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Keine Anwendbarkeit des § 132 GWB auf verteidigungs- und sicherheitsspezifische Aufträge

Nach dem Zuschlag beginnt das Leben. Das Vertragsleben. Verträge sind lebendig und müssen gerade bei komplexen Leistungen oft erweitert, geändert und korrigiert werden, auch – und gerade – im Bereich der Sicherheit und Verteidigung. Zivilrechtlich ist dies in der Regel auch kein Problem, es herrscht Privatautonomie. Vergaberechtlich ist jede Änderung aber daraufhin zu untersuchen, ob sie eine Neuausschreibungspflicht begründet. Prüfungsmaßstab hierfür ist § 132 GWB, der weitestgehend auch im Unterschwellenbereich über den Verweis in § 47 UVgO Anwendung findet. Unser Autor Dr. Roderic Ortner, der sich häufig auch mit verteidigungs- und sicherheitsspezifischen Aufträgen befasst, gelangte zu dem auch für ihn verblüffenden Ergebnis, dass § 132 GWB auf solche Aufträge keine Anwendung findet.

Europarechtlicher Kontext

Zur Prüfung der Anwendbarkeit des § 132 GWB ist zunächst an den vergaberechtlichen Kontext zu erinnern. Auf der EU-Ebene bestehen die Vergaberichtlinien nebeneinander, wie das nachstehende Schaubild verdeutlicht.

Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit werden auf EU-Ebene in Art. 43 Richtlinie 2014/23, Art. 72 der Richtlinie 2014/24 und Art. 89 Richtlinie 2014/25 (bis auf das Fehlen der Wertgrenzen) behandelt, die wiederum auf der berühmten „Pressetext-Rechtsprechung“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beruhen (Urteil vom 19. Juni 2008, C-454/06). In der Richtlinie 2009/81 findet sich indes keine Regelung zur Frage der Anwendbarkeit des Vergaberechts bei Auftragsänderungen vergleichbar mit Art. 72 der Richtlinie 2014/24. Grund hierfür ist, dass das Thema legislativ erstmals mit den neuen Vergaberichtlinien des Jahres 2014 überhaupt im Vergaberecht adressiert wurde.

Die EU-Kommission hat sich auf Grundlage eines ausführlich hierzu erstellten Berichts vom 30.11.2016 (COM(2016)0762 final) ausdrücklich gegen eine Anpassung der Richtlinie 2009/81 ausgesprochen, da sich die betroffenen Kreise dann zu schnell wieder auf neue Regelungen einlassen müssten und dies zu Akzeptanzverlusten führen könnte.  In den Schlussfolgerungen des Berichts heißt es:

„Auf der Grundlage der Bewertung und in Übereinstimmung mit den Beiträgen der Mitgliedstaaten und Interessenträgern ist die Kommission der Ansicht, dass der Text der Richtlinie zweckmäßig, die Richtlinie in Bezug auf ihre Zielerreichung weitgehend auf dem richtigen Weg und eine Änderung der Richtlinie nicht notwendig ist.”

Die Umsetzung in deutsches Recht

Die Richtlinie 2009/81 wurde u.a. in § 104 GWB, der verteidigungsspezifische Aufträge definiert, und mit der VSVgV in deutsches Recht umgesetzt. Der Gesetzgeber hat aber noch etwas Merkwürdiges getan, er hat nämlich in § 147 GWB unter anderem auch § 132 GWB für anwendbar erklärt. Damit wollte der deutsche Gesetzgeber Rechtsklarheit und Einheitlichkeit herstellen (BT-Drs. 18/6281, S. 127), was ja durchaus ein hehres Ansinnen ist.

Europarechtswidrigkeit des § 147 in Verbindung mit § 132 GWB?

Die Frage ist: Durfte der deutsche Gesetzgeber das so machen? Denn eine Norm wie § 132 GWB fehlt schlicht in der Richtlinie 2009/81.

Wenn man § 132 GWB auch auf verteidigungs- und sicherheitsspezifische Aufträge anwendete, geht man über den Richtlinientext hinaus. Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 findet die Richtlinie auf Aufträge die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2009/81 fallen, ausdrücklich gerade keine Anwendung!

Der EU-Gesetzgeber hatte bei der Einführung des Art. 72 der Richtlinie 2014/24 auch keinen Bedarf gesehen, eine solche Regelung in die Richtlinie 2009/81 zu integrieren, was legislativ ohne weiteres möglich gewesen wäre. Im Gegenteil sprach sich die EU-Kommission gegen eine Anpassung der Richtlinie 2009/81 und damit eine Übertragung der Regelung des Art. 72 der Richtlinie 2014/24 aus, siehe die Langfassung des oben zitierten Reports auf S. 129 und Fußnote 213; ein Mitgliedstaat hatte dies sogar ausdrücklich gefordert, im Ergebnis wurde jedoch kein Änderungsbedarf gesehen.

EU-Richtlinien geben andererseits den nationalen Gesetzgebern einen Rahmen vor, wenn auch meist einen sehr eng gesteckten. Sie können daher durchaus auch Lücken enthalten, die der nationale Gesetzgeber ausfüllen darf. Es stellt sich dann die Frage, welche Anforderungen der EU-Gesetzgeber in der Richtlinie aufstellt. Man unterscheidet hier zwischen den Anforderungen der Mindest- und Maximalharmonisierung (oder Vollharmonisierung): „Im Falle einer Mindestharmonisierung legt eine Richtlinie Mindeststandards fest (…). In diesem Fall haben die EU-Länder das Recht, höhere Standards festzulegen, als sie in der Richtlinie vorgegeben werden. Im Falle einer Maximalharmonisierung dürfen die EU-Länder keine strengeren Vorschriften als die in der Richtlinie festgelegten einführen.“ (EURLex – Erläuterungen zu Art. 288 AEUV). Fraglich ist, ob eine Vollharmonisierung durch die EU gewollt ist. Dies ist durch Auslegung zu ermitteln. Zum Beispiel hatte der Europäische Gerichtshof der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG die Wirkung einer vollständigen Harmonisierung zugebilligt (Urteil vom 24.11.2011 – C-468, 469/10 Rn. 29 – ASNEF).

Vorliegend sprechen die o.g. Hinweise auf die Kommissionsberichte sowie Erwägungsgrund 4 der Richtlinie 2009/81 für eine solche Vollharmonisierung. Letzterer besagt:

„Die Schaffung eines europäischen Markts für Verteidigungsgüter setzt einen auf dessen Bedürfnisse zugeschnittenen rechtlichen Rahmen voraus. Im Bereich des Auftragswesens ist hierfür die Koordinierung der Vergabeverfahren unter Beachtung der Sicherheitsanforderungen der Mitgliedstaaten und der aus dem Vertrag erwachsenden Verpflichtungen erforderlich.“

Durch die Anordnung der Anwendbarkeit des § 132 GWB auch auf sicherheitsspezifische Aufträge in § 147 GWB stellt sich der deutsche Gesetzgeber somit an Stelle des europäischen, indem er quasi die Richtlinie 2009/81 um eine Regelung erweitert, die vom EU-Gesetzgeber (zumindest derzeit) nicht gewünscht ist. Es wurde damit genau das Gegenteil von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit erzielt. Es ist auch nicht richtig, dass § 132 GWB, wie der Kollege Horn meint, „letztlich ohnehin geltendes Primärrecht aufgreift und präzisiert.“ (in: Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-VergR, 5. Aufl. 2016, § 147 GWB, Rn. 9).  Tatsächlich geht die Regelung über die Grundsätze des EuGH aus der pressetext-Rechtsprechung und Folgeentscheidungen hinaus, etwa, was die 50-%-Begrenzung von Erweiterungsaufträgen betrifft.

Der deutsche Gesetzgeber hat damit keine Lücke im EU-Recht ausgefüllt, da es hierfür insoweit an der Planwidrigkeit der Lücke fehlt. Es ist auch noch völlig offen, ob und wenn ja, wie der EU-Gesetzgeber im Fall einer Reform der Richtlinie 2009/81 das Thema Auftragsänderung adressiert, insbesondere ob er auch dort eine 50-%-Grenze einziehen wird. So findet sich in Art. 89 Richtlinie 2014/25 gerade keine solche Begrenzung. Es erscheint aber zumindest naheliegender, dass der EU-Gesetzgeber den Sonderbereich „Sicherheit und Verteidigung“ an den Sonderbereich „Sektoren“ anlehnen wird und nicht an die „klassischen“ Vergaben der Richtlinie 2014/24.

Ergebnis und Praxisempfehlung

Es bestehen gewichtige Zweifel, ob auf verteidigungs- und sicherheitsspezifische Aufträge § 132 GWB überhaupt Anwendung findet. Prüfungsmaßstab bei Änderungen laufender Verträge im Bereich Sicherheit / Verteidigung wäre damit korrekterweise weiterhin die pressetext-Rechtsprechung des EuGH. Gleichwohl sollte eine Änderung vorsorglich stets auch an § 132 GWB getestet werden, solange dazu keine gerichtliche Entscheidung vorliegt. Relevant wird das Thema dann, wenn die Prüfung zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt. Spätestens dann muss der Rechtsanwender Farbe bekennen.

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Über Dr. Roderic Ortner

Roderic Ortner ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht sowie Fachanwalt für IT-Recht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln und München. Roderic Ortner ist spezialisiert auf das Vergabe-, IT und Beihilferecht und berät hierin die Auftraggeber- und Bieterseite. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Vergabe- und IT-Recht und hat bereits eine Vielzahl von Schulungen durchgeführt.

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