Die „Schulnotenrechtsprechung“ des OLG Düsseldorf wird vom EuGH nicht bestätigt. Die sogenannte Schulnotenrechtsprechung des OLG Düsseldorf hat zuletzt für Unsicherheit gesorgt. Danach sei neben den Zuschlagskriterien und deren Gewichtung auch die Bewertungsmethode bekannt zu machen. Die Bewertungsmethode müsse es zulassen, im Vorhinein zu bestimmen, welchen Erfüllungsgrad die Angebote auf der Grundlage des Kriterienkatalogs und konkreter Kriterien aufweisen müssen, um mit den festgelegten Punktwerten bewertet zu werden. Weit verbreitete Schulnoten- oder Punktesysteme zur Bewertung von Zuschlagskriterien reichten nicht aus.
Der EuGH geht einen gänzlich anderen Weg: Die Bewertungsmethode müsse zwar grundsätzlich vor Öffnung der Angebote feststehen. Sie muss aber nicht veröffentlicht werden und darf (und soll) dem öffentlichen Auftraggeber den erforderlichen Spielraum bei der Bewertung der Angebote belassen. Eine Beschreibung des Erfüllungsgrad mit „hoch“, „ausreichend“ und „niedrig“ ist daher nicht zwingend zu beanstanden.
Das OLG Düsseldorf ist nach diesem Urteil zwar nicht gezwungen, seine „Schulnotenrechtsprechung“ aufzugeben, da eine strengere nationale Rechtsprechung nicht gegen Europarecht verstößt. Es ist aber wahrscheinlich, dass sich jedenfalls andere Gerichte dem EuGH und nicht dem OLG Düsseldorf anschließen werden.
Art. 53 Abs. Richtlinie 2004/18/EG; Art. 67 Abs. 5 Richtlinie 2014/24/EU; § 127 Abs. 5 GWB; § 58 VgV
Leitsatz
Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn ein Dienstleistungsauftrag nach dem Kriterium des aus seiner Sicht wirtschaftlichsten Angebots vergeben werden soll, nicht verpflichtet ist, den potenziellen Bietern in der Auftragsbekanntmachung oder in den entsprechenden Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode, die er zur konkreten Bewertung und Einstufung der Angebote anwenden wird, zur Kenntnis zu bringen. Allerdings darf diese Methode keine Veränderung der Zuschlagskriterien oder ihrer Gewichtung bewirken.
Sachverhalt
Die flämische Regierung hat einen Auftrag zur Erhebung über das Wohnungswesen und den Wohnkonsumenten in Flandern ausgeschrieben.
In der Ausschreibung dieses Auftrags wurden die beiden folgenden Zuschlagskriterien genannt:
1 Qualität des Angebots (50/100)
Qualität der Vorbereitung, Organisation und Ausführung der Feldarbeit, der Kodierung und ersten Auswertung der Daten. […]
2 Preis (50/100)
[…]“
Im Wertungsbericht heißt es:
„Die vier Angebote wurden anhand der oben genannten Kriterien bewertet und miteinander verglichen. Die Angebote wurden zunächst auf Grundlage des Kriteriums ,Qualität‘ geprüft und bewertet. Jedes Angebot erhielt hierbei einstimmig eine bestimmte Bewertung (hoch, ausreichend, niedrig). Sodann wurde das Kriterium ,Preis‘ angewandt.“
Das günstigste Angebot mit niedriger Qualität kam auf Rang 4. Die übrigen, deutlich teureren Angebote mit jeweils hoher Qualität kamen auf die ersten drei Plätze, in der Reiheinfolge der Preise.
Das Ausgangsgericht legte dem EuGH die Frage vor,
ob der öffentliche Auftraggeber, wenn der Auftrag an den Bieter mit dem aus seiner Sicht wirtschaftlich günstigsten Angebot vergeben wird, stets dazu verpflichtet ist, die Bewertungsmethode oder die Gewichtungsregeln wie vorhersehbar, gängig oder weitreichend sie auch sein mag bzw. mögen, anhand deren die Angebote nach den Zuschlagskriterien oder Unterkriterien bewertet werden sollen, stets im Voraus festzulegen und in die Bekanntmachung oder Verdingungsunterlagen aufzunehmen,
oder,
wenn eine solche allgemeine Verpflichtung nicht besteht, ob es Umstände wie u. a. die Tragweite, die mangelnde Vorhersehbarkeit oder die mangelnde Gängigkeit dieser Gewichtungsregeln gibt, unter denen diese Verpflichtung dennoch gilt?
Die Entscheidung
Der EuGH verneinte die Frage. Weder aus der Richtlinie 2004/18/EG noch aus der Rechtsprechung des EuGH ergebe sich eine Pflicht, den potenziellen Bietern durch Veröffentlichung in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode zur Kenntnis zu bringen, anhand derer der öffentliche Auftraggeber eine konkrete Bewertung der Angebote hinsichtlich der zuvor in den Auftragsdokumenten festgelegten Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung vornimmt und eine Rangfolge für sie erstellt.
Zur Begründung führt der EuGH aus, dass ein Bewertungsausschuss bei der Erfüllung seiner Aufgabe über einen gewissen Freiraum verfügen müsse und somit, ohne die in den Verdingungsunterlagen oder in der Bekanntmachung festgelegten Zuschlagskriterien zu verändern, seine Tätigkeit der Prüfung und Bewertung der eingereichten Angebote strukturieren dürfe. Dieser Freiraum sei auch aus praktischen Erwägungen gerechtfertigt. Der öffentliche Auftraggeber müsse in der Lage sein, die Bewertungsmethode, die er zur Bewertung und Einstufung der Angebote anwenden wird, an die Umstände des Einzelfalls anzupassen.
Entsprechend sei der Auftraggeber auch nur grundsätzlich dazu verpflichtet, die Bewertungsmethode vor Öffnung der Angebote festzulegen. Wenn die Festlegung dieser Methode aus nachweislichen Gründen nicht vor der Öffnung möglich gewesen sei, könne der öffentliche Auftraggeber sie auch erst festlegen, nachdem er oder sein Bewertungsausschuss vom Inhalt der Angebote Kenntnis genommen hat.
Der öffentliche Auftraggeber müsse aber sicherstellen, dass die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung durch die Bewertungsmethode nicht verändert würden. Hieran bestanden im vorliegenden Fall Zweifel, da eine Gewichtung der Qualität zu 50 % allein durch die Bewertungsmaßstäbe „hoch“, „ausreichend“ und „niedrig“ nicht gewährleistet war.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung überzeugt. Ohne einen Beurteilungsspielraum können andere Kriterien außer dem Preis nur selten bewertet werden. In vielen Fällen ist es unmöglich, eine Bewertungsmethode vorab so genau festzulegen, dass die Bewertung vorab gleichsam automatisch feststeht. Dass dabei ein nur dreistufiger Bewertungsmaßstab für die Qualität, die zu fünfzig Prozent gewichtet werden soll, nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Ein Punkte- oder ein Schulnotensystem hätten dem EuGH aber offenbar bereits genügt.
Die Entscheidung des EuGH steht im direkten Widerspruch zur Schulnotensrechtsprechung des OLG Düsseldorf (vgl. dazu Ortner, Vergabeblog.de vom 22/02/2016, Nr. 24682 und Vergabeblog.de vom 10/12/2015, Nr. 24401). Dieses hat zuletzt im Beschluss vom 15. Juni 2016 (VII-Verg 49/15, Rn. 35) ausgeführt:
„Der Antragsgegner hat der Angebotswertung ein unzulässiges Bewertungssystem zugrunde gelegt. Durch die Verwendung eines Schulnotensystem zur Bewertung der Konzepte unter Verweis auf die Internetseite: http://de.wikipedia.org/wiki/Schulnote#Unter- und Mittelstufe statt der Angabe konkreter Kriterien anhand derer Schulnoten vergeben werden sollen, hat er unzulässige Wertungsmaßstäbe aufgestellt. Die Wertungsmaßstäbe, die sich auch in den abschließenden Vergabeunterlagen befinden, sind intransparent. Sie lassen nicht zu, im Vorhinein zu bestimmen, welchen Erfüllungsgrad die Angebote auf der Grundlage des Kriterienkatalogs und konkreter Kriterien aufweisen müssen, um mit den festgelegten Schulnoten bewertet zu werden. Für Bieter war nicht zu erkennen, unter welchen Voraussetzungen welche Kriterien mit welcher Schulnote bewertet werden. Aufgrund der Vergabeunterlagen haben Bieter im Voraus nicht zuverlässig ermitteln können, auf welche konkreten Leistungen die Vergabestelle Wert gelegt hat und wie Angaben und angebotene Konzepte insofern zueinander gewichtet werden sollten. Das Wertungssystem der Vergabestelle lässt objektiv Raum für Manipulationen und Willkür bei der Bewertung der Angebote.“
Das OLG Düsseldorf setzt dabei wie selbstverständlich und zuvor mehrfach entschieden (vgl. nur Beschluss vom 16. Dezember 2015 VII-Verg 25/15, juris) voraus, dass die Bewertungsmethode in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen den Bietern zur Kenntnis gebracht werden muss.
Die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf ist nicht nur unpraktikabel, weil im Voraus Bewertungsmethoden mit diesem Detailierungsgrad kaum zu erstellen sind. Sie führt letztlich dazu, dass öffentliche Auftraggeber dazu übergehen, nur noch den Preis zu bewerten.
Sie findet auch im Gesetz keine Stütze. Ausdrücklich wird in der Richtlinie und der innerstaatlichen Umsetzung lediglich gefordert, dass die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung bekannt zu geben sind. Daran hat sich im „neuen“ Vergaberecht nichts geändert (Art. 67 Abs. 5 Richtlinie 2014/24/EU, § 127 Abs. 5 GWB, § 58 Abs. 3 VgV). Als Begründung verweist das OLG Düsseldorf auch lediglich auf den Transparenzgrundsatz. Dessen Reichweite wurde für die Ermittlung des Zuschlags aber durch den europäischen und nationalen Gesetzgeber festgelegt: (Nur) die Zuschlagskriterien selbst und dern Gewichtung sind zu veröffentlichen. Eine Ausdehnung des Transparenzgrundsatzes über diese ausdrückliche Regelung hinaus steht daher weder mit dem europäischen Recht, wie vom EuGH bestätigt, noch mit nationalem Recht in Einklang.
Dass das OLG Düsseldorf dem EuGH folgt, erscheint zweifelhaft. Es steht dem nationalen Gesetzgeber frei, über die europäischen Regelungen hinausgehende Transparenzanforderungen zu stellen. Ein nationales Gericht kann daher – selbst gleichlautende Regelungen – strenger auslgegen als der EuGH. Die nationale Rechtsprechung darf aber nicht gegen andere europäische Regelungen verstoßen. Wenn die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf dazu führt, dass die in der Richtlinie ausdrücklich für zulässig erklärten qualitativen, sozialen und umweltbezogenen Kriterien nicht mehr angewandt werden können, dann müsste das OLG Düsseldorf die Rechtsprechung des EuGH beachten. Nach Auffassung des OLG Düsseldorf ist es aber wohl möglich, vorab in allen Fällen eine Bewertungsmethode festzulegen, die über Schulnoten oder ein Punktesystem hinausgehen.
Praxistipp
Nach der Schulnotenrechtsprechung des OLG Düsseldorf ist eine Bewertung der Zuschlagskriterien nach nicht näher definierten „Schulnoten“ oder Punkten nicht zulässig, da der Bieter nicht weiß, wie sein Angebot bewertet wird.
Diese Rechtsprechung hat auf europäischer Ebene keine Fortsetzung gefunden: Der EuGH stellt eindeutig fest, dass die Bewertungsmethode nicht einmal den Bietern bekannt gemacht werden muss. Grundsätzlich sind nach der Entscheidung auch einfache Bewertungssysteme – wie etwa Schulnoten – möglich.
Damit steigen die Chancen, dass die anderen Gerichte die kaum erfüllbaren Anforderungen des OLG Düsseldorf nicht übernimmt. Da das Urteil des EuGH aber einer strengeren nationalen Rechtsprechung nicht entgegensteht, ist nicht auszuschließen, dass das OLG Düsseldorf an seiner Rechtsprechung festhält.
Stets muss der Auftraggeber sicherstellen, dass die Bewertung der Angebote nach objektiven und nachvollziehbaren Maßstäben erfolgt. Auch sind Unterkriterien grundsätzlich zu veröffentlichen. Je detaillierter die Zuschlagskriterien und die Bewertungsmethode sind und je früher der öffentliche Auftraggeber die Bewertungsmethode festlegt und bekannt macht, umso weniger macht er sich angreifbar. Die Schulnotenrechtsprechung des OLG Düsseldorf sollte aber nicht, jedenfalls nicht mehr, dazu führen, dass qualitative, soziale und umweltbezogene Kriterien bei der Bewertung von Angeboten außen vor bleiben.
Der Autor Dr. Peter Neusüß ist Rechtsanwalt der Sozietät Sparwasser & Heilshorn Rechtsanwälte, Freiburg. Herr Dr. Peter Neusüß berät im Bereich des Vergabe-, Bau-, Abfall- und Energierechts insbesondere die öffentliche Hand, aber auch private Unternehmen. Er begleitet und unterstützt öffentliche Auftraggeber im Vergabeverfahren von der Vorbereitung einschließlich der Einbindung der (kommunalen) Gremien über die Erstellungder Vergabeunterlagen und Bieterinformationen bis hin zur Zuschlagserteilung und vertritt sie, soweit erforderlich, in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und den Oberlandesgerichten.
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