Vergabeblog

"Hier lesen Sie es zuerst"
ITKLiefer- & DienstleistungenUNBEDINGT LESEN!

Verdeckte Produktvorgabe und Projektpreise: eine Geschichte über ausreichende Aufdeckungsbemühungen eines Bieters (OLG München, Beschl. v. 26.03.2020 – Verg 22/19)

EntscheidungDas OLG München überzeugte sich ob der substantiierten Darlegung eines Bieters davon, dass die Vorgaben zur Medienausstattung einer Schule auf Produkte eines bestimmten Herstellers zugeschnitten waren. Die bloße Möglichkeit, so die Richter, dass der Hersteller dieses Produkts Händlern unterschiedliche Einkaufskonditionen in Form eines Projektpreises gewährt, reichte dann für eine subjektive Rechtsverletzung des Bieters aus. Der Auftraggeber hatte es versäumt, passende Alternativprodukte zu benennen, und verstieß außerdem durch die ungeschwärzte Weitergabe des Submissionsprotokolls an die Bieter gegen den Vertraulichkeitsgrundsatz.

§ 97 Abs. 2 und 6 GWB, § 31 Abs. 6; § 55 Abs. 2 VgV 

Sachverhalt

In einem offenen Verfahren und mit Preis als einzigem Zuschlagskriterium soll die Medienausstattung für eine Schule beschafft werden. Auftragsgegenstand ist u.a. die Lieferung von 30 interaktiven Multi-Touch Displays.

Die Leistungsbeschreibung enthielt hierzu folgende technischen Vorgaben:

1.1.10 interaktives Multi-Touch Display 86″ Ultra HD

interaktives Multi-Touch Display 86 “ Ultra HD, inklusive Montage an gesondert beschriebene Pylone.
Abmessungen mindestens: Breite: ca. 205 cm, Höhe: ca. 125 cm
Aktive Fläche mindestens: Breite: ca. 190 cm, Höhe: ca. 105 cm
Diagonale: 86/217 cm
Technologie: weiterentwickelte Infrarot-Technologie für präzises punktgenaues Arbeiten.
Bildseitenverhältnis: 16:9
Auflösung: mindestens Ultra-HD, 2160 p (3840 x 2160)
Bildwiederholrate: mindestens 60 Hz
Kontrastverhältnis: mindestens 4000:1
Helligkeit: mindestens 400 cd/m2
Panel ausgelegt für Dauereinsatz
Touch-Auflösung: 0,4 mm mindestens
Positionierungsgenauigkeit: 1 mm

Eingabemöglichkeit: mindestens 20 Touches gleichzeitig möglich

Ablageschale unterhalb des Displays für die Stifte
Inklusive mindestens der folgenden Anschlussmöglichkeiten: HDMI 2.0 4x, HDMI Out 1x, USB Touch 4x, VGA In, VGA Audio In, SPDIF Out 1/ x, Mic In 3,5 mm, Kopfhörer, USB 2.0 2x, USB 3.0 1x, RS232, SD-Kartenleser Mikro 1x, RJ-45 Ethernet In (10/100, 1000 Mbps) sowieRJ-45Ethemet out
davon mindestens jeweils 1 x USB-A sowie USB-B und HDMI – Anschluss.. von Peripheriegeräten
Erweiterbarkeit: mindestens 1 x Open Pluggable Specification (OPS)-Schacht sowie
Montage von NUC (Mini-PC) muss vorhanden/möglich sein.
Inklusive Hotspot-Funktionalität
Display inklusive Whiteboardfunktion in weniger als 1 Minute einsatzbereit.
Android mit mindestens folgenden Anschlüssen: HDMI-in, 2x USB-A 2.0, 1x Mikro-SD Kartenleser.
Integriertes Sound-System: mindestens 2x 15 W, nach vorne abstrahlend
Stromverbrauch des Displays: maximal 350 W; im Standby Modus kleiner 0,5 W.“

Auf Bieterfragen reagierte der Auftraggeber mit Abänderung einiger in den Worten des OLG München auch wenig nachvollziehbarer Vorgaben wie der Ablagefläche für die Stifte, der Geräteabmessungen, der mindestens geforderten Helligkeit sowie der Lokalisierung des SD-Kartenlesers.

Ein Unternehmen rügte innerhalb der Angebotsfrist das Vorliegen einer verdeckten Produktvorgabe, was vom Auftraggeber zurückgewiesen wurde. Das Unternehmen gab dennoch ein Angebot ab, das den fünften Rang bekleidete. Das Protokoll der Angebotsöffnung wurde in ungeschwärzter Fassung allen Bietern zur Verfügung gestellt. Nach erneuter Rüge einer verdeckten Produktvorgabe und der unzulässigen Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen, der wiederum nicht abgeholfen wurde, stellte das Unternehmen einen Nachprüfungsantrag.

Die Antragstellerin legte in tabellarischen Aufstellungen von 16 Displays und im Rahmen der mündlichen Verhandlung des Beschwerdeverfahrens anhand einer Auswertung von dann 41 Displays dar, dass die technischen Vorgaben in Gänze nur von den Produkten eines Herstellers erfüllt werden könnten. Eine verdeckte Produktvorgabe lasse sich auch nicht ausnahmsweise nach § 31 Abs. 6 VgV rechtfertigen, da dies ausdrücklich zu geschehen habe. Durch die selektive Gewährung des Herstellers von günstigen Projektpreisen werde die Antragstellerin diskriminiert. Die Bekanntgabe des Submissionsergebnisses ermögliche zudem Konkurrenten Rückschlüsse auf ihre Kalkulation.

Der Auftraggeber sieht die Beweislast dafür, dass nur Produkte eines Herstellers die technischen Vorgaben erfüllten, bei der Antragstellerin. Das habe die Antragstellerin durch eine subjektiv ausgewählte Anzahl von Produkten schlicht nicht glaubhaft nachgewiesen. Es fehle eine europaweite, objektive Marktanalyse. Eine etwaige Produktvorgabe sei auch gerechtfertigt, da sich diese sachlich aus einem für die Schule erarbeiteten Medienausstattungskonzepts sowie den Empfehlungen des Landes zur IT-Ausstattung ergebe. Eine detaillierte Begründung der technischen Vorgaben im Rahmen der Leistungsbestimmung sei nicht erforderlich und praxisfern. Die Gewährung eines Projektpreises liege allein im Verantwortungsbereich des Herstellers, für Konditionen und Vermarktung trage der Auftraggeber keine Verantwortung.

Von der weiteren Auswertung der Angebote und dem Versand eines Informationsschreibens nach § 134 GWB sah der Auftraggeber ab.

Die Entscheidung

Vor der Vergabekammer hatte der Nachprüfungsantrag keinen Erfolg (VK Ansbach, 10.09.2019, RMF-SG21-3194-4-36). In den Augen der Vergabekammer hielt der Auftraggeber die Grenzen der Bestimmungsfreiheit ein. Die Schule habe sich im Vorfeld mit verschiedenen technischen Lösungen befasst und schriftlich die für sie unverzichtbaren Anforderungen festgehalten.

Auch das OLG München lehnte den Antrag auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der sofortigen Beschwerde nach § 173 Abs. 2 Satz 1 GWB ab (OLG München, 30.10.2019, Verg 22/19). Dies erfolgte allerdings nicht im Hinblick auf die Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde, sondern mit der Begründung, dass ein Rechtsschutzbedürfnis nicht bestehe. Mangels Zuschlagsentscheidung und angesichts des bislang noch nicht versandten Informationsschreibens drohe kein Zuschlag.

Erst mit Beschluss vom 26.03.2020 gab das OLG München dem Antragsteller Recht und dem Auftraggeber auf, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Verfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz einer produktneutralen Ausschreibung vorliegt. Durch die von der Antragstellerin vorgenommene Auswertung marktverfügbarer Produkte habe dieser hinreichend substantiiert dargelegt, dass nur Produkte eines bestimmten Herstellers die Vorgaben der Leistungsbeschreibung entsprechen. Der Auftraggeber könne sich nicht darauf zurückziehen, dass damit nicht feststehe, dass es auf dem gesamten Markt keine Produktalternativen gebe. Nach dem in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis, dass es dem Auftraggeber möglich und zumutbar sei, konkrete Alternativen zu benennen und deren Konformität mit den technischen Vorgaben nachvollziehbar darzutun, wurden zwar zwei Geräte nebst Datenblättern benannt. Die Lautsprecher eines Geräts wiesen allerdings nicht die geforderte Leistung auf, denn die Vorgabe Integriertes Sound-System: mindestens 2x 15 W, nach vorne abstrahlend lasse sich nicht wie der Auftraggeber meint als bloße Orientierungshilfe verstehen. Für das andere Gerät sei nicht dargetan, dass es überhaupt zum maßgeblichen Zeitpunkt der Auftragsbekanntmachung bereits auf dem Markt verfügbar gewesen sei.

Eine ausnahmsweise gerechtfertigte produktspezifische Ausschreibung lehnte das Gericht ebenfalls ab und setzte sich hierzu mit den inhaltlichen Anforderungen für die Beschaffung aus den Schreiben der Schulleitung an die Vergabestelle, den in Bezug genommenen ministerialen Empfehlungen  zur IT-Ausstattung sowie den mündlichen Ausführungen des beratenden Architekten auseinander. Obwohl es für einzelne Aspekte nachvollziehbare objektive und auftragsbezogene Gründe geben mag, könne die Notwendigkeit der Erfüllung aller Anforderungen nicht festgestellt werden.

Die Weitergabe der Submissionsergebnisse verletze das Recht des Bieters auf Vertraulichkeit seines Angebots. Nach § 55 Abs. 2 VgV seien Bieter aus Gründen des Geheimwettbewerbs und der Vertraulichkeit von der Angebotsöffnung ausgeschlossen und eine Weitergabe der Ergebnisse an Anbieter grundsätzlich unzulässig.

Rechtliche Würdigung

In diesem Fall mag eine klassische verdeckte produktspezifische Ausschreibung durch die Ausgestaltung der Leistungsbeschreibung anhand von Datenblättern und den Umstand, dass die Schule bereits ein solches Gerät einsetzt und sich mit diesem im Schulbetrieb vertraut machen konnte, naheliegen. Entscheidend ist allerdings die Sachverhaltsfrage, ob die Gesamtheit der Vorgaben der Leistungsbeschreibung zu einer Verengung auf ein bestimmtes Produkt bzw. Produkte eines Herstellers führen. Im Fall der Unerweislichkeit dieser Tatsache mag dies zu Lasten des Antragstellers gehen, der sich hierauf beruft. Die Entscheidung des OLG München macht indes deutlich, dass die hier vom Auftraggeber offenbar vertretene Auffassung, dass ihn keinerlei Mitwirkungspflichten treffen und der Antragsteller mindestens ein Gutachten zu sämtlichen im EU-Binnenmarkt verfügbaren Displays vorzulegen habe, nicht haltbar und für den Auftraggeber prozessual gefährlich ist. Vor dem Hintergrund des Beschleunigungs- und eingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes im Nachprüfungsverfahren ist dem Gericht zuzustimmen. Einer substantiierten Darlegung des Antragstellers hat der Antragsgegner entgegenzutreten und an einer Sachverhaltsermittlung mitzuwirken im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren.

Ausdrücklich offengelassen hat das Gericht die Frage, ob sich eine verdeckte Produktvorgabe überhaupt noch nach § 31 Abs. 6 VgV rechtfertigen lässt. An die Rechtfertigung einer produktspezifischen Ausschreibung und deren (nachträgliche) Begründung seien jedenfalls aufgrund des Ausnahmecharakters zutreffend strenge Anforderungen zu stellen. Offenlassen konnte das Gericht letztlich auch, ob sich die Markterkundungen der Schule noch im zulässigen Rahmen bewegt haben.

Nachdem zur Überzeugung des Gerichts feststand, dass es sich um eine produktspezifische Vorgabe handelt, die durch den Auftragsgegenstand sachlich nicht gerechtfertigt ist, ließ es für eine subjektive Rechtsverletzung des an fünfter Stelle liegenden Bieters ausreichen, dass der Hersteller Bietern möglicherweise unterschiedliche Einkaufskonditionen einräume. Leider hat das Gericht sich nicht mit den weiteren vergaberechtlichen Aspekten der in der Praxis anzutreffenden Einräumung von Projektpreisen bzw. die Gewährung von Projektschutz zu Gunsten einzelner Bieter beschäftigt. Nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB stellt es einen fakultativen Ausschlussgrund dar, wenn der öffentliche Auftraggeber über hinreichende Anhaltspunkte dafür verfügt, dass das Unternehmen mit anderen Unternehmen Vereinbarungen getroffen oder Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt hat, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, wenn der Auftraggeber hier meint, dass er mit dieser Thematik nichts zu tun habe.

Der Grundsatz des Geheimwettbewerbs und der Vertraulichkeit kommt indes nicht nur in § 55 Abs. 2 VgV zum Ausdruck, wonach Bieter von der Angebotsöffnung ausgeschlossen sind. § 5 Abs. 1 VgV verbietet Auftraggebern ausdrücklich die Weitergabe als vertraulich gekennzeichneter Informationen, insbesondere Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und vertrauliche Aspekte der Angebote. Hierzu zählt sicherlich auch das finanzielle Angebot. Zuzustimmen ist dem OLG München darin, dass die Vertraulichkeit nicht nur im Hinblick auf das jeweilige Verfahren zu wahren ist, sondern auch zukünftige Verfahren und die Wettbewerbssituation mit den Konkurrenten in den Blick zu nehmen ist.

Die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der sofortigen Beschwerde überzeugt, wenn wie hier ein effektiver Rechtsschutz für den Antragsteller sichergestellt ist. Entscheidet sich der Auftraggeber das Vergabeverfahren weiter zu betreiben, erlangt der Antragsteller über das Informationsschreiben nach § 134 GWB hiervon Kenntnis und kann entweder über einen weiteren Nachprüfungsantrag oder prozessual vorzugswürdig über einer neuen Antrag auf aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde ein Zuschlagsverbot erreichen.

Praxistipp

Die Entscheidung stellt klar, dass die Anforderungen an die Darlegung von Vergabefehlern durch einen Bieter nicht überspannt werden dürfen. Der Antragsteller ist zwar nicht davon entbunden den maßgeblichen Sachverhalt substantiiert darzulegen. Gelingt ihm dies, trifft den Antragsgegner eine sekundäre Darlegungslast. Das Bekleiden eines abgeschlagenen Ranges in der Angebotsauswertung sollte einen Bieter, der eine verdeckte Produktvorgabe darlegen kann, ebenfalls nicht entmutigen.

Für Auftraggeber bedeutet dies, dass sie sich nicht zurücklehnen und auf die materielle Beweislastverteilung im Fall der Unerweislichkeit vertrauen können, wenn ihnen nicht bloß ins Blaue hinein Vorwürfe gemacht werden. Auftraggeber sollten zudem nicht darauf vertrauen, dass auch eine verdeckte Produktvorgabe durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein kann. Für Vergabestellen empfiehlt sich vielmehr die fachtechnischen auf den ersten Blick ohne Nennung einer Produktbezeichnung auskommenden  Vorgaben der Leistungsbeschreibung daraufhin zu hinterfragen, ob diese auf den zweiten Blick doch nicht produktneutral sind, und sich bestätigen zu lassen, dass mehrere Produkte die Anforderungen erfüllen können. Wenn wie hier durch den Bedarfsträger eine Markterkundung durchgeführt wurde, sollte das Ergebnis der marktverfügbaren geeigneten Produkte dokumentiert werden. Führt die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts dazu, dass nur ein bestimmtes Produkt in Frage kommt, bedeutet dies keinesfalls, dass dies unzulässig sein muss, sondern lediglich, dass eine gesteigerte Rechtfertigungstiefe abverlangt wird. Eine Dokumentation der Begründung und eine Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch  Projektschutz-Vereinbarungen zwischen Hersteller und einzelnen Bieter sollte dann nicht praxisfern sein.

Avatar-Foto

Über Jan Helge Mey, LL.M. (McGill)

Jan Helge Mey ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln. Jan Helge Mey ist spezialisiert auf das Vergabe- und Zuwendungsrecht, Luft- und Weltraumrecht sowie Außenwirtschaftsrecht, ist Autor zahlreicher Fachbeiträge und führt Schulungen für Behörden und Unternehmen durch.

Teilen
1 Star2 Stars3 Stars4 Stars5 Stars (9 votes, average: 5,00 out of 5)
Loading...
dvnwlogo Artikel im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren .
Druckansicht Druckansicht

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert