Wenn es eine Hitparade der praxisrelevantesten vergaberechtlichen Streitthemen gäbe, dann würde die Frage nach der Reichweite des Anspruchs auf Nachforderung sicherlich einen der vorderen Plätze belegen. Die unterschiedlich gefassten Regelungen der Vergabe- und Vertragsordnungen lassen verschiedene Fragen offen.
Fraglich ist unter anderem, wie im Bereich der VOB/A mit Unterlagen umzugehen ist, die noch nicht mit dem Angebot einzureichen sind. Dürfen oder müssen diese nachgefordert werden, wenn sie nach einer Anforderung nicht vorgelegt werden? Die Vergabekammer Rheinland-Pfalz kam zu einem interessanten Ergebnis.
§ 16 EG Abs. 3 VOB/A
Leitsatz (nicht amtlich)
Sachverhalt
Die europaweite Bekanntmachung einer Ausschreibung nach VOB/A enthielt in Bezug auf die Nachweise zur wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit eine Liste von Nachweisen, die gemäß § 6 Abs. 3 EG VOB/A oder auf Anforderung innerhalb von 6 Kalendertagen vorzulegen waren. Da diese Unterlagen im Angebot eines Bieters nicht beilagen, forderte ihn der Auftraggeber auf, diese Nachweise oder den Nachweis einer Eintragung in die PQ-Liste nachzureichen, ohne jedoch den Ausschluss des Angebots explizit anzudrohen. Nachdem der Bieter dies aufgrund eines Versehens versäumte, griff er den Ausschluss seines Angebots mit einem Nachprüfungsantrag an.
Die Entscheidung
Ohne Erfolg!
Aus Sicht der Vergabekammer war das Angebot zwingend als unvollständig auszuschließen, da es keine Rechtsgrundlage für eine (weitere) Nachforderung der fehlenden Unterlagen gebe. Dies gelte selbst dann, wenn man die – insoweit unklare Bekanntmachung so auslegte, dass die Nachweise auch erst auf gesonderte Anforderung nach Angebotsabgabe eingereicht werden durften. Die Nachforderungspflicht gemäß § 16 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A gelte nämlich nur für Unterlagen, die innerhalb der Angebotsfrist vorzulegen sind. Eine analoge Anwendung der Vorschrift lehnte die Vergabekammer unter Verweis auf eine Entscheidung des OLG Koblenz ab.
Die Möglichkeit einer weiteren Nachforderung entspreche erkennbar nicht der gesetzlichen Intention, da auch § 16 EG Abs. 1 Nr.3 VOB/A nur eine einmalige Nachforderungsmöglichkeit regelt. Da die Nachforderung als Ausnahmefall geregelt sei, bestehe außerhalb des Anwendungsbereichs auch kein Ermessen des Auftraggebers. Das Angebot sei deswegen zwingend auszuschließen.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung überrascht. Das OLG Koblenz hat zwar eine analoge Anwendung des § 16 EG Abs. 3 VOB/A abgelehnt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 19.01.2015, Az.: Verg 6/14, s. auch Beitrag der Autorin bei Vergabeblog.de vom 01/04/2015, Nr. 21900). Daraus hat das Gericht aber nicht den Schluss gezogen, dass Angebote bei Nichtvorlage der geforderten Nachweise automatisch ausgeschlossen werden müssen. In der zitierten Entscheidung nimmt das Gericht vielmehr ausdrücklich an, dass Auftraggeber in diesen Fällen eine Ermessensentscheidung darüber treffen müssen, wie sie – unter Beachtung vergaberechtlicher Grundprinzipien – weiter verfahren. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Anforderung (noch) nicht mit einer Ausschlussandrohung verbunden war.
Damit liegt der Senat auf einer Linie mit der Spruchpraxis des EuGH. Zumindest soweit nicht zuvor in den Vergabeunterlagen der Ausschluss angedroht wurde, ist es dem Auftraggeber demnach erlaubt, Unterlagen nachzufordern, welche die Situation eines Bewerbers beschreiben und die nachweisbar bereits vor Fristablauf existierten (vgl. EuGH, Urteil vom 10.10.2013, Rs. C-336/12). Soweit Auftraggeber berechtigt sind zur Nachforderung, scheint jedoch zumindest eine Ermessensentscheidung erforderlich.
Wissenswert ist zudem, dass andere Vergabesenate eine analoge Anwendung des § 16 EG Abs. 1 Nr. 3 VOB/A befürworten (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 21.02.2012, Az.:11 Verg 11/11; OLG Celle, Beschluss vom 16.06.2011, Az.: 13 Verg 3/11).
Praxistipp
Öffentliche Auftraggeber sollten diese Entscheidung mit Vorsicht genießen und nicht vorschnell ein Angebot ausschließen. Selbst wenn man § 16 EG Abs. 3 VOB/A in Fällen wie dem vorliegenden nicht für anwendbar hält, so sprechen doch gute Argumente für eine Ermessensentscheidung über eine Nachforderung. Eine wichtige Grenze setzt natürlich der vergaberechtliche Wettbewerbsgrundsatz und damit das Verbot der inhaltlichen Nachbesserung. Die Frage, wie mit erstmals nach Angebotsabgabe einzureichenden Unterlagen umzugehen ist, dürfte insbesondere im Kontext der Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung weiterhin relevant bleiben.
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
Empfehlenswert ist ergänzend das Lesen der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf (21.10.2015 – Verg 35/15)!