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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 01/11/2015 Nr. 23996

Der versteckte Vorrang des offenen Verfahrens nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des Vergaberechts

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des Vergaberechts im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB-E)[1], mit dem die neuen EU-Vergaberichtlinien bis zum 18. April 2016 in deutsches Recht umgesetzt werden sollen, erfolgte im Windschatten der strategischen Ausrichtung des neuen europäischen Vergaberechts „Europa 2020“ für ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum zur Unterstützung gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele, so ganz nebenbei eine Zäsur, die das bisherige deutsche Verständnis über die Nutzung des Wettbewerbs beim öffentlichen Einkauf auf den ersten Blick völlig veränderte.

War es bisher der Vorrang des Offenen Verfahrens, der als kategorischer Imperativ des Vergaberechts stets die Idee eines offenen Systems propagierte, in das ein unbeschränkter Kreis von Unternehmen durch die Möglichkeit der ungefilterten Angebotsabgabe Zugang haben sollte, wird nunmehr in § 119 Abs. 2 GWB-E die Wahlfreiheit öffentlicher Auftraggeber zwischen offenem und nicht offenem Verfahren propagiert:

„Öffentlichen Auftraggebern stehen das offene Verfahren und das nicht offene Verfahren, das stets einen Teilnahmewettbewerb erfordert, nach ihrer Wahl zur Verfügung. Die anderen Verfahrensarten stehen nur zur Verfügung, soweit dies aufgrund dieses Gesetzes gestattet ist.“

Wenngleich die Gesetzesbegründung darauf hinweist, dass diese Wahlfreiheit der Intention des Unionsgesetzgebers in Artikel 26 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU entspricht, dürfte dies nur vordergründige Bedeutung haben, da der Unionsgesetzgeber bereits in der Vorgängerrichtlinie 2004/18/EG diese Absicht verfolgte.[2] Den deutschen Gesetzgeber hat dies in der Vergangenheit nicht davon abgehalten, am Vorrang des offenen Verfahrens festzuhalten – ganz in der haushaltsrechtlichen Tradition des deutschen Vergaberechts auf der Grundlage des § 30 Haushaltsgrundsätzegesetz sowie § 55 Abs. 1 Bundeshaushaltsordnung bzw. den entsprechenden Vorschriften der Länderhaushaltsordnungen und Gemeindehaushaltsordnungen. Danach muss vor dem Abschluss von Verträgen über Lieferungen und Leistungen eine öffentliche Ausschreibung erfolgen, sofern nicht die Natur des Geschäftes oder besondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen. Konkret verfolgte der Vorrang vor anderen Vergabeverfahren den Zweck, einen möglichst breiten und transparenten Wettbewerb zu schaffen und damit sicherzustellen, dass der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot, d.h. nach dem besten Preis-/Leistungsverhältnis, erfolgt. Diese Zielvorgabe einer Zuschlagserteilung ergibt sich auch künftig aus § 127 Abs. 1 GWB-E.

Daher widersprach der Vorrang des offenen Verfahrens auch nicht der bisherigen EU-Vergaberichtlinie, wie er auch der neuen RL 2014/24/EU nicht widersprechen würde, da das offene Verfahren durch den breiten, transparenten und ungefilterten Wettbewerb der Öffnung der Beschaffungsmärkte im europäischen Binnenmarkt am ehesten dient. Ungefiltert bedeutet in diesem Zusammenhang die zwingende Abgabe der Vergabeunterlagen an alle Unternehmen, die diese in einem offenen Verfahren angefordert haben. Die in den früheren Versionen der Vergabe- und Vertragsordnungen geregelte Abgabe der Vergabeunterlagen an diejenigen, die sie angefordert hatten und die sich gewerbsmäßig mit der Erbringung der ausgeschriebenen Leistung befassten, wurde im Zuge der letzten Vergaberechtsnovelle in 2008-2010 zugunsten einer ungefilterten Abgabe und damit einer weiteren Öffnung des Verfahrens geändert.[3]

Schaut man jedoch über den Tellerrand des § 119 Abs. 2 GWB-E hinaus, entpuppt sich die Regelung nur als scheinbare Wahlfreiheit, da sich dahinter – im Kontext zu anderen Regelungen im GWB-E – ein „versteckter Vorrang des offenen Verfahrens“ verbirgt.

Um welche Zusammenhänge geht es und wie ist es dazu gekommen?

§ 97 Abs. 1 GWB-E bestimmt:

„Öffentliche Aufträge und Konzessionen werden im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren vergeben. Dabei werden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gewahrt.“

Die Bestimmung – so die Gesetzesbegründung – entspricht zu Wettbewerb und Transparenz der bisherigen Regelung des § 97 Abs. 1 GWB und wurde zum Zwecke der Klarstellung um den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit ergänzt. Während sich der neue Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bindend aus den Artikeln 18 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2014/24/EU, 36 Abs. 1 UAbs. 1 RL2014/25/EU, 3 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2014/23/EU ergibt, geht der neue Grundsatz der Wirtschaftlichkeit über den in den neuen EU-Richtlinien festgelegten Grundsatzkatalog hinaus und bedurfte europarechtlich keiner Regelung. Man kann darüber streiten, ob der Begriff der Wirtschaftlichkeit der Erhebung in den Stand einer Grundsatzregelung bedurfte, da zumindest die unstreitige Bestimmung, wonach „der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen ist“, bis dato ein allgemein anerkannter und geregelter Grundsatz in § 97 Abs. 5 GWB ist. Im gegenwärtigen GWB-E findet sich dieser bisherige Grundsatz nunmehr in der Einzelnorm des § 127 Abs. 1 GWB-E und gleichermaßen über die Verweisregelungen der §§ 142, 147 und 154 GWB-E auch für die Bereiche Sektoren, Verteidigung und Sicherheit und Konzessionen. Fakt ist, dass die Loslösung des Begriffs der Wirtschaftlichkeit vom Zuschlag alleine und dessen Erhebung in den Stand einer umfassenderen Grundsatzregelung zu einer ausgeweiteten Wirtschaftlichkeitsprüfung führt, die insbesondere eine vorbehaltlose freie Wahl zwischen offenem und nicht offenem Verfahren verbietet und in diesem Zusammenhang auch die Prozesskosten der beiden Verfahren verstärkt berücksichtigen muss.

Offensichtlicher Hintergrund dieser „Rochade“ dürfte der Kabinettbeschluss über die „Eckpunkte zur Reform des Vergaberechts“ vom 07. Januar 2015 sein. Dieser Beschluss bestimmt, dass „vorbehaltlich des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und des Wettbewerbs öffentliche Auftraggeber zwischen offenem und nicht offenem Verfahren frei wählen können“. Dieser Vorbehalt wurde im Zuge der Ressortabstimmung auf Bundesebene nachträglich in den Text aufgenommen und schränkte damit die ursprünglich vom federführenden Bundeswirtschaftsministerium formulierte freie Wahl der Auftraggeber ein, ohne dies jedoch im § 119 Abs. 2 GWB-E klar zu benennen.

Ungeachtet dessen bedeutet dies, dass durch den neuen Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Wahl des offenen oder nicht offenen Verfahrens eine Wirtschaftlichkeits- und Wettbewerbsprüfung vorausgehen muss, die klärt, in welchem Verfahren der anstehende Beschaffungsbedarf mit Blick auf das Ziel einer wirtschaftlichen Zuschlagsentscheidung am besten gedeckt werden soll. Diese Prüfung erfordert eine aktuelle Beurteilung des Marktumfelds, in dem die Beschaffung erfolgen soll.

Kann die Liefer-, Dienst- oder Bauleistung beispielsweise durch einen unbeschränkten Kreis von Unternehmen erbracht werden, bei der auf dem Markt eine Vielzahl von Anbietern einer Vielzahl von Nachfragern gegenübersteht (Polypol), verbietet sich aus Wettbewerbsgründen ein nicht offenes Verfahren, weil sich durch die im nicht offenen Verfahren angelegte Beschränkungsmöglichkeit der Anzahl der zur Angebotsabgabe aufzufordernden Unternehmen[4] die im offenen Verfahren erreichbaren Wirtschaftlichkeitspotenziale für den Zuschlag nicht heben lassen. In diesen Fällen führt das nicht offene Verfahren durch seinen systemimmanenten zweistufigen Mechanismus einer gefilterten Auswahlentscheidung zu einer Reduzierung des Preis-/Leistungs-Wettbewerbs, indem es potenzielle Bieter von der Möglichkeit der Angebotsabgabe ausschließt.

Auffällig ist die in der Gesetzesbegründung zu § 119 Abs. 2 GWB-E angelegte Favorisierung des nicht offenen Verfahrens gegenüber dem offenen Verfahren. Dabei geht die Begründung selbst von einer „grundsätzlichen“ Wahlfreiheit öffentlicher Auftraggeber aus, was impliziert, dass es unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen von der Wahlfreiheit geben muss, auf die jedoch nicht näher eingegangen wird.

Die Gleichsetzung des offenen und des nichtoffenen Verfahrens in Sachen Transparenz verkennt zudem die unterschiedliche Zielsetzung der in beiden Verfahren angelegten Veröffentlichungs- bzw. Bekanntmachungspflichten. Während im nicht offenen Verfahren die Veröffentlichung lediglich der Ermittlung geeigneter Unternehmen dient, hat die Veröffentlichung im offenen Verfahren sowohl die Unternehmenseignung als auch die Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots zum Ziel.

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Die daraus resultierende Forderung in der Gesetzesbegründung nach letztendlicher Sicherstellung eines „echten“ Wettbewerbs berücksichtigt nicht, dass nach den neuen Richtlinien dieser Wettbewerb bereits sichergestellt ist, wenn mindestens fünf Bewerber im nicht offenen Verfahren zur Angebotsabgabe aufgefordert werden (Artikel 65 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2014/24/EU). Demgegenüber fordert der öffentliche Auftraggeber im offenen Verfahren öffentlich eine unbeschränkte Anzahl von Unternehmen zur Angebotsabgabe auf und stellt demzufolge nicht auf einen Mindestwettbewerb ab.

Im Zusammenhang mit der vorgesehenen Wahlfreiheit zwischen offenem und nicht offenem Verfahren wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass eine Steigerung der Flexibilität des öffentlichen Auftraggebers bei der Wahl der Vergabeart der grundsätzlichen Intention der Richtlinie 2014/24/EU nach dem Erwägungsgrund 42 entspricht. Dieses Argument unterschlägt jedoch, dass die im Erwägungsgrund 42 behandelte Flexibilität lediglich im Zusammenhang mit der Wahl des Verhandlungsverfahrens steht, da die Bewertung der EU-Kommission gezeigt hat, dass bei Aufträgen, die im Wege des Verhandlungsverfahrens mit vorheriger Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben werden, die Erfolgsquote von grenzüberschreitenden Angeboten besonders hoch ist. Die Mitgliedstaaten sollten daher die Möglichkeit haben, das Verhandlungsverfahren oder den wettbewerblichen Dialog in verschiedenen Situationen vorzusehen, wenn nicht damit zu rechnen ist, das offene oder nicht offene Verfahren ohne Verhandlungen zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führen.

Der Vorbehalt des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit bei der Wahl zwischen offenem und nicht offenem Verfahren zwingt die öffentlichen Auftraggeber auch dazu, die Prozesskosten der beiden Verfahren verstärkt in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Seit 2008 ist durch die Studie über die „Kosten der Prozesse öffentlicher Liefer-, Dienstleistungs- und Bauaufträge aus Sicht der Wirtschaft und der öffentlichen Auftraggeber“ im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums (Studie)[5] bekannt, welche volkswirtschaftlichen Kosten der öffentliche Einkauf verursacht. Die Vergabe öffentlicher Aufträge erzeugt in Deutschland jährlich prozessuale Kosten in Höhe von 19 Mrd. Euro. Davon entfallen 8,8 Mrd. Euro auf die Seite der öffentlichen Auftraggeber und 10,2 Mrd. Euro auf die Seite der sich um öffentliche Aufträge bewerbenden Unternehmen.[6]

Die Studie kommt bei der Betrachtung der Vergabeverfahren zu dem Ergebnis, dass auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber die Verfahren mit Teilnahmewettbewerb für die Vergabe von Liefer-und Dienstleistungen nach der VOL/A generell teurer sind, als eine öffentliche Ausschreibung bzw. das offene Verfahren. Die durchschnittlichen Kosten einer öffentlichen Ausschreibung bzw. offenen Verfahrens belaufen sich auf 3.011 Euro, die eines nicht offenen Verfahrens bzw. einer Beschränkten Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb auf 3.455,– Euro.[7] Betrachtet man alleine das offene Verfahren, ergeben sich auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber Kosten der einzelnen Prozessphasen von insgesamt 3.114,29 Euro[8], beim nicht offenen Verfahren 3.534 Euro. Die Eignungsprüfung im Teilnahmewettbewerb ist der eigentliche Kostentreiber in einem Vergabeverfahren. Der Grund dafür liegt zum einen in den formalen Anforderungen und dem Interaktionsprozess, zum anderen darin, dass in manchen Fällen zusätzliche Unterlagen, in vielen Fällen jedoch eine eigene Bewertungsmatrix zur Feststellung der am besten geeigneten Bewerber erstellt und zur Bewertung angewandt werden muss. Die Eignungsprüfung im Teilnahmewettbewerb ist daher auch doppelt so teuer wie beim offenen Verfahren bzw. bei der öffentlichen Ausschreibung, da in diesen Verfahren im Rahmen der Eignungsprüfung nur eine Unterscheidung zwischen geeigneten und nicht geeigneten Bewerbern vorgenommen werden muss.[9]

In der Gesetzesbegründung wird weiter ausgeführt, dass die Wahlfreiheit auch für die Bieter im nicht offenen Verfahren weniger Aufwand (und damit auch weniger Kosten) verursacht, da sie erst nach Eignungsfeststellung im Teilnahmewettbewerb und Angebotsaufforderung durch den öffentlichen Auftraggeber ein verbindliches Angebot erstellen müssen. Durch die Vorselektion sollen sich damit die Chancen für den Zuschlag erhöhen.

Betrachtet man die Aufwandsseite für die Unternehmen, kam bereits die Studie in 2008 zu dem Ergebnis, dass aus Sicht aller beteiligten Unternehmen (d.h. auch der unterlegenen) das offene Verfahren die teuerste Variante darstellt. Der Grund hierfür liegt insbesondere in der Anzahl der teilnehmenden Unternehmen. Im Durchschnitt erstellten – so die Studie – bei freihändigen Vergaben ohne Teilnahmewettbewerb 4,5 Unternehmen ein Angebot, während sich bei der öffentlichen Ausschreibung/offenem Verfahren im Durchschnitt 8 Unternehmen beteiligten und jeweils ein Angebot erstellten.[10] Ähnlich sieht der Vergleich zum nicht offenen Verfahren aus. Das Ziel liegt dabei insbesondere darin, durch den Teilnahmewettbewerb eine Vorselektion geeigneter Unternehmen vorzunehmen, um die Anzahl der Angebotslegungen zu begrenzen. Im Durchschnitt bewarben sich 8 Unternehmen für die Teilnahme, während 5 Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert werden, wobei offen blieb, ob auch alle fünf Unternehmen ein Angebot abgegeben haben.[11]

In der Tat kam man zu dem Ergebnis, dass das nicht offene Verfahrens für die Unternehmen als günstigere Variante im Vergleich zum offenen Verfahren angesehen werden kann, ohne dabei von vornherein Bewerber auszuschließen. Hinsichtlich der Wettbewerbswirkung wurde jedoch angemerkt, „dass das offene Verfahren (bzw. die öffentliche Ausschreibung) einen umfassenden, unmittelbaren Preis-Leistungs-Wettbewerb gestattet, während beim nicht offenen Verfahren (und der beschränkten Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb) lediglich ein umfassender Wettbewerb um die Teilnahme an dem sich anschließenden Vergabeverfahren stattfindet. Im Ergebnis wird in der Regel nur ein Teil der Bewerber zur Angebotslegung aufgefordert und nimmt damit an dem Preis-/Leistungswettbewerb teil.“

Hiermit wird deutlich, dass das Argument der Aufwandsbegrenzung auf Seiten der Bieter für die Wahl des nicht offenen Verfahrens anstelle des offenen Verfahrens der Hebung von Wirtschaftlichkeitspotenzialen zugunsten des öffentlichen Auftraggebers und damit einer wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung unter Nutzung des Wettbewerbs nicht dienlich ist. Im Gegenteil: Aus Sicht der Unternehmen sind gerade die intransparenten Vergabeverfahren (ohne Teilnahmewettbewerbe) die kostengünstigsten Verfahren.[12] Daraus den Schluss zu ziehen, diese Verfahren verstärkt zur Deckung des öffentlichen Beschaffungsbedarfs heranzuziehen, widerspräche allen vergaberechtlichen Grundsätzen und kann daher nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

Auch der in § 97 Abs. 1 GWB-E enthaltene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwingt zur Abwägung beider Verfahren. Die Gesetzesbegründung führt aus, dass durch die klarstellende Aufnahme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Anforderungen an das Vergabeverfahren gestellt werden. Bezüglich der Wahl zwischen offenem und nicht offenem Verfahren muss der Kostenaufwand für den öffentlichen Auftraggeber daher in einem angemessenen Verhältnis zum Beschaffungsgegenstand stehen, d.h. bei der Beschaffung von Leistungen muss zunächst abgewogen werden, ob die Vorteile einer vorherigen (teuren) Eignungsfeststellung in einem zweistufigen Verfahren (Teilnahmewettbewerb) die Vorteile der Eignungs-/Angebotsprüfung und –wertung in einem weniger aufwändigen einstufigen Verfahren überwiegen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, das im Verhältnis zur geforderten Leistung kostengünstigere Vergabeverfahren für den Auftraggeber anzuwenden. Die künftig mögliche Nutzung der ausschließlich elektronisch zu erstellenden „Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung (EEE)“ durch die Unternehmen nach Artikel 59 der Richtlinie 2014/24/EU, die dann von den öffentlichen Auftraggebern akzeptiert werden muss, dürfte sicher zu einer Prozesskostenreduzierung auch für die öffentlichen Auftraggeber führen, so dass das Ergebnis der Studie an dieser Stelle neu verifiziert werden müsste. Allerdings würde diese Prozesskostenreduzierung gleichermaßen dem offenen wie dem nicht offenen Verfahren zugutekommen, da die EEE sowohl bei der Übermittlung von Teilnahmeanträgen als auch von Angeboten zum Einsatz kommen soll.

Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich die Gesetzesbegründung zu § 119 Abs. 2 GWB-E im Rahmen der „freien“ Wahl der Auftraggeber zwischen offenem und nicht offenem Verfahren darauf konzentriert, Argumente zugunsten des nicht offenen Verfahrens zu finden. Und dies vor dem Hintergrund der seit 7 Jahren bekannten Ergebnisse der Prozesskostenstudie, die das offene Verfahren als weniger aufwändiges, schlankes und kostengünstiges Verfahren herausstellt. Auch der Umstand, dass durch die allgemeine und neue Fristverkürzung bei Dringlichkeit das offene Verfahren nach der Richtlinie 2014/24/EU zudem „schneller geworden ist“ als bislang, spricht für sich. Ein weiterer positiver Aspekt kommt hinzu: Nur für das offenen Verfahren ist nach Artikel 56 Abs. 2 RL 2014/24/EU geregelt, dass öffentliche Auftraggeber von der üblichen starren Wertungsreihenfolge absehen können, um vor Eignungs- und Ausschlussprüfung die Wirtschaftlichkeit der Angebote vorab zu prüfen. Zudem wäre es zum jetzigen Zeitpunkt durchaus überlegenswert gewesen, das offene Verfahren ein für alle Mal von dem von vielen empfundenen Makel zu beseitigen, der ihm seit Jahrzehnten anhängt – dem Verhandlungsverbot, insbesondere bei Preisen. Unmöglich? Die elektronische Auktion, die auch im offenen Verfahren zulässig ist, lässt grüßen. Denn nichts anderes als das „Verhandeln über Preise mit dem Ziel, diese zu reduzieren“ bedeutet diese Möglichkeit zur Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebotes nach § 120 Abs. 2 GWB-E. Der Versuch, diese Möglichkeit auch außerhalb der Auktion zumindest einmal zu prüfen, wäre bei dieser umfassenden Reform durchaus angebracht gewesen.

Warum also dieses offene Verfahren von dem für die Deutsche Wettbewerbspolitik zuständigen Bundeswirtschaftsministerium in der bisherigen Tradition des deutschen Vergaberechts durch den eindeutig und klar geregelten Vorrang im Regierungsentwurf des GWB nicht bestätigt und argumentativ begleitet wurde, bleibt unter diesen Umständen ein Rätsel. Die mit dem Entwurf favorisierte Regelung trägt jedenfalls nicht dazu bei, die Anwendung des Vergaberechts zu vereinfachen.

DVNW_Mitglied

Fazit: Die freie Wahl der öffentlichen Auftraggeber zwischen offenem und nicht offenem Verfahrensteht gem. § 119 Abs. 2 i.V. mit § 97 Abs. 1 GWB-E steht unter dem Vorbehalt der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, des Wettbewerbs und der Verhältnismäßigkeit. Die Beachtung dieser Grundsätze erfordert eine vorhergehende Abwägung, in welchem der beiden Vergabeverfahren die konkrete Leistung unter Berücksichtigung der jeweiligen Marktsituation so beschafft werden kann, dass ein größtmöglicher Preis-/Leistungswettbewerb zur Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebotes sowie die geringsten Prozesskosten auf Seiten des öffentlichen Auftraggebers entstehen. Der Entscheidungsprozess ist zu dokumentieren. Das Argument der Aufwandsbegrenzung auf Seiten der Bieter für die Wahl des nicht offenen Verfahrens anstelle des offenen Verfahrens steht der Hebung von Wirtschaftlichkeitspotenzialen zugunsten der öffentlichen Hand entgegen.

 

 


[1] Bundesrat Drucksache 367/15 v. 14.08.15

[2] Art. 28 Satz 2 RL 204/18/EG

[3] § 15 Abs. 11 lit. a VOL/A-EG, § 12 Abs. 4 Ziffer 1 VOB/A-EG

[4] Möglichkeit zur Verringerung der Zahl geeigneter Bewerber gem. Art. 65 RL 2014/24/EU

[5] Gutachten der Ramboll Management GmbH, Berlin, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Mittelstandsforschung Bonn und Leinemann & Partner Rechtsanwälte Berlin im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, Endbericht März 2008

[6] S. 7 der Studie

[7] S. 70 der Studie

[8] S. 72 der Studie

[9] S. 74 der Studie

[10] S. 45 der Studie

[11] S. 49 der Studie

[12] S. 45 der Studie

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Michael Wankmüller

Herr Wankmüller war bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst Mitarbeiter im Vergaberechtsreferat des Bundeswirtschaftsministeriums. In dieser Funktion befasste er sich mit Fragen der Rechtsetzung im öffentlichen Auftragswesen. Hierzu gehörte auch die Mitwirkung bei Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in deutsches Recht. Insbesondere war er zuständig für Fragen der elektronischen Auftragsvergabe, den Aspekten der innovativen und umweltfreundlichen Beschaffung und war zuletzt maßgeblich mit der Reform der Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen – Teil A 2009 (VOL/A – 2009) betraut. Bis heute ist er Mitautor und Kommentator vergaberechtlicher Fachliteratur (erschienen in der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH München), hält Vergaberechtsseminare und ist beratend tätig.

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