Der BGH setzt dem Streit um die Schulnoten ein Ende, verlagert die Probleme jedoch auf eine andere Ebene.
Nichts hat die Vergabepraxis im vergangenen Jahr so sehr bewegt wie die Zulässigkeit der qualitativen Angebotswertung nach dem Schulnotenprinzip. Nachdem der Düsseldorfer Vergabesenat zunächst hohe Anforderungen an ein derartiges Vorgehen gestellt hatte
(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.12.2015, Verg 25/15; Beschl. v. 15.06.2016, Verg 49/15; vgl. Ortner, Vergabeblog.de vom 10/12/2015, Nr. 24401, sowie Vergabeblog.de vom 22/02/2016, Nr. 24682, Neusüß, Vergabeblog.de vom 04/12/2016, Nr. 28130),
war diese strenge Ansicht bereits durch eine Entscheidung des EuGH
(Urt. v. 14.07.2016, Rs. C-6/15 – TNS Dimarso; vgl. Ortner, Vergabeblog.de vom 25/09/2016, Nr. 27344; Neusüß, Vergabeblog.de vom 21/08/2016, Nr. 27080)
fraglich geworden.
Bezeichnenderweise hat das OLG Düsseldorf zuletzt selber von seiner Rechtsprechung Abstand genommen, hierzu aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Entscheidung lediglich auf die Rechtslage vor dem 18.04.2016 – also das „alte Vergaberecht“ – beziehe (Beschl. v. 08.03.2017, Verg 39/16; vgl. Neusüß, Vergabeblog.de vom 18/04/2017, Nr. 30840).
Das OLG Dresden wollte nunmehr in einem vergleichbaren Sachverhalt von den erstgenannten Entscheidungen des OLG Düsseldorf abweichen und hat die Sache im Wege der Divergenzvorlage dem BGH vorgelegt (Beschl. v. 02.02.2017, Verg 7/16; vgl. Siebler, Vergabeblog.de vom 11/05/2017, Nr. 31533). Der Sachverhalt bezieht sich hier bereits auf die neue Rechtslage.
Der BGH hat die Ansicht des OLG Dresden nunmehr bestätigt und darüber hinaus zu weiteren interessanten materiellen und prozessualen Fragen Stellung genommen.
Kann nunmehr unproblematisch eine Bewertung nach Schulnoten erfolgen oder verlagern sich die Probleme nur auf eine andere Ebene?
§§ 97 Abs. 1, 127 Abs. 1, 179 Abs. 2 GWB; §§ 8 Abs. 1 S. 2. 58 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 VgV; §§ 524, 565 S. 2 ZPO
Leitsatz
- Es steht einer transparenten und wettbewerbskonformen Auftragsvergabe regelmäßig nicht entgegen, wenn der öffentliche Auftraggeber für die Erfüllung qualitativer Wertungskriterien Noten mit zugeordneten Punktwerten vergibt, ohne dass die Vergabeunterlagen weitere konkretisierende Angaben dazu enthalten, wovon die jeweils zu erreichende Punktzahl konkret abhängen soll.
- Ein Wertungsschema, bei dem die Qualität der Leistungserbringung und der nach der einfachen linearen Methode in Punkte umzurechnende Preis mit jeweils 50% bewertet werden, ist ohne Weiteres auch dann nicht vergaberechtswidrig, wenn nur eine Ausschöpfung der Punkteskala in einem kleinen Segment (hier: 45 bis 50 von 50 möglichen Punkten) zu erwarten ist. Die Wahl einer bestimmten Preisumrechnungsmethode kann vergaberechtlich nur beanstandet werden, wenn sich gerade ihre Heranziehung im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände als mit dem gesetzlichen Leitbild des Vergabewettbewerbs unvereinbar erweist.
- Der Gefahr einer Überbewertung qualitativer Wertungskriterien zum Nachteil einzelner Bieter ist durch eingehende Dokumentation des Wertungsprozesses zu begegnen. Die Nachprüfungsinstanzen untersuchen auf Rüge die Benotung des Angebots des Antragstellers als solche und in Relation zu den übrigen Angeboten, insbesondere zu demjenigen des Zuschlagsprätendenten, und darauf hin, ob die jeweiligen Noten im Vergleich ohne Benachteiligung des einen oder anderen Bieters plausibel vergeben wurden.
- Der Beschwerdegegner kann sich im Vergabenachprüfungsverfahren bis zum Ablauf der ihm gesetzten Frist zur Beschwerdeerwiderung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Vergabekammer anschließen.
- Im Verfahren vor dem Bundesgerichtshof nach § 179 Abs. 2 GWB kann die Beschwerde nach Beginn der mündlichen Verhandlung nur mit Einwilligung des Gegners zurückgenommen werden.
Sachverhalt
Der Entscheidung liegt ein Offenes Verfahren über die Vergabe von Rahmenverträgen über Postdienstleistungen (in zwei Losen, getrennt nach Brief- und Paketpost) für eine Vertragsdauer von jeweils sechs Jahren zugrunde. Der vertragliche Leistungsinhalt umfasste die Abholung der Sendungen beim Auftraggeber, die notwendigen Zwischenschritte und schließlich die Zustellung beim Empfänger. Vom Auftraggeber ist lediglich der Zustand bei der Abholung und die Ablieferung innerhalb einer vorgegebenen Frist vorgegeben. Darüber hinaus sollte der Auftragnehmer in seiner Organisation weitestgehend frei sein. Als Zuschlagskriterien wurden jeweils zu 50 % der Angebotspreis und die Qualität der Leistungserbringung festgelegt.
Für die Bewertung der Qualität wurden drei Unterkriterien gebildet. Diese wurden den Bietern durch die Vergabeunterlagen wie folgt mitgeteilt:
1. Schwankungen im Sendungsaufkommen/Auftragsspitzen (15 %)
2. Sicherstellung einer effektiven Leistungserbringung (25 %), hier waren weitere vier Unterunterkriterien gebildet worden:
a) Sicherstellung der Zustellung in Häusern, bei denen aufgeschlossen bzw. geklingelt werden muss
b) Reaktionsweise bei Notfällen wie Personal- oder Fahrzeugausfällen oder extremen Wetterbedingungen,
c) Reklamationsmanagement,
d) internes Qualitätsmanagement zur Gewährleistung der anforderungsgerechten Leistungserbringung
3. Zustellzeiten (10 %)
Die Bewältigung von Schwankungen im Sendungsaufkommen und die Sicherstellung der effektiven Leistungserbringung war durch die Bieter zusammen mit ihren Angeboten im Rahmen eines zwei- bzw. vierseitigen Konzepts darzustellen. Für die Darstellung über die Bewältigung von Schwankungen im Sendungsaufkommen sollten im Rahmen der Wertung maximal 15 Punkte erreicht werden können. Für die Sicherstellung der effektiven Leistungserbringung waren maximal 25 Punkte zu erzielen. Die Zustellzeit sollte mit maximal 10 Punkten bewertet werden.
Die Vergabeunterlagen sahen vor, dass der Auftraggeber die schriftlichen Darstellungen auf einer Skala von 0 bis 5 Punkten bewertet. Die Bewertung sollte dann für das erste Unterkriterium mit dem Faktor 3 und für das zweite Unterkriterium mit dem Faktor 5 multipliziert werden.
Die Bewertungsskala wurde nach Schulnoten von ungenügend (0 Punkte) bis sehr gut (5 Punkte) bekannt gemacht.
Die Bewertung der Zustellzeiten erfolgte auf Grundlage einer festen Skala in Abhängigkeit vom Tag der Einlieferung bis zur Zustellung.
Weitergehende Konkretisierungen der Zuschlagskriterien wurden nicht bekanntgemacht.
Bereits vor Angebotsabgabe rügte ein Bieter u.a., dass die Bewertungsmatrix intransparent sei. Nach der Zurückweisung der Rüge durch den Auftraggeber stellte der Bieter einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer des Freistaates Sachsen, welche dem Bieter in seiner Argumentation zur Intransparenz der Bewertungsmatrix recht gab. Nach Ansicht der Vergabekammer sei für die Bieter nicht erkennbar, welche konkreten Angaben für die Erlangung einer bestimmten Punktzahl erwartet würden. In der Beschwerdeinstanz vor dem OLG Dresden hat der Auftraggeber seine Matrix verteidigt. Der Vergabesenat hält die Wertungsmatrix ebenfalls unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH (a.a.O.) für ausreichend transparent und hält den Nachprüfungsantrag daher für unbegründet. An einer Zurückweisung sieht sich das OLG jedoch deshalb gehindert, weil diese von vorhergehenden Entscheidungen des Düsseldorfer Vergabesenats abweichen würden. Der Senat legt die Angelegenheit daher dem BGH zur Entscheidung vor.
Die Entscheidung
Der X. Zivilsenat bestätigt die Ansicht der Dresdner Richter und hält die Bewertungsmatrix ebenfalls für hinreichend transparent.
Der BGH stellt zunächst fest, dass es einer transparenten und wettbewerbskonformen Auftragsvergabe nach den Grundsätzen des § 97 Abs. 1 GWB im konkreten Fall nicht entgegenstehe, wenn die Vergabeunterlagen keine konkretisierenden Angaben dazu enthalten, wovon die für einzureichende Konzepte zu erzielende Punktzahl abhängen soll. In diesem Zusammenhang wird zunächst darauf hingewiesen, dass die streitgegenständlichen Postdienstleistungen weitestgehend standardisiert seien und sich die notwendigen Einzelleistungen bereits konkret und erschöpfend aus den Vergabeunterlagen ergäben. Nur in Bezug auf die Konzepte zur qualitativen Wertung sei der Wettbewerb teilweise funktional ausgestaltet, so dass lediglich innerhalb dieser Grenzen überhaupt eigene Lösungsansätze der Bieter möglich seien. In Bezug auf die Tauglichkeit dieser Lösungen stehe dem Auftraggeber eine prognostischer Beurteilungsspielraum zu.
Darüber hinaus sei für jeden Bieter schon aus der Bezeichnung der jeweiligen Kriterien klar verständlich, für welche Sachverhalte ihre Konzepte eine taugliche Lösung anbieten sollten. Weitergehende Erklärungen und konkretisierende Informationen seien daher aus Gründen der Transparenz auch nicht geboten gewesen. Vielmehr hätten solche Angaben zur Folge, dass dem Auftraggeber durch die Vorgabe von Lösungswegen die Möglichkeit der von ihm favorisierten (teil-)funktionalen Ausschreibung genommen würde. Die Delegation von Lösungswegen im Wege einer funktionalen Ausschreibung auf die Bieter erkennt der BGH damit an.
Offen lässt der BGH allerdings, ob es unter außergewöhnlichen Umständen, welche in der Komplexität des Auftragsgegenstands und den damit verbundenen besonders vielschichtigen Wertungskriterien begründet sein könnten, doch notwendig sein kann, dass der Auftraggeber Anhaltspunkte für seine Vorstellungen und Präferenzen vorgibt. Aufgrund der weitestgehenden Standardisierung der Leistung kam es hierauf vorliegend nicht an.
Abschließend weist der Senat den Auftraggeber nach der Zurückweisung des Nachprüfungsantrags für die anstehende Angebotswertung darauf hin, dass zwischen der Zulässigkeit der Wertungsmatrix einerseits und der auf dieser Grundlage durchgeführten Wertung andererseits zu unterscheiden sei. Mit dem hohen Stellenwert der qualitativen Bewertung gehe die Verpflichtung des Auftraggebers zu einer besonders sorgfältigen Benotung einher. Der Auftraggeber habe qualitativen Kriterien insbesondere mit seinem großen Interesse daran, die amtlichen Betriebsabläufe mögen durch die Leistungserbringung nicht gestört werden, begründet. Da sich hieran die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung entscheide, sei die Wertung genau an diesem Interesse auszurichten. So sei es bspw. denkbar, dass Unterschiede in den Bieterkonzepten größeres, niedrigeres oder sogar gar kein messbares Gewicht haben können. Dies sei im Rahmen der Wertung zu berücksichtigen. Die Gefahr der mangelnden Transparenz bestehe hier eher darin, dass der Auftraggeber seine Wertungsentscheidung nicht hinreichend dokumentiere. Die Dokumentation setze in solchen Fällen voraus, dass die maßgeblichen Erwägungen der Wertung in allen Schritten eingehend und nachvollziehbar dargelegt würden, so dass erkennbar würde, welche qualitativen Eigenschaften mit welchem Gewicht in die Benotung eingegangen sind. Diese Benotung würden die Nachprüfungsinstanzen insbesondere auf Plausibilität im Vergleich zu den übrigen Bietern prüfen.
Die Entscheidung befasst sich daneben noch mit interessanten Fragen zur Zulässigkeit der Anschlussbeschwerde und der Wahl einer bestimmten Preisumrechnungsmethode. Diese sollen vorliegend jedoch im Sinne der besseren Lesbarkeit unbeachtet bleiben.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung betrifft zunächst ein Verfahren, dessen Bekanntmachung am 20.08.2016 im Supplement zum Amtsblatt der EU erfolgte. Sie gilt mithin ausdrücklich für das am 18.04.2016 in Kraft getretene „neue Vergaberecht“. Dies ist insofern interessant, als auch das OLG Düsseldorf in einer aktuellen Entscheidung von seiner strengen Ansicht in Bezug auf eine Bewertung nach Schulnoten Abstand genommen hatte, diesbezüglich aber ausdrücklich darauf verwiesen hatte, der Sachverhalt betreffe ausschließlich die „alte Rechtslage“ (Beschl. v. 08.03.2017, Az.: VII-Verg 39/16). Demnach dürften die letzten verbliebenen Zweifel, ob selbiges auch nach neuer Rechtslage gelte, durch den BGH ausgeräumt worden sein.
Weiterhin liegt die Entscheidung natürlich insbesondere auf der Linie der Dimarso-Entscheidung des EuGH (a. a. O.) und war vor diesem Hintergrund wohl auch zu erwarten.
Dementsprechend ist nunmehr auch nicht mehr bestreitbar, dass eine qualitative Angebotswertung auf der Grundlage von Schulnoten oder ähnlichen Skalen vergaberechtlich zulässig ist, ohne dass die Vergabeunterlagen konkretisieren, unter welchen genauen Voraussetzungen, welche Benotung zu erreichen ist bzw. welche inhaltlichen Angaben das Angebot aufweisen muss. Die Entscheidung stärkt den Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers. Dies ist nach Ansicht des Verfassers vor allem deshalb wichtig, damit das Ergebnis des Vergabeverfahrens tatsächlich das wirtschaftlichste Angebot abbildet und nicht etwa den Lösungsvorschlag des Auftraggebers abschreibt und die Angebote inhaltlich nicht unterscheidbar sind – echter Wettbewerb braucht diese Unterscheidbarkeit und die qualitative Bewertung unterschiedlicher Lösungen.
Gleichwohl ergibt sich aus dem Beschluss kein Freibrief an den öffentlichen Auftraggeber, nunmehr nicht mehr die notwendige Sorgfalt bei der Verfahrensdurchführung an den Tag zu legen. Die Probleme werden sich lediglich in andere Bereiche verlagern. Umfangreiche Verfahren werden weiterhin nicht ohne Fleißarbeit der Auftraggeber rechtssicher zu führen sein.
Offen bleibt weiterhin, ob es die besondere Komplexität des Auftragsgegenstands ausnahmsweise erfordert, dass der Auftraggeber seine Vorstellungen und Präferenzen an den Zielerreichungsgrad der Angebote näher erläutert und zumindest in diesen Ausnahmefällen Anhaltspunkte für die Benotung vorgibt.
Hiervon war insbesondere zuletzt auch noch das OLG Düsseldorf (a.a.O.) ausgegangen und hat in einem Leitsatz darauf hingewiesen, dass der Auftraggeber sich seiner Verpflichtung zur Formulierung der Zuschlagskriterien und deren Gewichtung insbesondere bei funktionalen Ausschreibungen nicht durch die Verwendung eines reinen Schulnotensystems entziehen könne. Fraglich bleibt weiterhin, ob der BGH durch seine diesbezüglichen Ausführungen (es handelt sich nicht um ein obiter dictum, da die Frage offen gelassen wird) hierzu tendiert. Nach Ansicht des Verfassers kann dies jedoch nicht zwingend angenommen werden. Vielmehr dürfte es sich um die prozessuale Behandlung unerheblichen Parteivortrags handeln. Dieser Schluss drängt sich gerade deshalb auf, weil auch der EuGH (a.a.O.) keine derartigen Überlegungen aufgeworfen und dem Auftraggeber anhand einer wesentlich einfacheren Skala für die Bewertung der Angebotsqualität einen hohen Spielraum eingeräumt hat.
Interessant sind hingegen insbesondere die aufgestellten Anforderungen des BGH an die Durchführung der Wertung und deren Dokumentation. Hier weist der Senat darauf hin, dass sich die Bewertung des Auftraggebers an dem mit dem Zuschlagskriterium verfolgten Zweck (hier: ungestörte amtliche Betriebsabläufe) auszurichten habe. Dieser Zweck ergab sich in dem vorliegenden Fall aus den Formulierungen der Vergabeunterlagen. Vielfach wird es aber nicht möglich sein, den verfolgten Zweck in einigen wenigen Sätzen und dann auch noch vollumfänglich zu formulieren. Auch wenn vor dem Hintergrund der Dimarso-Entscheidung des EuGH (a.a.O.) eine Bekanntmachung des verfolgten Zwecks an die Bieter nicht notwendig sein dürfte, so muss dieser zumindest intern dokumentiert werden. Im Ergebnis wäre der Auftraggeber dann daran gehindert, Konzeptinhalte positiv zu bewerten, von welchen er sich zwar einen Mehrwert verspricht, die seinem ursprünglich mit dem Bewertungskriterium verfolgten Zweck aber nicht dienlich sind bzw. diesem neutral gegenüber stehen.
Des Weiteren stellt der BGH strenge Anforderungen an die Dokumentation der Wertungsentscheidung auf. Der Auftraggeber muss sich hier vollumfänglich und nachvollziehbar mit den Inhalten der Angebote und der daraus resultierenden Benotung auseinandersetzen, darf keine sachfremden Erwägungen einfließen lassen und die Vor- und Nachteile – auch unter Berücksichtigung der Konkurrenzangebote – sorgfältig abwägen. Die bisher noch teilweise als zulässig angesehene Übertragung der Wertungsentscheidung an ein vom Auftraggeber eingesetztes Gremium (OLG München, Beschl. v. 25.09.2014, Az.: Verg 9/14; VK Brandenburg, Beschl. v. 12.11.2008, Az.: VK 35/08; a. A. VK Südbayern, Beschl. v. 24.07.2015, Az.: Z3-3-3194-1-28-04/15) dürfte daher zukünftig nicht mehr bzw. nur noch mit hohen Anforderungen an die Dokumentation zulässig sein.
Gleichzeitig stellen sich in Bezug auf die auftraggeberseitigen Dokumentationspflichten neue Fragen im Rahmen eines Vergabenachprüfungsverfahrens. Nach Mitteilung der Wertungsentscheidung des Auftraggebers dürften den Bietern noch keine detaillierten Angaben über etwaige Mängel bei der Wertung des eigenen Angebots bekannt sein. Insofern werden sie zur Abgabe einer Rüge „ins Blaue hinein“ verleitet. Fraglich ist, welche Anforderungen an die Substantiierung der Rüge die Nachprüfungsinstanzen hier zukünftig fordern werden. Gleiches gilt letztlich für die Voraussetzungen der Gewährung von Akteneinsicht. Gem. § 165 Abs. 2 GWB hat die Vergabekammer diese zu versagen, wenn dies aus wichtigen Gründen, insbesondere der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, geboten ist. Die Dokumentation der Angebotswertung dürfte solche Geheimnisse aber regelmäßig beinhalten, wenn die einzelnen Angebote gegeneinander abgewogen und Vor- und Nachteile benannt werden.
Praxistipp
Die Entscheidung des BGH stärkt zunächst die öffentlichen Auftraggeber in ihrem Beurteilungsspielraum im Rahmen der Angebotswertung. Die Vergabeunterlagen und die Zuschlagskriterien müssen mithin nicht die favorisierte Optimallösung, welche in der Praxis ohnehin regelmäßig nicht bekannt ist, vorgeben. Zur Erreichung einer wirtschaftlichen Beschaffung ist dies sicherlich zu begrüßen.
Trotzdem wird die Wertung entsprechender Verfahren die Auftraggeber weiterhin vor Herausforderungen stellen. Einem Vorgehen „Pi mal Daumen“ hat der BGH eine Absage erteilt. Vielmehr muss die Plausibilität der Bewertung im Rahmen der Dokumentation nunmehr umfänglich dargestellt werden. Dies wird regelmäßig einiger Fleißarbeit bedürfen, ist vor dem Hintergrund der anderenfalls bestehenden Missbrauchsmöglichkeiten aber nur allzu verständlich.
Es darf gespannt abgewartet werden, wie die vergaberechtliche Judikatur hier in Zukunft eine weitere Akzentuierung herbeiführen wird.
Torben Schustereit
Der Autor Torben Schustereit ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Kanzlei GKMP Pencereci Rechtsanwälte aus Bremen und dort schwerpunktmäßig im Bereich des Vergaberechts und des privaten Bau- und Architektenrechts tätig. Er berät vornehmlich öffentliche Auftraggeber und Empfänger von Fördermitteln bei der Durchführung von nationalen und europaweiten Vergabeverfahren und vertritt diese in Nachprüfungsverfahren und vor den Verwaltungsgerichten. Daneben ist er regelmäßiger Referent auf vergaberechtlichen Veranstaltungen.
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