Die Vergabekammer des Bundes hält im Rahmen der Auskömmlichkeitsprüfung in bestimmten Konstellationen ein Aufklärungsverlangen gegenüber dem betroffenen Bieter für obsolet. Mit dieser Entscheidung setzt sie sich zunächst über den recht eindeutigen Wortlaut des § 60 Abs. 1 VgV hinweg. Nach Sinn und Zweck der Regelung erscheint die Entscheidung dennoch nachvollziehbar. Öffentliche Auftraggeber sollten sich hieran jedoch im Regelfall nicht orientieren.
§ 60 VgV
Leitsatz
Aus dem Überschreiten der Aufgreifschwelle ergibt sich die Verpflichtung eines Auftraggebers, in die Preisprüfung einzutreten. Ein Aufklärungsverlangen beim Bieter ist aber nicht erforderlich, wenn der Auftraggeber aufgrund gesicherter Erkenntnisse zu der Feststellung gelangt, dass das Angebot des Bieters nicht ungewöhnlich niedrig ist.
Sachverhalt
Ein Bieter hatte in einem Verhandlungsverfahren ein verbindliches Angebot abgegeben, das in der Gesamtwertung an erster Stelle lag. Im Rahmen der Angebotsprüfung beleuchtete die Vergabestelle insbesondere auch die Auskömmlichkeit des Angebots des betreffenden Bieters. Die Vergabestelle sah allerdings von einer Nachfrage beim Bieter ab, da sie der Auffassung war, auch ohne Aufklärung anhand der ihr bereits vorliegenden Informationen eine Auskömmlichkeitsprüfung vornehmen zu können.
Im Zuge eines Vergabenachprüfungsverfahrens griff ein unterlegener Bieter insbesondere auch die Auskömmlichkeit des Angebots des für den Zuschlag vorgesehenen Bestbieters auf. Die Vergabekammer des Bundes hatte sich daher mit der Frage der ordnungsgemäßen Auskömmlichkeitsprüfung zu beschäftigen.
Die Entscheidung
Die Vergabekammer sah keinen Verstoß gegen die Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 1 VgV, da die Auskömmlichkeitsprüfung ordnungsgemäß erfolgt sei. Ein Aufklärungsverlangen beim Bieter sei nach Auffassung der Vergabekammer des Bundes nicht in jedem Fall erforderlich, insbesondere dann nicht, wenn der Auftraggeber aufgrund anderweit gesicherter Erkenntnisse zu der beanstandungsfreien Feststellung gelangt, das Angebot des Bieters sei nicht ungewöhnlich niedrig. Aufgrund umfangreicher Angaben im Rahmen des wirtschaftlichen Konzepts habe die Vergabestelle die Preisbildung auch ohne Nachfrage beim Bieter umfassend nachvollziehen können und sei nachvollziehbar zur Auffassung gelangt, das betreffende Angebot sei nicht als ungewöhnlich niedrig einzustufen.
Rechtliche Würdigung
Im vorliegenden Fall erscheinen die Erwägungen der Vergabekammer des Bundes sachgerecht und nachvollziehbar, auch wenn der Wortlaut des § 60 Abs. 1 VgV (“ […] verlangt der öffentliche Auftraggeber vom Bieter Aufklärung.“) zunächst nahelegt, dass immer und ausnahmslos eine Aufklärung zu erfolgen hat. Die Vergabekammer schließt sich damit einer früheren Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 20.12.2017, Verg 8/17) an. Das OLG Düsseldorf vertrat seinerzeit ebenfalls die Auffassung, das Gebot einer Aufklärung durch das betroffene Bieterunternehmen bestehe nicht um seiner selbst willen, sodass hierauf im Einzelfall verzichtet werden könne.
Dadurch, dass nach der Entscheidung der VK Bund auf eine Aufklärung dann verzichtet werden kann, wenn der öffentliche Auftraggeber aufgrund anderweit gesicherter Erkenntnisse zu der beanstandungsfreien Feststellung gelangt, das Angebot sei nicht ungewöhnlich niedrig, verbleibt gleichwohl für einen öffentlichen Auftraggeber stets das Risiko, dass eine Entscheidungsinstanz im Einzelfall den Erkenntnisstand des Auftraggebers als nicht ausreichend erachtet.
Praxistipp
Öffentliche Auftraggeber sind mit Blick auf den recht eindeutigen Wortlaut des § 60 Abs. 1 VgV gut beraten, in Zweifelsfällen auf „Nummer Sicher“ zu gehen und vom betroffenen Bieter Aufklärung zu verlangen. Dies gilt umso mehr seit der Bundesgerichtshof entschieden hat, dass konkurrierende Bieter einen Anspruch auf Prüfung der Angemessenheit des Preises unter Beachtung der Vorgaben des § 60 Abs. 3 VgV haben (BGH, Beschluss vom 31.01.2017 – X ZB 10/16).
Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 VgV ist der Ausschluss eines Angebots mangels Auskömmlichkeit eine Ermessensentscheidung. Hält eine Vergabestelle ein Angebot trotz Überschreitens der „Aufgreifschwelle“ ohne vorherige Aufklärung für auskömmlich, könnte ein unterlegener Bieter im Streitfall vor der Vergabekammer daher argumentieren, die Entscheidung war ermessensfehlerhaft, da dieser (wegen der unterlassenen Aufklärung) ein unvollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde lag. Dies lässt sich vermeiden, indem der überschaubare Aufwand der Aufklärung auch in vermeintlich überflüssigen Fällen betrieben wird.
Dr. Alexander Dörr ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Er berät bundesweit in erster Linie die öffentliche Hand bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsprojekten sowie bei komplexen vergaberechtlichen Fragestellungen. Ein Schwerpunkt bildet dabei die rechtliche und strategische Begleitung von großvolumigen Ausschreibungsvorhaben öffentlicher Auftraggeber, überwiegend im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb. Daneben vertritt Herr Dörr regelmäßig öffentliche Auftraggeber in Nachprüfungsverfahren. Zudem hält er zu unterschiedlichen vergaberechtlichen Themen Schulungen und Seminare. Dr. Dörr ist unter anderem Dozent am Bildungszentrum der Bundeswehr. Er publiziert darüber hinaus zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und ist regelmäßiger Autor auf vergabeblog.de.
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