Öffentliche Auftraggeber können bei der Frage, ob sie ein Angebot im Hinblick auf dessen Auskömmlichkeit überprüfen, sowohl auf Erfahrungswerte aus vergleichbaren Ausschreibungen, als auch auf die Preise von ausgeschlossenen Angeboten zurückgreifen.
Die Frage, wann den öffentlichen Auftraggeber die Pflicht trifft, ein Angebot auf dessen Auskömmlichkeit zu prüfen ist ein vergaberechtlicher „Dauerbrenner“. Die VK Westfalen hat mit einer neuen Entscheidung insoweit zur Klarheit beigetragen, als sie festgestellt hat, dass auch Erfahrungswerte aus anderen Verfahren und auch die Werte ausgeschlossener Angebote in die Entscheidung eine solche Prüfung durchzuführen, mit einbezogen werden können.
§ 19 EG Abs.6 VOL/A
Leitsatz
Sachverhalt
Die Parteien stritten um die Vergabe eines Auftrags zur Versorgung von Versicherten mit medizinischen Hilfsmittel, der in sechs Lose aufgeteilt wurde. Die öffentliche Auftraggeberin prüfte alle eingegangen Angebote im Hinblick auf deren Auskömmlichkeit, wobei sie feststellte, das zwischen keinem der Angebote der von der Rechtsprechung entwickelte Preisabstand von 20% vorlag. Auf eine weitere Auskömmlichkeitsprüfung wurde daher verzichtet.
Aufgrund einer Rüge der Antragstellerin entschloss sich die Auftraggeberin nachträglich dazu, einen Bieter wegen eines Verstoßes gegen den Geheimwettbewerb auszuschließen. Dadurch vergrößerte sich bei mehreren Losen der Preisabstand des günstigsten Angebotes zum nächstgünstigeren nicht ausgeschlossenen Angebot auf über 20%. Die öffentliche Auftraggeberin wiederholte dennoch die Prüfung der Angemessenheit der Preise nach § 19 Abs.6 EG VOL/A nicht.
Dagegen wandte sich die Antragstellerin im Wege eines Vergabenachprüfungsverfahrens. Sie trug vor, dass das Angebot der obsiegenden Bieterin unauskömmlich sein müsse, da es nicht möglich sei, günstiger als in ihrem Angebot zu kalkulieren. Die Auftraggeberin sei daher dazu verpflichtet gewesen, erneut die Aufgreifschwelle zu berechnen und eine Auskömmlichkeitsprüfung vorzunehmen.
Die Antragsgegnerin vertrat hingegen die Ansicht, dass sie keinen Anlass und keine Verpflichtung gehabt hätte, eine Auskömmlichkeitsprüfung vorzunehmen. Insbesondere sei sie nicht verpflichtet gewesen, nach dem Ausschluss eines Bieters die sog. Aufgreifschwelle erneut zu berechnen, da der Ausschluss des Bieters nicht wegen kalkulationsrelevanter Gründe erfolgt sei.
Gleichwohl habe man intern beratschlagt, ob die Preise der Ausschreibung gehalten werden können, sei aber zum Ergebnis gekommen, dass das Angebot der obsiegenden Bieterin auch im Vergleich zu anderen vergleichbaren Ausschreibungen normal und in keiner Weise unauskömmlich erscheine.
Die Entscheidung
Die VK Westfalen entschied in ihrem (noch nicht rechtskräftigen) Beschluss, der Antragsgegnerin recht zu geben und den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen. Nach ihrer Auffassung war die Antragsgegnerin nicht dazu verpflichtet, die Aufgreifschwelle neu zu berechnen. Sie durfte sich vielmehr auch weiterhin an den Angebotspreisen der ausgeschlossenen Bieter orientieren, da deren Ausschluss nicht auf kalkulationserheblichen Umständen beruhte.
Grundsätzlich sei nicht allein auf das Überschreiten einer bestimmten Aufgreifschwelle abzustellen, sondern eine Würdigung der Gesamtumstände vorzunehmen. Dabei dürfen auch Vergleichswerte aus anderen Ausschreibungen berücksichtigt werden.
Daher hat die Antragsgegnerin sich auch hinreichend mit der Auskömmlichkeit der Angebote beschäftigt, indem sie diese in Relation zu anderen vergleichbaren Ausschreibungen gesetzt hat. Die Antragstellerin hat vorliegend keinen Anspruch darauf, dass sich die öffentliche Auftraggeberin die Kalkulation des obsiegenden Angebotes vorlegen lässt.
Rechtliche Würdigung
Die Ausführungen der Vergabekammer Westfalen überzeugen. Die Frage, ob eine Auskömmlichkeitsprüfung nach § 19 Abs.6 EG VOL/A angezeigt ist, kann nicht allein anhand der pauschalen Betrachtung eines 20%igen Preisabstandes entschieden werden, sondern muss die Umstände des Einzelfalls berücksichtigen und diese zugleich in einen allgemeinen Kontext rücken. Dies bedeutet, dass auch ein möglicherweise höherer Preisabstand nicht zwingend eine Auskömmlichkeitsprüfung bedingt, sofern sich der Abstand und der Angebotspreis im Rahmen dessen hält, was aus vergleichbaren Ausschreibungen bekannt ist. Wenn man aber auf die Grenze von 20% abstellen will, darf diese auch unter Berücksichtigung von ausgeschlossenen Angeboten errechnet werden. Dies gilt aber nur dann, wenn der Ausschluss nicht auf der Basis von kalkulationsrelevanten Gründen erfolgt ist. Folglich dürfen Angebote, die selbst wegen Unauskömmlichkeit ausgeschlossen nicht in die Berechnung einbezogen werden. Selbiges gilt für einen Auschluss mangels Eignung, wenn auch dies sich auf die Kalkulation auswirkt (z.B. Ausschluss eines Bieters, weil er nicht über ein bestimmtes kostenpflichtiges Zertifikat verfügt).
Praxistipp
Für öffentliche Auftraggeber bedeutet die Entscheidung der VK Westfalen eine Erleichterung bei der Frage, ob sie eine Auskömmlichkeitsprüfung vornehmen müssen. Es muss nicht starr auf die Grenze von 20% abgestellt werden, bzw. die Berechnung dieser Grenze kann freier gestaltet werden. Zugleich wird es aber in den Fällen in denen der öffentliche Auftraggeber trotz Erreichen der Aufgreifschwelle auf eine Auskömmlichkeitsprüfung verzichtet, erforderlich sein, dass eine umfassende Dokumentation der Gründe für diese Entscheidung erfolgt.
André Siedenberg ist Berater bei der Kommunal Agentur NRW und Rechtsanwalt in Düsseldorf. In dieser Funktion unterstützt er öffentliche Auftraggeber und NGO’s bei verschiedenen vergaberechtlichen Fragestellungen. Nach seinem Referendariat in Würzburg war er zunächst im Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen im Referat für Vergaberecht beschäftigt.
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