Ein Plädoyer für eine sinnvolle Auslegung des § 132 GWB in Bezug auf Rahmenvereinbarungen nach der VgV.
Einleitung
Aus Sicht des europäischen Gesetzgebers hat sich die Rahmenvereinbarung als Instrument bewährt und findet als effiziente Beschaffungsmethode breite An- und Verwendung in Europa (Erwägungsgrund 60 der RL 2014/24/EU). Aus den Erwägungsgründen ergibt sich weiter, dass nur punktuell Klarstellungen vorgenommen werden sollten. Im folgenden Beitrag geht es darum, ob diese Vorgabe auch tatsächlich befolgt wurde und nicht – unter Umständen aus Versehen – eine massive Einschränkung der Flexibilität des Instruments durch die Kodifizierung der sog. „Pressetext-Entscheidung“ des EuGH (Urteil vom 19.06.2008-C-454/06) in Art. 72 der RL 2014/24/EU und dessen Umsetzung in nationales Recht in § 132 GWB (BT-Drs. 18/6281 S. 116 f.) erfolgte. Im Ergebnis wird eine rechtlich vertretbare Auslegung des Anwendungsbereichs des § 132 GWB vorgeschlagen, die dem Charakter des Instruments der Rahmenvereinbarung gerecht wird und sich damit sowohl an der Grundüberzeugung und den Zielen des europäischen Gesetzgebers (s.o.) als auch an den praktischen Bedürfnissen der Auftraggeber nach flexiblen Reaktionsmöglichkeiten orientiert.
Ausgangslage vor der Reform
Bereits vor der Vergaberechtsreform ging die ganz herrschende Meinung in Deutschland (damals noch ohne explizite gesetzliche Grundlage) bzgl. „Einzelvergaben“ davon aus, dass wesentliche Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren nötig machen können. Man orientierte sich dabei sehr stark an der „Pressetext-Entscheidung“ des EuGH und ging regelmäßig bereits von wesentlichen Änderungen aus, wenn der Wert der Änderung den Schwellenwert überschritt oder 10 – 15 % des ursprünglichen Auftragswertes entsprach. In Bezug auf Rahmenvereinbarungen ging man im Falle der Konstellation, dass man sich hinsichtlich des Auftragsvolumens einer Rahmenvereinbarung (§ 4 EG Abs. 1 S. 2 VOL/A) nicht festgelegt hatte, sondern nur eine „ca. Angabe“ vornahm, einen anderen Weg. Insoweit ging die herrschende Meinung (siehe z.B.: OLG Jena, Beschluss vom 22.08.2011 – 9 Verg 2/11 (NZBau 2011 S. 771 ff.); Richter/Mairgünther in Vergabeblog.de vom 31/07/2013, Nr. 16593 m.w.N.) davon aus, dass insofern eine Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nötig war. Weitgehende Einigkeit bestand auch, dass starre Prozentwerte oder gar der Schwellenwert bzgl. des Werts der Änderung nicht alleine maßgeblich sein können. Als Grund wurde regelmäßig und zu Recht angeführt, dass eine Rahmenvereinbarung flexibel sein soll und dies der Rahmenvereinbarungen wesensimmanent sei. Im Gegenzug für diese vom Gesetzgeber eingeräumte Flexibilität und die Akzeptanz der zumindest potentiell wettbewerbsbehindernden Wirkung einer Rahmenvereinbarung ist die regelmäßig zulässige Laufzeit relativ eng begrenzt worden. Die „Pressetext-Entscheidung“ des EuGH wurde in dieser Diskussion vor der Reform nicht in Bezug genommen.
§ 132 GWB auf Rahmenvereinbarungen anwendbar?
Die Regelung des § 132 GWB dient der Umsetzung des Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU und soll – nicht zuletzt – Rechtssicherheit in diesen bisher ausschließlich durch die Rechtsprechung geprägten Bereich bringen (Erwägungsgrund 2 der RL 2014/24/EU).
Dies ist zumindest bzgl. der Rahmenvereinbarungen nicht wirklich geglückt.
Auch wenn die Rahmenvereinbarung in Abweichung von Art. 72 der RL 2014/24/EU nicht ausdrücklich in § 132 GWB genannt wird, sprechen doch gewichtige Gründe für eine zumindest grundsätzliche Einbeziehung der Rahmenvereinbarung in den Anwendungsbereich der Regelung. Zunächst gab bereits das Eckpunktepapier zur Reform des Vergaberechts vom 07.01.2015 das klare Ziel einer 1:1 Umsetzung der EU-Richtlinien in das deutsche Recht vor. Weiter lässt die Vorgabe des Art. 72 der RL 2014/24/EU auch nicht wirklich Spielraum für Abweichungen. Schließlich ist § 103 Abs. 5 Satz 2 GWB zu beachten. § 132 GWB erwähnt die Rahmenvereinbarung zwar nicht, schließt sie aber auch nicht ausdrücklich aus. Dementsprechend ist von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 132 GWB auf Rahmenvereinbarungen auszugehen.
Umsetzung der „Pressetext-Entscheidung“ in § 132 GWB
Die für die hier aufgeworfene Konstellation problematische Ausgestaltung betrifft die sog. „de-minimis-Grenze“ des § 132 Abs. 3 GWB. Wenn man nämlich die diesbezüglichen Ausführungen in den Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drs. 18/6281 S. 117) und den Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 der RL 2014/24/EU berücksichtigt, spricht viel dafür, dass alleine bei Überschreitung des jeweils maßgeblichen Schwellenwertes durch den Wert der Änderung oder des genannten Prozentwertes automatisch von einer wesentlichen Änderung auszugehen sein soll. Würde man dies nunmehr vollumfänglich auf die oben genannte Problematik („ca. Angabe“) übertragen, würden sich sehr schnell Folgeprobleme ergeben. Zu nennen wäre hier zum Beispiel, dass man unter Umständen eine zweite Rahmenvereinbarung über die gleiche Leistung ausschreiben müsste. Auch wenn sich das bisherige Verbot des § 4 EG Abs. 1 Satz 3 VOL/A nicht mehr explizit in § 21 VgV findet, könnte man doch unter Umständen zumindest über eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung diskutieren (§ 21 Abs. 1 Satz 3 VgV). Weiter könnte es passieren, dass diese massive Einschränkung der Flexibilität das Instrument der Rahmenvereinbarung unattraktiv für die Auftraggeber machen würde und die Verwendung daher zurückgehen könnte. Diese Aspekte sollen vorliegend aber nicht weiter vertieft werden, weil sich die kritischen Situationen bei einer sinnvollen Auslegung des Anwendungsbereichs des § 132 GWB deutlich und auf den bereits vor der Reform bestehenden Umfang reduzieren lassen. Damit wird dann auch dem Willen des europäischen Gesetzgebers (s.o.) nach nur punktuellen Klarstellungen ohne wesentliche Neuerungen im Bereich der Rahmenvereinbarung entsprochen.
Sinnvolle Auslegung des § 132 GWB
Der richtige Ansatz für ein sinnvolles Verständnis des Anwendungsbereichs des § 132 GWB ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Regelung. Der maßgebliche Begriff ist die Änderung des Auftrags (im wesentlichen Umfang). Ob man nunmehr von einer Änderung sprechen kann und diese dann auch noch wesentlich ist, hängt doch aber entscheidend davon ab, ob man sich vorher festlegt bzw. dies überhaupt muss.
Eine Rahmenvereinbarung unterscheidet sich von einer „Einzelausschreibung“ – für welche die Regelung des § 132 GWB ohne Zweifel und ohne Einschränkung gilt – vor allem darin, dass bei einer Rahmenvereinbarung das in Aussicht genommene Auftragsvolumen „nur“ so genau wie möglich zu ermitteln und bekannt zu geben ist, aber nicht abschließend festgelegt zu werden braucht. Dies galt vor der Reform (§ 4 EG VOL/A) und ist nunmehr in § 21 Abs. 1 Satz 2 VgV geregelt. In Art. 33 Abs. 1 der RL 2014/24/EU findet sich die Vorgabe, dass die in Aussicht genommene Menge in einer Rahmenvereinbarung auch nur gegebenenfalls festzulegen ist. Diese Vorgaben sind richtig und entsprechen dem Wesen der Rahmenvereinbarung, wie es bereits vor der Reform verstanden wurde. Der Abschluss einer Rahmenvereinbarung bietet den Auftraggebern insbesondere (aber nicht ausschließlich) bei häufig wiederkehrenden, gleichartigen Bedarfen die Möglichkeit einer relativ schnellen, flexiblen, ressourcenschonenden und damit effizienten Beschaffung. An der Grundintention der Rahmenvereinbarung hat sich also nichts geändert. Abgesehen von dieser Aufweichung der ansonsten relativ starren Vorgaben des Vergaberechts, muss man sich aber bei der Rahmenvereinbarung ebenfalls z.B. auf einen oder mehrere Vertragspartner und die erfassten Auftragsgegenstände festlegen.
Angesichts dieser bereits in den vergaberechtlichen Vorgaben angelegten Differenzierung bietet es sich an, den Anwendungsbereich des § 132 GWB entsprechend zu verstehen:
Auch bzgl. Rahmenvereinbarungen sind Anpassungen während der Vertragslaufzeit im Grundsatz an den Vorgaben des § 132 GWB zu messen. Dies ist z.B. beim nachträglichen Austausch des Auftragnehmers, bei der nachträglichen Veränderung des wirtschaftlichen Gleichgewichts zu Gunsten des Auftragnehmers oder bei der nachträglichen Aufnahme zusätzlicher Leistungen in die Rahmenvereinbarung auch durchaus nachvollziehbar. Hier würde man jenseits des Vergabeverfahrens und intransparent handeln.
Ganz anders ist die Ausgangslage jedoch in dem Fall, dass man das geschätzte Auftragsvolumen („ca. Angabe“) überschreitet. Man legt sich ja gerade ausdrücklich nicht fest. Dies kann daran liegen, dass man es nicht will. Häufig kann man es aber auch schlicht nicht. Weiter kann und wird man dies ja auch transparent im Vergabefahren kommunizieren. Damit können sich die Unternehmen darauf einstellen. Es liegt also gar keine Änderung während der Vertragslaufzeit vor, wie es § 132 GWB jedoch voraussetzt. Man nutzt vielmehr den durch die vergaberechtlichen Vorschriften eingeräumten Spielraum aus. Die Regelung des § 132 GWB greift in diesem speziellen Bereich also schon dem Wortlaut nach gar nicht.
Grenzen der Freiheit
Der Umstand, dass die Regelung des § 132 GWB im vorgenannten Spezialfall nicht greift, kann und soll jedoch nicht bedeuten, dass man den geschätzten Wert unbegrenzt (rechtlich zulässig) überschreiten darf. Vielmehr sind auch in dieser Konstellation die vergaberechtlichen Grundsätze zu beachten. Auf Grund der expliziten Regelung in § 21 Abs. 1 S. 3 VgV bietet es sich hier an, dass man bei einer missbräuchlichen Überschreitung des geschätzten Auftragsvolumens die Grenze zieht. In Ermangelung näherer Ausführungen zu der Regelung in den Gesetzgebungsmaterialien auf nationaler Ebene sollte man hier auf den bereits vor der Reform von der h.M. vertretenen Ansatz zurückzugreifen. Wann nämlich eine rechtsmissbräuchliche Anwendung einer Rahmenvereinbarung vorliegt, lässt sich nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden.
Zusammenfassung
Hinsichtlich Rahmenvereinbarungen ist der Anwendungsbereich des § 132 GWB nicht in allen Konstellationen eröffnet. In dem Fall, dass bezüglich des hinreichend sorgfältig geschätzten Auftragsvolumens eine „ca. Angabe“ erfolgt und man sich dementsprechend auch nicht selbst bindet, liegt schon sprachlich bei der Überschreitung der Schätzung die Annahme einer Änderung fern. Die Regelung greift nicht. Die Grenze sollte bei einer missbräuchlichen Überziehung gezogen werden. Wann diese vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls.
Anmerkung der Redaktion
Das Thema Rahmenvereinbarung wird auch im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutiert. Aktuelle Themen sind u.a.:
Rahmenvertrag: Überschreitung kalkulierter Auftragswert sowie
Mehrere Rahmenvereinbarungen vs. dieselbe Leistung.
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Das Thema Rahmenvereinbarung ist zudem Gegenstand des 3. Deutschen Vergabetags am 6. und 7 Oktober 2016 im Bundespresseamt, Berlin. Das vollständige Programm des 3. Deutschen Vergabetags 2016 sowie eine Anmeldemöglichkeit finden Sie hier.
Die Autoren Frank Richter und Christian Mairgünther sind auf Auftraggeberseite im Bereich des Vergaberechts bei it@M, dem Dienstleister für Informations- und Telekommunikationstechnik der Landeshauptstadt München, tätig. Die Aufgabe von it@M (ca. 660 Beschäftigte) ist die Versorgung der städtischen Referate, Dienststellen und Eigenbetriebe mit Informations- und Telekommunikationstechnik (ca. 33.000 Beschäftigte), wobei der Begriff der Versorgung weit zu fassen ist. Hierzu befindet sich die zentrale Vergabestelle der Landeshauptstadt München für IT-Leistungen, deren Leiter Herr Mairgünther ist, bei it@M. Herr Richter unterstützt als Jurist der Werkleitung die Vergabestelle u.a. bei rechtlichem Beratungsbedarf. Die von den Autoren im Vergabeblog vertretenen rechtlichen Ansichten geben ausschließlich ihre private Meinung wieder und sind keine offizielle Positionierung der Landeshauptstadt München oder von it@M zu vergaberechtlichen Fragestellungen. (Hinweis der Autoren: Aus Gründen der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit wird in den Beiträgen überwiegend die männliche Form verwendet. Jede Formulierung gilt natürlich ebenso für die weibliche Form.)
Sind Rahmenvereinbarungen i.S. des § 103 Abs. 5 GWB überhaupt öffentliche Aufträge, die unter § 132 GWB fallen?
Alleine die Legaldefinition spricht von Vereinbarungen, in denen die Bedingungen für öffentliche Aufträge, die über die Laufzeit der RV vergeben werden sollen, festgelegt werden. Die eigentlichen öffentlichen Aufträge sind also die nachfolgenden Einzelaufträge, die im konkreten Bedarfsfall erteilt werden und die Entgeltlichkeit als wesentliche Voraussetzung für einen öffentlichen Auftrag auslösen. Im Vergleich zur bisherigen Definition in § 4 EG Abs. 1 VOL/A, nach der es sich bei Rahmenvereinbarungen um (öffentliche) Aufträge handelte auf deren Grundlage zu einem späteren Zeitpunkt „Einzelaufträge“ erteilt werden, hat sich die Definition m.E. kaum merkbar, aber stark verändert. Allein diese Einzelaufträge, die als öffentliche Aufträge definiert sind, dürften Gegenstand des § 132 GWB sein, allerdings kann ich mir auf Anhieb wegen der in der Regel kleinteiligen und kurzfristigen Einzelaufträge keinen Fall des § 132 GWB vorstellen.
Sehr geehrter Herr Wankmüller,
besten Dank für Ihre Anmerkung. Damit sind wir ja im Ergebnis einer Meinung. Ich – ganz persönlich – hätte juristische Probleme mit Ihrem Ansatz, weil es nun einmal Art. 72 der RL 2014/24/EU und § 103 Abs. Abs. 5 Satz 2 GWB gibt. Der Ausstieg bereits an dieser Stelle wäre mir zu stark mit Risiken behaftet.
Mit freundlichen Grüßen
Frank Richter