Ändert sich der Beschaffungsbedarf des Auftraggebers nach Eröffnung der Angebote aufgrund einer bevorstehenden Rechtsänderung, ist den Bietern Gelegenheit zur Nachbesserung ihrer Angebote zu geben.
§ 127 GWB; § 129 Abs. 5 S. 3 SGB V
Sachverhalt
Mehrere gesetzliche Krankenkassen schrieben im Jahr 2016 Rahmenverträge über die Lieferung von in Apotheken herzustellenden Zytostatika (Medikamente zur Krebsbehandlung) zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung in Arztpraxen im offenen Verfahren europaweit aus (Rabattverträge). Die ausgeschriebenen Verträge waren bisher nur auf Grundlage des § 129 Abs. 5 S. 3 SGB V a.F. zulässig und sollten eine Laufzeit von 24 Monaten aufweisen (mit Verlängerungsoptionen). In einem Nachprüfungsverfahren machte eine Bieterin unter anderem geltend, die Festlegung auf den Preis als alleiniges Zuschlagskriterium sei vergaberechtswidrig. Die angerufene Vergabekammer des Bundes wies den Nachprüfungsantrag zurück. Auch nach dem anwendbaren neuen Vergaberecht sei die Festlegung auf den Preis als alleiniges Zuschlagskriterium zulässig. Nach der Einlegung der sofortigen Beschwerde durch die Antragstellerin, beschloss der Bundestag das GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG). Nach diesem Gesetz können die hier ausgeschriebenen Verträge nicht mehr abgeschlossen werden. Zusätzlich werden auch bereits geschlossene Verträge mit Ablauf des dritten Montags nach In-Kraft-Treten des Gesetzes unwirksam. Am 13.05.2017 trat das Gesetz schließlich in Kraft.
Die Entscheidung
Die sofortige Beschwerde der vor der Vergabekammer unterlegenen Bieterin hat Erfolg. Das OLG Düsseldorf hebt den Beschluss der Vergabekammer auf und untersagt den Zuschlag auf die ausgeschriebenen Verträge, obwohl die Entscheidung der Vergabekammer nach Auffassung des Vergabesenats zumindest im Ergebnis richtig war. Aufgrund der bevorstehenden Gesetzesänderung habe sich der Beschaffungsbedarf der Auftraggeber jedoch in kalkulationsrelevanter Weise geändert. Denn aufgrund der im AMVSG vorgesehenen Unwirksamkeit bereits geschlossener Verträge, die voraussichtlich zum 31.08.2017 eintrete, verkürze sich zwangsläufig die in der Ausschreibung vorgesehene Vertragslaufzeit drastisch. In einem solchen Fall, so der Vergabesenat, müsse der Auftraggeber den Bietern in jeder Lage des Verfahrens die Gelegenheit geben, auf diese gravierende Veränderung der Kalkulationsgrundlagen zu reagieren. Auch wenn die Angebote bereits eröffnet sind, müssen die Bieter ihre Angebote nachbessern dürfen. Eine nach der Entscheidung des Senats eigentlich gebotene Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in ein früheres Stadium kam nicht in Betracht, da nach In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes ein Abschluss der ausgeschriebenen Verträge nicht mehr zulässig ist und ein Zuschlag vorher zeitlich nicht mehr realisierbar war.
Rechtliche Würdigung
Anzutreffen ist hier der eher seltene Fall, dass der Beschwerdesenat die Entscheidung der Vergabekammer im Ergebnis ausdrücklich für richtig hält, aber dennoch aufhebt. Aus welchen Gründen der ursprüngliche Nachprüfungsantrag auch aus Sicht des Senates unbegründet war, wird leider nicht erläutert. Dennoch spricht alles dafür, dass mit der Entscheidung der Vergabekammer in der Vorinstanz der Preis als alleiniges Zuschlagskriterium auch nach der Vergaberechtsreform weiter zulässig ist.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei einer Änderung des Beschaffungsbedarfs des Auftraggebers, welche den ausgeschriebenen Leistungsumfang in kalkulationserheblicher Weise verändert, den Bietern in jeder Lage des Verfahrens Gelegenheit gegeben werden muss, auf die Änderung zu reagieren. Tritt die Änderung nach Eröffnung der Angebote ein, so müssen die Bieter ihre Angebote entsprechend ändern können (Vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.01.2011 – Verg 46/10 BeckRS 2011, 03875).
Die gleichen Maßstäbe gelten nach der Entscheidung des OLG Düsseldorf dann, wenn die Änderung des Beschaffungsbedarfs aufgrund einer Rechtsänderung eintritt, die erst bevorsteht. Noch im Jahr 2014 hatte der Vergabesenat in einem ähnlichen Fall entschieden, dass Rechtsänderungen erst vom Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens an in den Vergabeunterlagen zu berücksichtigen seien. Die tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen von Rechtsänderungen auf die Kalkulation der Angebote seien in der Regel erst ab diesem Zeitpunkt zuverlässig zu beurteilen. Lediglich wenn Rechtsänderungen vor Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe tatsächlich eintreten, könne der Auftraggeber unter Umständen zur Wiedereröffnung der Angebotsphase verpflichtet werden. Der Auftraggeber dürfe deshalb von der Rechtslage zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ausgehen und den Zuschlag erteilen. Etwaige Anpassungen seien im Anschluss nach den Bestimmungen des § 313 BGB nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage zu lösen. Dabei müssten die Grundsätze des EuGH zu wesentlichen Vertragsänderungen berücksichtigt werden (heute: § 132 GWB) (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.02.2014 – VII-Verg 42/13 – BeckRS 2014, 08848).
Die neue Lösung des Vergabesenats überzeugt. Führt eine Rechtsänderung während des Vergabeverfahrens zu einer drastischen Verkürzung der ausgeschriebenen Vertragslaufzeiten, so beschafft der Auftraggeber faktisch nunmehr eine andere Leistung, es verändert sich also der Beschaffungsbedarf. In einem derartigen Fall könnte ein Auftraggeber unter Umständen die Ausschreibung gem. § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 VgV aufheben. Aber auch hier müsste den Auftragnehmern zunächst die Möglichkeit der Nachbesserung ihres Angebots gegeben werden. Nichts anderes kann gelten, wenn der Auftraggeber im eigenen Interesse an der Ausschreibung festhalten will. Denn nur auf diese Weise erfolgt eine gerechte Risikoverteilung, nachdem bisher die Bieter allein das Risiko einer Änderung der Rechtslage nach der Abgabe ihres Angebots zu tragen hatten. Die Lösung ist zugleich auch praxisgerechter. Denn nachträgliche Vertragsanpassungen führen oft zu erheblichen Schwierigkeiten und häufig nicht zu für beide Seiten befriedigenden Ergebnissen.
Unklar bleibt, mit welcher Sicherheit eine noch bevorstehende Gesetzesänderung feststehen muss, damit sie vom Aufraggeber auch während des Vergabeverfahrens zu berücksichtigen ist. Je unsicherer der Eintritt der Gesetzesänderung und damit der Eintritt der Änderung des Beschaffungsbedarfs zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung ist, desto weniger dürfte man vom Auftraggeber verlangen können, vorauseilend die Gesetzesänderung durch die Gestaltung der Vergabebedingungen zu berücksichtigen. In derartigen Fällen verbliebe weiterhin lediglich die Möglichkeit einer nachträglichen Vertragsanpassung.
Praxistipp
Auftraggeber sollten umsichtig agieren, wenn sich eine Änderung der Rechtslage abzeichnet, die Einfluss auf den Beschaffungsgegenstand haben könnte. Die Einbeziehung konkreter Vertragsanpassungsklauseln für den Fall des Eintritts der Gesetzesänderung könnte den Zuschlag ohne Nachbesserung der Angebote ermöglichen und zugleich eine Vertragsanpassung vor dem Hintergrund des § 132 GWB rechtfertigen.
Alexander Falk
Der Autor Alexander Falk ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf. Als Mitglied der dortigen Praxisgruppe Öffentliches Recht und Vergaberecht berät und begleitet er bundesweit öffentliche Auftraggeber und Bieter bei verschiedensten Ausschreibungen.
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