ist der klagende Bieter nicht über das Bestehen eines Rechts im Ungewissen.
Aus § 810 BGB i.V.m. § 20 VOB/A, Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3, 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 EMRK ergeben sich keine über den festgestellten Umfang hinausgehenden Auskunftsansprüche. Aus dem GWB, dem Niedersächsischen Landesvergabegesetz, § 29 VwVfG ergeben sich im vorliegenden Fall eines Vergabeverfahrens unterhalb der Schwellenwerte ebenfalls keine Auskunftsansprüche oder Akteneinsichtsrechte.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung stärkt die Effektivität des Sekundärrechtsschutzes für Fälle (vermeintlich) rechtswidriger Aufhebungsentscheidungen durch öffentliche Auftraggeber. Ohne den vom Gericht zugesprochenen Auskunftsanspruch ist es dem Schadensersatz geltend machenden Bieter in solchen Fällen entweder überhaupt nicht oder nur schwer möglich, zur fehlerhaften bzw. unzureichenden Kostenschätzung des Auftraggebers im Schadensersatzprozess vorzutragen.
Ob und inwieweit die Begrenzung des Auskunftsanspruches bzw. Akteneinsichtsrechts im Einzelfall richtig und angemessen ist, hängt maßgeblich vom geltend gemachten Recht bzw. Anspruch des betroffenen Bieters ab. In Fällen, in denen ein betroffener Bieter eine rechtswidrige „Scheinaufhebung“ geltend macht, mit der der Auftraggeber einem Wettbewerber den zu vergebenden Auftrag „zuschanzen“ will, sind über den hier entschiedenen Umfang hinausgehende Akteneinsichtsrechte denkbar. Vom Akteneinsichtsrecht kann dann insbesondere der Inhalt und Umfang des tatsächlich vergebenen Auftrags umfasst sein, oder die übrigen tatsächlichen Umstände der sich an die Aufhebung anschließenden (Freihändigen) Vergabe des Auftrags. Die Verdachtsmomente einer rechtswidrigen „Scheinaufhebung“ dürften sich etwa dann erhärten, wenn der Auftraggeber im Anschluss an eine Aufhebung – trotz Fehlens eines Ausnahmetatbestandes – eine Freihändige Vergabe ohne jeden Wettbewerb, d.h. ohne Einholung von Vergleichsangeboten bzw. ohne Beteiligung mehrerer Bieter durchführt.
Praxistipp
Auftraggeber haben vor Einleitung eines Vergabeverfahren nicht nur eine ausreichende Finanzierung für das Vorhaben sicherzustellen. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Ermittlung und Dokumentation des geschätzten Auftragswerts. Dies ist sowohl für die Frage der Schwellenwert- oder Wertgrenzenberechnung erforderlich und relevant als auch für eine spätere Darlegung der Vertretbarkeit der Kostenschätzung in Aufhebungsfällen. Fehler in der Schätzung oder entsprechende Dokumentationsdefizite können empfindliche Folgen haben – von der Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages (vgl. VK Bund, Beschl. v. 27.05.2014 – VK 2-31/14 – Besprechung von Dr. Benjamin Klein, Vergabeblog.de vom 31.08.2014, Nr. 19921) bis zu Schadensersatzverpflichtungen hinsichtlich des entgangenen Gewinns rechtswidrig übergangener Bieter.
Die vorliegende Entscheidung verhilft dem Rechtsschutz der Bewerber und Bieter – gerade in Fällen (vermeintlich) rechtswidriger Aufhebungsentscheidungen eines öffentlichen Auftraggebers – zu mehr Effektivität. Nicht nur die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen kann mit entsprechenden Auskunftsansprüchen verbunden werden. Auch Beanstandungen von Aufhebungsentscheidungen vor einer anderweitigen Vergabe des Auftrags (Primärrechtsschutzbegehren) lassen sich unter Geltendmachung des zivilrechtlichen Auskunftsanspruchs mit Akteneinsichtsbegehren verknüpfen, um die für eine effektive Interessenverfolgung notwendigen Informationen zu erlangen. Im Übrigen können – unter den dort geregelten Voraussetzungen – Ansprüche nach den jeweils geltenden Informationsfreiheitsgesetzen (IFG) im Hinblick auf das Vergabeverfahren bestehen, und zwar sowohl während als auch nach Abschluss des Vergabeverfahrens. Das konkrete Vorgehen im Einzelfall sollten Bewerber und Bieter sorgfältig nach eigener Interessenlage und unter Abwägung aller Umstände prüfen, bevor sie sich mit dem einen oder anderen Begehren an den Auftraggeber oder eine „Nachprüfungsstelle“ wenden.
Henrik Baumann
Henrik-Christian Baumann ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Informationstechnologierecht bei der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Berlin und seit über zehn Jahren spezialisiert auf Vergaberecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht. Er berät und vertritt Auftraggeber und Unternehmen bei der öffentlichen Auftragsvergabe, insbesondere in den Bereichen Informationstechnologie (IT) sowie Infrastruktur, Bau und Immobilien. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der ganzheitlichen Einkaufs- und Beschaffungsberatung in multidisziplinären Projektteams, insbesondere bei Groß- und Organisationsprojekten. Henrik-Christian Baumann ist Lehrbeauftragter an einer Fachhochschule, ständiger Referent bei einschlägigen Fachtagungen und Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen.
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