Der EuGH klärt, unter welchen Voraussetzungen öffentliche Stellen ohne Vergabeverfahren zusammenarbeiten dürfen und stärkt damit zugleich Kooperationen innerhalb der öffentlichen Hand. Gleich zwei Urteile hat der EuGH im Abstand von nur einer Woche zum Ausnahmetatbestand der horizontalen öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit (auf kommunaler Ebene auch bezeichnet als „interkommunale Kooperation“) erlassen. Er konkretisiert in diesen Entscheidungen die Tatbestandsmerkmale des Art. 12 Abs. 4 der Vergaberichtlinie 2014/24/EU, der im deutschen Vergaberecht nahezu wortgleich in § 108 Abs. 6 GWB umgesetzt ist. Die Vorschrift nimmt horizontale Kooperationen zwischen öffentlichen Auftraggebern unter mehreren Voraussetzungen vom Anwendungsbereich des Vergaberechts aus. Während im Urteil vom 04.06.2020 (C-429/19, s. auch Vergabeblog.de vom 25/06/2020, Nr. 44376) das Merkmal der „Zusammenarbeit“ im Mittelpunkt steht, widmet sich der EuGH in der hier besprochenen Entscheidung der Frage, bei welchen Tätigkeiten zusammengearbeitet werden darf und identifiziert ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.
§ 108 Abs. 6 GWB; Art. 12 Abs. 4, Art. 18 Abs. 1 und Erwägungsgrunde 31 und 33 RL 2014/24/EU
Leitsatz
Eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern kann vom Anwendungsbereich der Vergaberichtlinie ausgenommen sein, wenn sich diese Zusammenarbeit auf Tätigkeiten bezieht, die den von jedem an der Zusammenarbeit Beteiligten und sei es allein zu erbringenden öffentlichen Dienstleistungen akzessorisch sind, sofern diese Tätigkeiten der wirksamen Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen dienen.
Eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern darf nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht dazu führen, dass ein privates Unternehmen besser gestellt wird als seine Wettbewerber.
Sachverhalt
Das Land Berlin überließ der Stadt Köln eine Software für Einsatzleitstellen der Feuerwehr unentgeltlich zur Nutzung. Eine Einsatzleitsoftware dient dazu, die Feuerwehreinsätze automatisiert und damit schnell, effizient und wenig fehleranfällig zu steuern und ist insbesondere für die Einsatzplanung der Berufsfeuerwehren von Großstädten unverzichtbar.
Gleichzeitig vereinbarten das Land Berlin und die Stadt Köln über die reine Nutzungsüberlassung hinaus, auch in Zukunft in Bezug auf das Einsatzleitsystem weiter zusammenzuarbeiten. In einer Kooperationsvereinbarung verpflichteten sie sich dazu, etwaige, individuell beschaffte Weiterentwicklungen der Software dem jeweils anderen Kooperationspartner kostenfrei anzubieten.
Ein Konkurrent des Herstellers der Einsatzleitsoftware ging gegen die Softwareüberlassung und Kooperation mit dem Argument vor, die Stadt Köln hätte die Beschaffung der Einsatzleitsoftware ausschreiben müssen. Es handele sich um eine unzulässige de-facto-Vergabe, durch die auch Aufträge über Folgeleistungen – wie Anpassung, Implementierung und künftige Weiterentwicklungen der Software – dem Wettbewerb entzogen würden, weil nur der Hersteller der Software sie erbringen könne.
Nachdem die Vergabekammer in der kostenfreien Nutzungsüberlassung keinen entgeltlichen Vertrag gesehen und den Nachprüfungsantrag aus diesem Grunde abgewiesen hatte, legte setzte das Oberlandesgericht Düsseldorf das Beschwerdeverfahren aus und legte dem EuGH drei Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vor.
Die Entscheidung
Zur ersten Vorlagefrage stellt der EuGH unter Bezugnahme auf sein Urteil „Remondis“ (Urt. vom 21.12.2016 – C-51/15, s. auch Vergabeblog.de vom 22/01/2017, Nr. 28823) zunächst fest, dass es ein wesentliches Merkmal eines öffentlichen Auftrags ist, dass der betreffende Vertrag synallagmatisch ist. Im Weiteren geht der EuGH trotz der kostenfreien Nutzungsüberlassung der Software von einem entgeltlichen Vertrag und damit von einem grundsätzlich ausschreibungspflichtigen öffentlichen Auftrag aus. Er betrachtet das Vertragswerk, bestehend aus Softwareüberlassungsvereinbarung und Kooperationsvereinbarung, als Paket und nimmt vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende OLG Düsseldorf an, dass es synallagmatische Leistungspflichten beinhaltet. Entscheidend ist für den EuGH der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der es während der Kooperation zu Weitereinwicklungen der Software bei dem einen oder anderen Kooperationspartner kommt. Diese Wahrscheinlichkeit sieht der EuGH als hoch an, da er die Gebietskörperschaften aufgrund der ihnen gesetzlich obliegenden Aufgabe des Brandschutzes zur möglichst optimalen Nutzung und ständigen Weiterentwicklung verpflichtet sieht. Ist die Frage aber nur, „Wann“ und nicht „Ob“ es zu Weiterentwicklungen der Software kommt, dann sei die Pflicht, die Weiterentwicklungen dem jeweils anderen Kooperationspartner anzubieten, als Gegenleistung von wirtschaftlichem Wert anzusehen.
Anlässlich der zweiten Vorlagefrage äußert sich der EuGH dazu, welche Tätigkeiten im Rahmen einer horizontalen öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit ausnahmsweise vom Vergaberecht ausgenommen sein können. Dabei bejaht er die Zusammenarbeitsfähigkeit von Tätigkeiten wie der Nutzung und Weiterentwicklung einer Einsatzleitsoftware in zwei Schritten:
Zum einen sei nicht erforderlich, dass die Kooperationspartner ein und dieselbe öffentliche Dienstleistung gemeinsam erbringen. Es hindert die Kooperation daher nicht, dass das Land Berlin und die Stadt Köln die eigentliche öffentliche Aufgabe „Brandschutz, Katastrophenschutz und Rettungsdienst“ getrennt voneinander in ihrer jeweiligen räumlichen Zuständigkeit wahrnehmen. Es komme vielmehr nur darauf an, dass die öffentlichen Auftraggeber gemeinsame Ziele verfolgen.
Zum anderen bestätigt der EuGH, dass auch sogenannte „akzessorische“ Tätigkeiten Gegenstand einer öffentlichen Kooperation zwischen öffentlichen Auftraggebern sein können. Akzessorische Tätigkeiten sind vorbereitende und unterstützende Tätigkeiten, die – wie hier die Nutzung und Weiterentwicklung einer Einsatzleitsoftware – zwar mittelbar der Ausführung einer öffentlichen Aufgabe dienen, aber selbst keine öffentliche Dienstleistung gegenüber den Bürgern darstellen. Dem Wortlaut des Artikels 12 Abs. 4 in Verbindung mit dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24/EU entnimmt der EuGH, dass bei allen Arten von Tätigkeiten ausschreibungsfrei zusammengearbeitet werden darf, sofern die jeweilige Tätigkeit zur wirksamen Erfüllung der öffentlichen Aufgabe beiträgt und ihr dienlich ist.
Um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, gilt bei öffentlich-öffentlichen Kooperationen als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ein sogenanntes „Besserstellungsverbot“. Dieses hatte der EuGH bereits in seiner Rechtsprechung vor Erlass der RL 2014/24/EU statuiert (Urt. vom 19.12.2012 – C-159/11 „Lecce“, Urt. vom 13.06.2013 – C-386/11 „Piepenbrock“, s. auch Vergabeblog.de vom 16/06/2013, Nr. 16054). Es besagt, dass eine öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit nur dann ausschreibungsfrei zulässig ist, wenn durch die Kooperation kein privates Unternehmen besser gestellt wird als seine Wettbewerber. Da der EU-Gesetzgeber das Besserstellungsverbot jedoch nicht in den Wortlaut des Art. 12 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU übernahm, war bisher unklar, ob das Verbot auch nach aktueller Rechtslage noch gilt.
Der EuGH bedauert die Auslassung im Wortlaut des Art. 12 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU, sieht das Besserstellungsverbot aber im übergeordneten Gleichheitsgrundsatz verankert und hat seine Geltung auch im Rahmen der öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit nun anlässlich der dritten Vorlagefrage erneut bestätigt.
Die Frage, ob das Besserstellungsverbot im Ausgangsrechtsstreit verletzt ist, wird allerdings erst das vorlegende Gericht entscheiden. Das OLG Düsseldorf wird untersuchen müssen, ob ausreichender Wettbewerb insbesondere dadurch hergestellt werden kann, dass der Auftraggeber den Bietern im Vergabeverfahren für die Folgeleistungen den Quellcode der Software zur Verfügung stellt. Denn dann würde durch die vorhergehende Softwareüberlassung der Wettbewerb um die Folgeleistungen nicht eingeschränkt. Auch andere Unternehmen als der Hersteller hätten die Möglichkeit, im Vergabeverfahren über die Folgeleistungen beauftragt zu werden.
Rechtliche Würdigung
Das Urteil ist zu begrüßen, beseitigt es doch einige Rechtsunsicherheiten über die Voraussetzungen einer horizontalen öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit ohne Ausschreibung.
Diese Rechtsunsicherheiten resultierten maßgeblich aus der Entwicklung der Richtlinien-Vorschrift. Bis 2014 war der Ausnahmetatbestand der öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit nicht normiert. Der EuGH hatte in seiner Grundsatzentscheidung „Stadtreinigung Hamburg“ (Urt. vom 09.06.2009, C-480/06) erstmalig festgestellt, dass eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen nicht ausgeschrieben werden muss, wenn sie ausschließlich durch das öffentliche Interesse bestimmt ist und durch sie kein privates Unternehmen besser gestellt wird als seine Wettbewerber. Mit der Vergaberechtsreform 2014 kodifizierte der europäische Gesetzgeber zwar in Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU erstmals die Voraussetzungen der horizontalen öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit, setzte aber nicht alle vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätze unmissverständlich um.
Mit erfreulicher Deutlichkeit eröffnet das Urteil zum einen Spielräume für den Gegenstand der ausschreibungsfreien Zusammenarbeit:
Art 12 Abs. 4 RL 2014/24/EU (und § 108 Abs. 6 GWB) verlangt lediglich gemeinsame Ziele der öffentlichen Auftraggeber, nicht aber die gemeinsame Erbringung ein und derselben öffentlichen Dienstleistung. Die von den Kooperationspartnern erbrachten Dienstleistungen müssen nicht identisch sein, sie können sich auch ergänzen. Damit dürfen öffentliche Auftraggeber auch jeweils unterschiedliche öffentliche Aufgaben durch eine Kooperation fördern, solange sie dabei gemeinsame Ziele verfolgen.
Desweitern ist eine ausschreibungsfreie Zusammenarbeit nicht nur im Kernbereich öffentlicher Aufgaben zulässig, sondern auch „am Rande“ derselben. Alle Arten von Tätigkeiten können tauglicher Gegenstand einer ausschreibungsfreien horizontalen Zusammenarbeit sein, sofern sie bei der wirksamen Erfüllung der öffentlichen Aufgabe helfen. Damit dürfte der an der Piepenbrock-Entscheidung (Urt. vom 13.06.2013 – C-386/11) entzündete Streit, ob auch sogenannte „Hilfsgeschäfte“ zusammenarbeitsfähig sind, grundsätzlich geklärt sein – zugunsten des Handlungsspielraums der öffentlichen Hand im Bereich von Kooperationen.
Mit ebenfalls erfreulicher Deutlichkeit zieht das Urteil gleichzeitig auch die Grenze ausschreibungsfreier Kooperationen:
Durch die Zusammenarbeit der öffentlichen Auftraggeber darf kein privates Unternehmen benachteiligt werden. Das Besserstellungsverbot ist damit künftig als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in Artikel 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU (und in § 108 Abs. 6 GWB!) hineinzulesen. Abzuwarten bleibt allerdings, welcher Bedeutung daneben dem Tatbestandsmerkmal des Art. 12 Abs. 4 lit. c) RL 2014/24/EU (§ 108 Abs. 6 Nr. 3 GWB) noch zukommen wird, nach dem „die öffentlichen Auftraggeber auf dem Markt [nur] weniger als 20% der Tätigkeiten erbringen“ dürfen, die durch ihre Zusammenarbeit erfasst sind. Der Gesetzgeber sah hierdurch gerade das Besserstellungsverbot umgesetzt (vgl. Gesetzesbegründung zum Vergaberechtsmodernisierungsgesetz, BT-Drs. 18/6281, S. 82). Der EuGH geht dagegen bei seiner Herleitung des Besserstellungsverbots aus dem Gleichbehandlungsgebot davon aus, dass das Besserstellungsverbot im Text des Art. 12 Abs. 4 RL 2014/24/EU fehlt.
Praxistipp
Der Europäische Gerichtshof hat den öffentlichen Auftraggebern mit diesem Urteil und dem darauffolgenden Urteil vom 04.06.2020 (C-429/19) neue Auslegungshinweise für Spielräume und Grenzen horizontaler Zusammenarbeit an die Hand gegeben, ihnen aber zugleich auch ein – wenn auch notwendigerweise abstraktes – Prüfprogramm auferlegt. Nun ist es an den öffentlichen Auftraggebern, diese Vorgaben bei der Gestaltung zukünftiger Kooperationsvereinbarungen oder der ggf. notwendigen Anpassung ihrer bestehenden Zusammenarbeit zu berücksichtigen.
Hinweis
Die Autorin vertritt die Stadt Köln im Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf und trat vor dem EuGH auf.
Kirstin van de Sande ist Rechtsanwältin und Partnerin der Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek in Düsseldorf. Sie berät die öffentliche Hand bei der Durchführung von Vergabeverfahren ober- und unterhalb der Schwellenwerte in allen Leistungsbereichen. Juristisches Projektmanagement bei komplexen Vergabeverfahren einschließlich der gesamten vergabe-, haushalts-, behilfe-, kommunalwirtschafts- und vertragsrechtlichen Begleitung gehört dabei genauso zu ihren Schwerpunkten wie die Beratung und Vertretung von Zuwendungsempfängern bei der Abwehr von Fördermittelrückforderungen. Frau van de Sande hält regemäßig Vorträge im Vergabe- und Förderrecht im Rahmen von Schulungen und Tagungen.
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