Die Aufklärungspflicht des öffentlichen Auftraggebers aus § 19 Abs. 6 EG VOL/A ergibt sich nicht aus einer prozentualen Unterschreitung des Angebotsdurchschnitts sondern aus dem Preisabstand zum nächsthöheren Angebot. Die VK Baden-Württemberg stellt klar, dass im Nachprüfungsverfahren die Nichterweislichkeit eines ungewöhnlich niedrigen Angebotes zu Lasten des öffentlichen Auftraggebers geht.
§ 97 Abs. 7 GWB, §§ 2 Abs. 1 S. 1 EG VOL/A, 19 Abs. 6 EG VOL/A
Sachverhalt
Eine Universität im Land Baden-Württemberg hatte in einem offenen Verfahren drei Lose für den Dienstleistungsbereich „Gebäude- und Glasreinigung“ ausgeschrieben. Eine unterlegene Bieterin (X) wurde wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses zwischen Preis und zu erbringender Leistung nicht bei der Zuschlagserteilung berücksichtigt. Nach erfolgter Rüge begehrt die Antragstellerin die Wiederholung der Wertung der Angebote unter Einbeziehen ihres eigenen Angebots. Die Antragsgegnerin beantragt die Zurückweisung der Äußerungen, da sich die unterlegene Bieterin bei der Erstellung ihres Angebotes von den quantitativen Vorgaben der Vergabeunterlagen entfernt und die vorgelegten Preise mischkalkuliert habe.
Die Entscheidung
Dem formell und materiell einwandfreien Antrag der X wurde durch die Vergabekammer Baden-Württemberg im Sinne ihrer Einlassungen entsprochen. Die Kammer stellt ihre ablehnend kritische Haltung zu der Vorgehensweise der Vergabestelle in der Angebotswertung deutlich heraus, in dem sie auf die obergerichtliche Rechtsprechungspraxis der Vergabesenate verweist, dass Durchschnittswerte aus den vorliegenden Angeboten nicht die ausschließliche Betrachtung zum nächsthöheren Angebot ablösen können.
Rechtliche Würdigung
Der Rechtscharakter der in Rede stehenden Norm (§ 19 Abs. 6 EG VOL/A) entfaltet nur für den Bieter, dessen Angebot aufgrund der Unauskömmlichkeit ausgeschlossen werden soll, seine bieterschützende Funktion und ist damit zugleich drittschützend. Insofern hat der öffentliche Auftraggeber den Beweis zu führen, dass der offerierte Preis nur dadurch noch für den Bieter lukrativ sein kann, wenn er nicht oder nicht vertragsgerecht seinen Verpflichtungen nachkommt und vorhersehbar Schlechtleistungen in der Zukunft erbringen wird. Den schutzwürdigen Interessen der Vergabestelle (und der von ihr vertretenen Bedarfsträger) an einer einwandfreien Dienstleistung steht es aber nicht entgegen, wenn die Bieter von ihrer kaufmännischen Preiskalkulationsfreiheit Gebrauch machen und, ohne die Vergabeunterlagen abzuändern, dadurch teilweise Abweichungen vom Marktpreis von mehr als 20% aufweisen. Die von der Antragstellerin X eingebrachten Argumente (geringere Verschmutzungen in vorlesungsfreien Perioden -> Ausweitung der Reinigungsreviere) sind deswegen auch keine unzulässige Mischkalkulation, weil die Vergabestelle ihre Aufgreifschwelle an einer 15-prozentigen Abweichung des Mittelwertes aller eingegangenen und wertbaren Angebote festgemacht hat. Das bedeutet, dass eine Preisgestaltung in Bezug auf die Gewichtung und den Zuschnitt der Revierbereiche allen Bietern gestattet gewesen sein muss (horizontale Dimension). In dieser von X dargelegten Kalkulationsform waren die Reinigungsintervalle (Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers) jedoch gar nicht geändert worden (vertikale Dimension). Ein Beharren des öffentlichen Auftraggebers auf die Durchschnittswert-Methode weicht deswegen nicht nur von der herrschenden Meinung ab, sondern ist auch vom Sinn und Zweck der Norm her nicht gedeckt. Die Ausführungen der Vergabestelle vermitteln hier gerade nicht den Eindruck, dass der obwaltenden Prüfungspflicht vollumfänglich nachgekommen wurde. Vielmehr verfestigt sich die Erkenntnis, dass der dem öffentlichen Auftraggeber eingeräumte Bewertungskorridor nicht ausgeschöpft wurde. Zu einer Verifizierung einer Unauskömmlichkeit hätte es zudem gehört, Informationen über die monetäre, organisatorische, logistische und personelle Leistungsfähigkeit einzuholen. Im vorliegenden Fall hätten die für eine Prognose günstigen und auch einschlägigen Argumente (mittelständisches Unternehmen mit 90 Niederlassungen und Stützpunkten ohne abgabenrechtliche Auffälligkeiten) die angenommenen Schlechtleistungen bei anderen Vertragspartnern qualitativ und quantitativ überwogen. Die Antragstellerin X war damit in ihren subjektiven Rechten aus § 97 Abs. 7 GWB verletzt.
Praxistipp
Den Vergabestellen ist dringend zu empfehlen, die Aufgreifschwelle (nahe bzw. unter 20%) stets im Verhältnis zum nächsthöheren Angebot rechnerisch anzusetzen und Mittelwerterwägungen auszublenden. Ebenso ist der den Bietern eingeräumte Freiraum zur Preisfindung zu respektieren, wenn dessen Ansätze etwa die Mengen/Intervalle nicht verändern, sondern nur die (autonome) betriebsorganisatorische Aufteilung des Auftragsgegenstandes durch den Bieter betreffen. Zugleich steigen mit der Tragweite der vergaberechtlichen Entscheidung, etwa eines Ausschlusses, die qualitativen Anforderungen an die Prüfungspflicht des öffentlichen Auftraggebers. § 19 Abs. 6 EG VOL/A möchte keinen Dissens zwischen dem Schutz der Vergabestelle und der Kalkulationsfreiheit eines Kaufmannes herstellen, sondern vielmehr die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit auf beiden Seiten gewährleisten.
André Kühl
André Kühl ist Dozent an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Mannheim.
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