Missverständnisse über den Inhalt der Vergabeunterlagen sind durch Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont eines potenziellen Bieters zu lösen. Maßgeblicher Auslegungsmaßstab ist der eines fachkundigen Bieters. Bewirbt sich ein Bieter auf vier Lose, obwohl er nur Kapazitäten zur Bedienung von zwei Losen hat, verstößt dies gegen den Wettbewerbsgrundsatz. Die Angebote für alle Lose sind zwingend auszuschließen.
§ 823 BGB, §§ 134, 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB, § 60 VgV
Sachverhalt
Der Antragsgegner schrieb Leistungen der Baumkontrolle für alle Autobahnmeistereien in vier Gebietslosen im offenen Verfahren europaweit aus. In den Ausschreibungsunterlagen wurde u.a. eine Zertifizierung der eingesetzten Baumkontrolleure nach der FLL-Richtlinie (Richtlinie der Forschungsgesellschaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau), die Angabe des Umsatzes der letzten drei Jahre, sowie die mit der Baumkontrolle verbundene Haftungsübernahme gemäß § 823 BGB gefordert. Die Ergebnisse der Baumkontrolle waren in sog. Kontrollblätter einzutragen. Zu jedem Gebietslos wurde ein Leistungsverzeichnis erstellt, das die Leistungsinhalte konkretisierte. So wurde zwischen einer Sichtkontrolle der Bäume vor Ort vom Boden aus und einer Inaugenscheinnahme bzw. einer Beobachtung durch einen fachlich qualifizierten Seitenblick durch Beobachtungsfahrt (Kontrolle Waldbestände) differenziert. Zur Kontrolle der Waldbestände war im Leistungsverzeichnis der Hinweis enthalten, dass Beobachtungsfahrten in einem Formblatt des Antragsgegners zu dokumentieren seien. Der Antragsgegner wies ausdrücklich darauf hin, dass die Kontrollblätter und weiteren Angaben bei der Kalkulation der Angebote zu beachten seien. Angebote waren für ein oder mehrere Lose statthaft. Eine Zuschlagslimitierung gab es nicht.
Der Antragsteller reichte Angebote für alle Lose unter dem Hinweis ein, Kapazitäten seien nur für zwei Lose vorhanden, Umsätze zum Jahresumsatz würden aufgrund des BDSG nicht erteilt und die Qualifikationszertifikate der Baumkontrolleure und der zu beschäftigten Nachunternehmer würden unaufgefordert nachgereicht. Das Angebot des Antragstellers war das mit Abstand teuerste.
Mit Vorabinformationsschreiben teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass der Zuschlag an zwei Mitbewerber gehen sollte. Daraufhin stellte der Antragsteller ein Aufklärungsersuchen. Er nehme an, dass zwischen seinen und den anderen Angeboten eine Preisdifferenz von mehr als 25 % liege. Die Prüfung der Auskömmlichkeit der Preise bezweifle er. Nahe liegend sei, dass der Zuschlag auf ungewöhnlich niedrige Angebote beabsichtigt sei. Nach Abforderung der Urkalkulation durch den Antragsgegner wurde erkennbar, dass der Antragsteller von einer fußläufigen Baumkontrolle der Waldbestände unter Zugrundelegung der FLL-Richtlinie ausgegangen war und nicht wie die restlichen Mitbewerber von einer Kontrolle durch Seitenblick mittels Beobachtungsfahrt.
Der Antragsteller rügte daraufhin, dass ihm keine Möglichkeit zur Nachbesserung des Angebots gegeben worden sei, ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Wettbewerbs vorliege und nach den Vergabeunterlagen in keinster Weise von einer Kontrollfahrt mit Fahrzeug auszugehen sei. Insbesondere verstoße dies gegen die Baumkontrolle nach der FLL-Richtlinie. Waldbestände seien zwingend fußläufig zu kontrollieren. Da der Antragsgegner keine Abhilfe leistete, reichte der Antragsteller Nachprüfungsantrag aus o.g. Gründen ein und beantragte neben einer Neuausschreibung Schadensersatz im Zuge der Angebotserstellung, Durchführung des Nachprüfungsverfahrens und drohenden entgangenen Gewinns.
Die Entscheidung
Erfolglos! Die VK wies den Nachprüfungsantrag als unbegründet ab. Zunächst seien jegliche Schadensersatzansprüchen vor der Zivilgerichtsbarkeit geltend zu machen. Auch konnte der Antragsteller mit seinem Vortrag, die Ausschreibungsunterlagen seien als Grundlage zur Angebotskalkulation uneindeutig, nicht durchdringen. Ein Verstoß gegen § 121 Abs. 1 S. 1 GWB sah die Kammer nicht. Die vom Antragsgegner zur Verfügung gestellten Vergabeunterlagen seien klar und verständlich und enthielten eine eindeutige und erschöpfende Leistungsbeschreibung. Auch die größte Sorgfalt bei der Erstellung von Vergabeunterlagen könne nicht verhindern, dass Unklarheiten auftreten und der Bieter ggf. gehalten sei, den Inhalt der Unterlagen auszulegen. Abzustellen sei hierbei auf den objektiven Empfängerhorizont eines potenziellen Bieters.
Die Vergabeunterlagen und Kontrollblätter unterschieden zwischen der Kontrolle bei Einzelbäumen und bei flächigem Baumbestand. Es werde klar zwischen der Vornahme von Beobachtungsfahrten bzw. Inaugenscheinnahme bei flächigem Baumbestand und fußläufigen Kontrollen bei Einzelbäumen differenziert. Zudem wies der Antragsgegner explizit auf die Relevanz der Angaben in den Kontrollblättern für die Kalkulation hin. Die FLL-Richtlinie stehe den Ausschreibungsunterlagen nicht entgegen. Der Antragsteller habe die Durchführung der Baumkontrollen konsequent nach der FLL-Richtlinie berechnet und nicht beachtet, dass die Kontrolle der Waldbestände nicht fußläufig und durch Dokumentation auf einem Kontrollblatt des Antraggegners zu erfolgen habe. Seinen Mitbewerbern sei dies nicht passiert.
Nach Auffassung der VK, setzte der Antragsteller seine Fachkenntnis an die Stelle der Notwendigkeit, die Leistungsbeschreibung und das Leistungsverzeichnis vor Angebotsabgabe Wort für Wort zu lesen. Der an den objektiven Empfängerhorizont zu stellen Maßstab werde jedoch nicht durch einen Bieter, sondern vom Durchschnitt der fachkundigen Bieter bestimmt. Eine Diskrepanz bestehe damit zwischen Angebotspreisen der Mitbewerber und seinen Angebotspreisen und nicht zwischen deren Angebotspreisen und den von diesen als Kalkulationsgrundlage zutreffend erkannten Ausschreibungsunterlagen. Ein Verstoß gegen § 121 Abs. 1 S. 1 GWB liege damit nicht vor. Auch ein Verstoß gegen § 60 VgV sei nicht zu erkennen.
Ein vergabewidriges Verhalten sei jedoch dem Antragsteller zu Last zu legen: Dieser habe sich wettbewerbswidrig verhalten, indem er Angebote für vier Lose eingereicht habe, jedoch offensichtlich nur Kapazitäten für die Bedienung von zwei Losen habe. Da der Auftraggeber keine Zuschlagslimitierung festgelegt habe, müsse sich der Bieter auf die Lose beschränken, die er bei Zuschlagserteilung auch abarbeiten könne. Schon deshalb seien die Angebote des Antragstellers damit nicht zuschlagsfähig.
Rechtliche Würdigung
Die VK Brandenburg orientiert sich zurecht an den von der Rechtsprechung normierten Anforderungen an die Leistungsbeschreibung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.12.2017 – VII-Verg 19/17 und Beschl. v. 28.03.2018 – VII-Verg 52/17): Vergabeunterlagen müssen eindeutig und unmissverständlich formuliert sein. Geringe Unklarheiten sind jedoch aufgrund auslegungsfähiger Begrifflichkeiten und einem unterschiedlichen Verständnis je nach Empfängerhorizont nicht zu vermeiden.
Welche Bemühungen Bietern bei der Auslegung von Vergabeunterlagen konkret zuzumuten sind bzw. welche Anforderungen an den öffentlichen Auftraggeber bei deren Formulierung zu stellen sind, musste im vorliegenden Fall gar nicht entschieden werden. Die Leistungsbeschreibung war so eindeutig, dass es keiner größeren Diskussion in den Beschlusssätzen bedurfte. Unklar bleibt daher weiterhin, wie groß der Ermessenspielraum des öffentlichen Auftraggebers bei der Erstellung der Vergabeunterlagen in inhaltlicher Hinsicht ist.
Die Beurteilung wie anspruchsvoll und zeitintensiv die Lektüre und Auslegung einer Leistungsbeschreibung aus Bietersicht sein darf, ohne die Grenzen der Vergaberechtswidrigkeit zu überschreiten, obliegt damit weiterhin der Auslegung durch die Vergabekammern. Der Ausschluss eines Bieters, der sich (optional) auf alle Lose bewirbt, jedoch nur zwei Lose im Zuschlagsfall bedienen kann, ist aus wettbewerbsrechtlicher Sicht nur konsequent und richtig.
Praxistipp
Die sorgfältige Lektüre der Vergabeunterlagen sollte das oberste Gebot eines jeden Bieters vor der Angebotserstellung sein. Insbesondere, wenn man als offensichtlich einziger Bieter ein gänzlich konträres Verständnis der Leistungsbeschreibung im Vergleich zu seinen Mitbewerbern erlangt hat, sollte man sich fragen, ob man möglicherweise selbst etwas missverstanden hat.
Gleichzeitig bietet das Studium der Vergabeunterlagen aber auch die Möglichkeit, das Vergabeverfahren bei Unklarheiten seitens des öffentlichen Auftraggebers zu Fall zu bringen und die eigenen Zuschlagschancen so zu erhöhen. Vorher sollte jedoch geprüft werden, ob das eigene Angebot vergaberechtskonform erstellt und eingereicht wurde: Ansonsten fliegt einem der Nachprüfungsantrag, wie im vorliegenden Fall, im wahrsten Sinne um die Ohren.
Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.
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