Es leuchtet ohne weiteres ein, dass die berufliche Qualifikation und Erfahrung der ausführenden Personen entscheidend für die Qualität einer Dienstleistung sein können. Dennoch haben Rechtsprechung und Vergabepraxis unter dem Schlagwort „kein Mehr an Eignung“ oft Ansätze unterbunden, diese Aspekte als Zuschlagskriterien zu akzeptieren. Der EuGH hat jetzt klargestellt, dass jedenfalls bei Dienstleistungen mit intellektuellem Charakter die berufliche Qualifikation und Erfahrung der konkret für die Ausführung vorgesehenen Mitarbeiter als Merkmale der „Qualität“ eines Angebots bewertet werden dürfen.
Art. 48, 53 RL 2004/18/EG; Art. 67 RL 2014/24/EU; §§ 4, 5 VgV
Sachverhalt
Die Entscheidung des EuGH erging auf Vorlage des portugiesischen Obersten Verwaltungsgerichts. Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits war die Entscheidung des Auftraggebers (Nersant), einen Auftrag über Dienstleistungen im Bereich der Fortbildung und Beratung an den Bieter Iberscal zu vergeben. Der unterlegene Bieter Ambisig machte geltend, dass das zur Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots mit 40 % gewichtete Zuschlagskriterium „Bewertung des Teams (Berücksichtigung der Zusammensetzung des Teams, die nachgewiesene Erfahrung und der berufliche Werdegang)“ rechtswidrig sei. Die Instanzgerichte bejahten die Zulässigkeit mit dem Argument, dass Nersant das für die Durchführung des Auftrags vorgesehene Team bewerte und nicht, weder direkt noch indirekt, Umstände, Eigenschaften, Merkmale oder sonstige die Bieter betreffende Gesichtspunkte. Dem Obersten Verwaltungsgericht kamen angesichts des EuGH-Urteils in der Rechtssache „Lianakis“ (Urt. v. 24.1.2008 Rs. C-532/06, ECLI:EU:C:2008:40) einerseits und andererseits dem damals bereits veröffentlichten Entwurf für die neue Basisvergaberichtlinie (KOM [2011] 896 endg.) Zweifel und legte die Rechtsfrage daher dem EuGH zur Entscheidung vor.
Die Entscheidung
Der EuGH stellt einleitend klar, dass die zu Beginn des Ausgangsrechtsstreits noch nicht in Kraft getretenen RL 2014/24/EU außer Betracht bleiben müsse. In Abgrenzung zur „Lianakis“-Entscheidung stellt der EuGH klar, dass dort nur die Bewertung des „Personals“ und seine „Erfahrung“ im Allgemeinen als Zuschlagskriterium für unzulässig erklärt wurde. Hier gehe es jedoch um die Bewertung des konkret für den Auftrag vorgesehenen Personals und dessen Erfahrungen. In diesem Fall hätten Qualifikation und Erfahrung des Personals den für Zuschlagskriterien stets erforderlichen Auftragsbezug (vgl. Art. 53 Abs. 1 lit. a RL 2004/18/EG). Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang klar, dass die Qualität der Auftragsausführung ganz maßgeblich von der beruflichen Qualifikation (die sich aus der beruflichen Erfahrung und der Ausbildung zusammensetzt) der damit beauftragten Person(en) abhängig sein kann. Dies gelte insbesondere, wenn die Dienstleistung einen intellektuellen Charakter aufweist, wie im Ausgangsverfahren die ausgeschriebenen Fortbildungs- und Beratungsleistungen.
Rechtliche Würdigung
Der EuGH nimmt die Regelung in Art. 67 Abs. 2 lit. b RL 2014/24/EU vorweg, wonach die Qualifikation und Erfahrung des mit der Ausführung des Auftrags betrauten Personals als Zuschlagskriterium berücksichtigt werden darf, wenn die Qualität des eingesetzten Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann. Jedenfalls bei freiberuflichen Dienstleistungen wird diese Einschränkung in der Praxis kaum jemals greifen.
Bis zur Umsetzung der neuen Richtlinie in deutsches Recht ist die Entscheidung wichtig für die Vergabe von „vorrangigen“ Dienstleistungen nach Anhang I A zur VOL/A-EG und zur VOF. Für „nachrangige“ Dienstleistungen (Anhang I B) erlaubten § 4 Abs. 2 Satz 2, § 5 Abs. 1 Satz 2 VgV schon bisher die Berücksichtigung der Qualifikation und Erfahrung des bei der Durchführung des Auftrags eingesetzten Personals als Zuschlagskriterium, wobei die Gewichtung 25 % nicht übersteigen soll (§ 4 Abs. 2 Satz 4, § 5 Abs. 1 Satz 4 VgV). Sinn dieser 25%-Grenze ist nach der Begründung der 7. ÄnderungsVO vom 15.10.2013 (BR-Drs. 610/13, S. 12) der Schutz von Neu- bzw. Erstanbietern (Newcomer), die bei einer höheren Gewichtung der Erfahrung zu stark in ihren Zuschlagschancen beschnitten werden könnten. Dieser Gedanke passt auch für die Vergabe von vorrangigen Dienstleistungen. Ob die Maximalgewichtung in diesem Fall analoge Anwendung findet, muss in der deutschen Rechtsprechung noch geklärt werden.
Das aktuelle Urteil der 5. Kammer des EuGH kommt etwas überraschend, denn die 8. Kammer des Gerichtshofs hat noch vor kurzem (Urt. v. 9.10.2014 Rs. C-641/13 P, ECLI:EU:C:2014:2264) ein strikte Lesart des „Lianakis“-Urteils vertreten und damit die Berücksichtigung der „Erfahrung“ des Bieters als Zuschlagskriterium ganz grundsätzlich verneint. Auf der jetzigen Linie des EuGH gab es in der Vergangenheit bereits einzelne Entscheidungen der Vergabesenate (vgl. z. B. OLG Düsseldorf v. 5.5.2008 VII-Verg 5/08; v. 21.05.2008 VII-Verg 19/08). Die Rechtsprechung war jedoch für Auftraggeber und Bieter kaum vorhersehbar (z.B. ablehnend OLG Düsseldorf v. 3.8.2011 VII-Verg 16/11; OLG Karlsruhe v. 21.12.2012 15 Verg 10/12).
Praxistipp
Auftraggeber müssen bei der Formulierung eines auf die Qualifikation bzw. die berufliche Erfahrung des eingesetzten Personals abstellenden Zuschlagskriteriums darauf achten, dass nur das konkret für die Auftragsausführung vorgesehene Personal beurteilt wird. Außerdem muss der Auftraggeber vertraglich vorgeben, dass die bewerteten Personen auch tatsächlich eingesetzt werden, und dass ein Austausch nur in Abstimmung mit dem Auftraggeber und nur unter der Voraussetzung zulässig ist, dass das neue Personal über mindestens die gleiche Qualifikation/berufliche Erfahrung verfügt (vgl. auch Erwägungsgrund 94 der RL 2014/24/EU). Bis zu einer Klärung durch die Rechtsprechung sollte die berufliche Qualifikation bzw. Erfahrung als Zuschlagskriterium vorsichtshalber auch nicht mit mehr als 25 % gewichtet werden.
Die Zulassung der Qualifikation bzw. der beruflichen Erfahrung als Zuschlagskriterium ändert im Übrigen nichts daran, dass Kriterien, die bereits als Rahmen der Eignungsprüfung berücksichtigt wurden, nicht „doppelt“, also auch im Rahmen der Zuschlagsentscheidung eine Rolle spielen dürfen. Der Merksatz „kein Mehr an Eignung“ hat so verstanden weiter seine Berechtigung. Offen ist, ob im Rahmen der Eignungsprüfung die allgemeine Erfahrung des Bieters (insb. Referenzaufträge über vergleichbare Leistungen) abgefragt und bei der Angebotswertung dann die Erfahrung des konkret vorgesehenen Personals (z. B. anhand persönlicher Referenzen) berücksichtigt werden dürfen. In diesem Fall kann es zu Überschneidungen kommen, die zu einer unzulässigen, weil doppelten Berücksichtigung der Erfahrung führen (vgl. dazu OLG München v. 21.11.2013 Verg 9/13).
Hinweis der Radaktion
Ergänzende Informationen zu dieser Thematik finden Sie ebenfalls in dem Beitrag von Dr. Roderic Ortner, Vergabeblog.de vom 03/02/2014, Nr. 18083 „Die Eignungsprüfung – Teil 2„.
Dr. Martin Kunde
Dr. Martin Kunde ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht bei Carl Hilger Becker & Partner Rechtsanwälte PartG mbB in Düsseldorf. Er berät Bieter und Auftraggeber im Vergaberecht und privaten Baurecht.
Schreibe einen Kommentar